Table Of ContentLeon Wurmser
Flucht vor
dem Gewissen
Analyse von Uber-Ich und Abwehr
bei schweren N eurosen
Geleitwort von Helmut Thoma
Zweite, unvedinderte Auflage
Springer-Verlag
Berlin Heidelberg New York
London Paris Tokyo
Hong Kong Barcelona
Budapest
U~on Wurmser, M. D., P. A.
904 Crestwick Road, Towson, MD 21286, USA
ISBN-13:978-3-642-77933-6 e-ISBN-13:978-3-642-77932-9
DOl: 10.1007/978-3-642-77932-9
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme
Wurmser, Leon: Flucht vor dem Gewissen : Analyse von Ober-Ich und Abwehr bei schweren Neu
rosen / Leon Wurmser. Geleitw. von Helmut Thoma. - 2. Aufl. - Berlin; Heidelberg; New York;
London; Paris; 1bkyo ; Hong Kong; Barcelona; Budapest: Springer, 1993
ISBN-13:978-3-642-77933-6 (Berlin ...)
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© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 1987, 1993
Softcover reprint of the hardcover 2nd edition 1993
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26/3130-5 4 3 2 1 0 - Gedruckt auf siiurefreiem Papier
Geleitwort
U~on Wurmser hat sich seit einigen Jahren in Europa und besonders
im deutschsprachigen Raum durch Vortrage und Veroffentlichungen
tiber psychoanalytische Behandlungen schwerer Neurosen und Dro
genabhaniger einen Namen gemacht. Er gehort zu einer immer klei
ner werdenden Gruppe amerikanischer Psychiater und Psychoanaly
tiker, die in ihrer urspriinglichen Sprach- und Denkwelt verwurzelt
geblieben sind. Nachdem die ersten beiden Werke - The hidden di
mension und The mask ot shame - in englischer Sprache erschienen
und in Europa unbekannt geblieben sind, ist das vorliegende Buch
von dem polyglotten Autor, der in vielen Sprachen zu Hause ist, in
seiner Muttersprache geschrieben worden.
TItel und Untertitel kennzeichnen den allgemeinen Rahmen und
die Zielsetzung des Buches, das freilich weit mehr enthalt als eine
umfassende Darstellung des heutigen Standes der psychoanalyti
schen Abwehrtheorie und einer darauf basierenden Behandlungs
technik. Durch die Integration von Erkenntnissen der modemen Af
fektforschung und der Mutter-Kind-Interaktion hat die psychoanaly
tische Abwehrtheorie in den letzten Jahrzehnten wesentliche
Dimensionen hinzugewonnen. Die exemplarