Table Of ContentHEINRICH-HEINE-INSTITUT DUSSELDORF
ARCHIV ' BIBLIOTHEK . MUSEUM
HERAUSGEGEBEN VON JOSEPH A. KRUSE
BAND I
GeorgHerwegh
Lithographievon GutschundRupp.
In:»Europa. Chronik dergebildeten Welt.«
Hrsg.:AugustLewald,Leipzigu.Stuttgart,
1841
·.
»FREIHEIT UBERALL,
UM JEDEN PREIS!«
Georg Herwegh 1817-1875
Bilder und Texte
zu Leben und Werk
Bearbeitet von Heidemarie Vahl
und lngo Fellrath
J B. Metzlersche
Verlagsbuchhandlung
Stuttgart
HEINRICH-HEINE-INSTITUT DUSSELDORF
ARCHIV • BIBLIOTHEK • MUSEUM
HERAUSGEGEBEN VON JOSEPH A. KRUSE
BAND I
Lebensbericht und Zeittofel: Ingo Fellrath
Konzeption, Bild-und Textau.rwahl: Heidemarie Vahl
Die Deutsche Bibliothek-CIP-Einheitsaufnahme
»Freiheit iihera/1, um jeden Preis!«:
Georg Herwegh 1817-1875; Bilder und Texte zu Leben und Werk I
bearbeitet von Heidemarie Vahl und Ingo Fellrath. I
Stuttgart :Metzler, 1992
(Archiv, Bibliothek, Museum I-Heinrich-Heine-Institut Dusseldorf; Bd. 1)
ISBN 978-3-476-00876-3
NE: Herwegh Georg; Vahl Heidemarie [bearb.]; Heinrich Heine Institut
(Dusseldorf): Archiv, Bibliothek, Museum
ISBN 978-3-476-00876-3
ISBN 978-3-476-03446-5 (eBook)
DOI 10.1007/978-3-476-03446-5
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© 1992 Springer-Verlag GmbH Deutschland
Ursprunglich erschienen bei J.B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung und Carl
Ernst Poeschel Verlag GmbH in Stuttgart 1992
Vorwort
Die Literaturgeschichte ist so bunt wie das Leben, und urn die
grolsen Gestirnekreisen die kleineren Sterne.HeinesWerklebt bis
heute stets auch durch die Auseinandersetzungmit den zeitgenos
sischen literarischen Ereignissen und Gestalten, die ihrerseits
HingstnichteineandauerndeWirkunggezeitigthaben.Dasistzwar
oft verstandlich, in vielen Fallenjedochauch bedauerlich. Manche
Namen und Texte verdienten wirklich eine groBere Treue des Pu
blikums und mehr Respekt vor den Bedingungen ihres Lebens
beziehungsweise ihrer Entstehung. Dazu gehort auch Georg Her
wegh mit seinem iiberschaubaren Werk, das so ausdriicklich dem
tagespolitischen Geschehen und den demokratischen Prinzipien
verpflichtetwar.Herwegh,fast eineGenerationjiingeralsHeinrich
Heine und von diesem ironisch, iibrigens nicht nur als »eiserne
Lerche«, sondern auch als poetischer Maulheld und praktischer
Angsthase, aufs Korn genommen, aber auch wieder geschont, der
als Verfasserder »Cedichte eines Lebendigen« staatlichen Repres
sionen ausgesetzt war, hat zwischen Dichtung und Leben nicht
unterscheiden wollen, mufste darum in derTat ausgesprochen viel
Mut beweisen und ist dennoch als Mensch gescheitert oder zum
OpferseinerGradlinigkeitgeworden.Esware jedenfallsungerecht,
diesen mehr oder weniger vergessenen Matador der politischen
Literatur des 19. Jahrhunderts nur mit den Augen Heines oder
etwa Freiligraths zu betrachten. Auch wenn man seine Gedichte
heute nicht unbedingt mehrwird bei allen moglichen Gelegenhei
ten vortragen wollen, sind sie doch eines derwichtigsten Abbilder
ihrerZeit, ohnedas beispielsweise die »Zeitgedichte«Heines nicht
adaquat gewiirdigt und verstanden werden konnten.
Herwegh seinerseits war trotz einiger bemerklicherDistanz, die
der seines beriihmten Pariser Bekannten Heine durchaus ent
sprach,als Heine-Leservon riihrenderAnerkennung beseelt. Dem
Herausgeber der ersten Heine-Ausgabe und Heine-Biographen
AdolfStrodtmann, der im Hoffmann und Campe Verlag die Zeit
schrift »Orion. Monatsschrift fiir Literatur und Kunst« betreute,
teilte er fiir das 3. Heft des I. Bandes im Marz 1863 zu seinem
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VORWORT
»Heinrich Heine« iiberschriebenen Gedicht eine liebenswiirdige
und verehrungsvolle Anmerkung mit, in der es unter anderem
heilst: »Zugleich wollt' ich einmal das feiemde und denkmalset
zende Deutschland an das Grab aufdem Kirchhofvon Montmartre
erinnem. In den Kultus des Genius, der jetzt so gewaltig bliiht,
mischen sich eine gewisse Biedermeierei, zahlungsfahige Moral,
undselbstprovinziellerDunkel,die vorAIlemihreeigeneTiichtig
keit,Wichtigkeit undNichtigkeitan denGroBmannstagenleuchten
zu lassen beflissen sind.Diese verhalten sich natiirlich abwehrend
gegen so freie Kopfe wie Heine, der aIle Philister so griindlich
ausgelacht hat C...). Erst wenn zu den vielen Denkmalen auch das
von Heinrich Heine sich gesellt, wird der Deutsche sagen diirfen:
Ich bin kein Philister mehr!«Bereits dieses Zitat belegt, wie sehr
Heinesches Sprechen als Anspielung und Ton von Herwegh ge
pflegt und verinnerlicht worden war.Ganz deutlich wird das auch
im Gedicht aus dem Juni 1873, das »Den Reichstaglern« ins
Stammbuch geschrieben ist und »Nach bekannter Melodie« ver
fahrt (lngo Fellrath hat es am Ende des Lebensberichts zitiert).
Herwegh hat hier eine klassische Parodie auf Heines »Du hast
Diamanten und Perlen« aus dem »Buch der Lieder«geliefert, die
zeigt, daB er wie kaum ein anderer Heines Botschaft, daBin scho
nen Versen allzu viel gelogen worden sei,in eine politische Sottise
urnzumiinzen wufste, Poesie bedeutete eben fur ihn ehrlicher und
unerschrockenerKampf. Er hat seinen Part in dieserAuseinander
setzung zwischen sozialpolitischen und reaktionaren Ideen immer
aufderSeite derMenschenrechte beigetragen.SeineBegeisterung
wenigstens und seine Uberzeugung sind den Gedichten noch zu
entnehmen.
Heine iibrigens hat langst, wenn auch nach manchmal weltwei
ten Debatten, aufmehrfache Weise das von Herwegh eingeklagte
Andenken und mancherlei Denkrnaler erhalten. Aber auch Her
wegh hat einenOrtderErinnerunginLiestalin derSchweiz gefun
den.DieErinnerungan ihn bedarfjedocheinergroBerenFiirsorge
und eines nachhaltigeren Hinweises. Der vorliegende Band will
dazu seinen Beitragliefern, damit die Heine-Zeitdeutlichere Kon
turen erhalt und ihre -Helden- im Cedachtnis des Publikums auf
eigenstiindigeWeise fortIeben.
Joseph A.Kruse
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Georg Herwegh - Ein Lebensbericht
I.
Ein 1790 geborener Hesse namens Ernst Ludwig Herwegh, Sohn
des hessischen Kammerlakaien Peter Joseph Herwegh, absolviert
in der Kiiche des groBherzoglichen Schlosses in Darmstadt seine
Lehreals Koch.VermutlichwahrendderBefreiungskriegewandert
er in das KonigreichWiirttembergaus und findet Beschaftigungin
der Residenzstadt Stuttgart. Dort heiratet er am 14. November
1814 RosineKatharineMarklin,geboren 1782 in Balingen,Tochter
eines Chirurgen.
Dies die diirren Fakten.Man wiifste gem mehr iiber ErnstLud
wig und seine Criinde, aus denen er seiner Heimat den Riicken
kehrte. Wie mager die achtJahre altere Rosine Katharine kennen
gelernt haben, die, aus gutbiirgerlichen Verhalmissen stammend
und vermutlichgebildeterals ErnstLudwig,zweiunddreilsigjahrig
die Ehe mit einem »Auslander« obskurerHerkunft einging? Mehr
als MutmaBungen sind kaum statthaft,so wenigist iiberdas Vorle
ben der Eltern Georg Herweghs bekannt.
DieEhedarfals Mesalliancebezeichnetwerden,dennsie bedeu
tete zum einen fur die Tochtereines Arztes sicherlich einen sozia
len Abstieg. Zwar konnte Ernst Ludwig, als er 1828 das wiirttern
bergische Biirgerrecht erwarb, 2585 Gulden Vermogen nachwei
sen, abererbrachte es zu keinem dauerhaften Wohlstand.Er legte
sich den klingenden Titel »Hoftraiteur« zu und pachtete nachein
anderverschiedene Speiselokale.
Zum anderen gestaltete sich die Verbindung unerfreulich. Fi
nanzielle Schwierigkeiten, Streitereien und Tatlichkeiren vergifte
ten die hausliche Atmosphare. Leid und Kummer setzten der als
treu, fleiBig und aufopfernd beschriebenen Frau zu: zwei Kinder
starben friih.Ihr Sohn Georg, mit vollem Namen Friedrich Rudolf
Georg Theodor, geboren am 31. Mai 1817, war ein Sorgenkind,
nach ihrereigenen spaterenAussagevon Kindheit an bleich,leicht
erregbarundvon auBerstzarterGesundheit.Erlasleidenschaftlich
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GEORG HERWEGH - EIN LEBENSBERICHT
gern und war von Beschaftigungsdrang erfiillt, konnte aber auch
stundenlang in einer Ecke sitzen,ohne ein Wort zu reden. Minde
stens der Mutter gebiihrt das Verdienst, erkannt zu haben, daB in
ihrem Sohn etwas steckte, das Forderung verdiente. Vielleicht
wurde er sogar der SchwesterFriederike, geboren 1822, vorgezo
gen.Dem Vaterblieberfremd,ererschienihm aus derArtgeschla
gen.Die Muttersetzte durch, daB derJunge das Stuttgarter Gym
nasium besuchte. Sie entschied friih, daB er Pfarrerwerden sollte,
denn diese Ausbildung war mit einem kostenlosen Studium ver
bunden. In Wiirttemberg gab es fur Kinder unbemittelter Eltern
keinen anderen WegzurUniversitat,Dazu galtes,zunachsteinmal
das sogenannteLandexamenzu bestehen,einAusleseverfahrenfur
begabte SchuleraufLandesebene.Man schickte Georg 1829 nach
Balingen auf die dortige Lateinschule. Dies geschah vermutlich
auch aufarztlichen Rat hin, urn dem zeitweise ungesunden Stutt
garter Klima zu entgehen. Farnilienanschluls fand er bei einem
VetterseinerMutter,derApothekerin Balingen war.
Seine schulischen Leistungen in der neuen Umgebung entspra
chen den in ihn gesetzten Erwartungen. In den Meldungen zum
Landexamen, das er zweimal erfolgreich absolvierte, hiels es von
ihm,ersei »vongutenAnlagen,vielem Fleilsund grolserPiinktlich
keit, gutenKenntnissenin allenSchulfachern,sittlichemCharakter,
ein Schuler, der die vollste Zufriedenheit seinerLehrerverdient.«
DievielversprechendeSchulkarriere erlittjaheineUnterbrechung,
als im Dezember 1830 starkes Fieber eintrat.Am 2.Januarwurde
der Junge von heftigen Krampfen befallen. Der Hausarzt diagno
stizierte einen Veitstanz", den ein angehender Mediziner, ein An
hangerMesmers,durchAnwendungdes tierischenMagnetismuszu
heilen suchte.DerFall faszinierte den Medizinstudenten Friedrich
Achill Schmidt aus Ulzen derartig, daB er beschlofs,dariiberseine
Dissertation zu schreiben. Neben klinischen Beobachtungen ent
halt sie auch einige Hinweise aufden Charakter und das sonstige
Verhalten seines Patienten. So berichtet Schmidt beispielweise,
daB derJunge vorseinem Vatereine starke Abneigung hatte.
* Folgeder Erkrankung einer bestimmten Gehirngegend, die besonders
bei Kindem (z.B. imAnschluf an Scharlach und andere Infektionskrank
heiten) auftritt,heiltmeistnachWochen vollstandigabo
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GEORG HERWEGH - EIN LEBENSBERICHT
Am21.Februarwurde derKranke nach Stuttgart ins Elternhaus
gebracht und die weitere Behandlungeinem ProfessorJageriiber
tragen. Mitte April konnte er wieder nach Balingen zuriickge
schicktwerden.AnfangMaiverIoren sichsamtlicheSymptome,und
er galt als geheilt. 1mselben Monat bestand er, trotz mehrmonati
gerAbwesenheit, das dritte Landexamen,das ihm den Weg in das
SeminarMaulbronn offnete,
II.
KlosterMaulbronn, 18 km nordostlich von Pforzheim gelegen, be
herbergte in seinen Mauern das evangelisch-theologischeSeminar.
Die ehemalige Zisterzienserabtei war seit 1557 Klosterschule, die
beriihmte Absolventen aufwies, beispielsweise den Mathematiker
und Astronomen Johannes Kepler (1571-1630), Karl Friedrich
Reinhard (1761-1837), Diplomat in franzosischen Diensten und
langjahrigerBriefpartnerGoethes,den Pfarrerund DichterRudolf
Magenau (1767-1846), Freund Holderlins, und Holderlin selbst,
der hierSeminarist von 1786-1788 gewesen war.
In einemvierjahrigen Studiengangwurden die Zoglingeaufdas
Theologiestudium vorbereitet. Der Stundenplan sah sechzehn Fa
cher vor: Latein,Griechisch, Hebraisch,Franzosisch,Deutsch,Poe
sie, Deklamation, Musik und Gesang, Schonschreiben,Arithmetik,
Religion,Geometrie,Geographie, Ceschichte,Physik und Philoso
phie. Ein wahrhaft gigantisches Lernprogramm kam also auf den
vierzehnjahrigen Georg und seine 29 Mitschiilerzu,als sie am 25.
Oktober 1831 in das Seminar eintraten. An heutigen MaBstaben
gemessen wurde den Jugendlichen schier Unmogliches an Lei
stung abverlangt,aber werdurchhielt, dem wurden solide Grund
lagen humanistischerBildung vermittelt,oft von glanzenden Leh
rern.Einervon ihnen war derRepetentFriedrichTheodorVischer,
der sparer Herweghs Gedichte unfreundlich rezensieren sollte.
Georg zeigte sich den Anforderungen gewachsen und akzeptierte
auch in den ersten beiden .Iahren die strenge Disziplin.
In den November1831 fallt eineEpisode,dieein bezeichnendes
Licht auf das gestorte Vater-Sohn-Verhaltnis wirft. Da man in
Wiirttemberg das Vordringen einer Cholera-Epidemic fiirchtete,
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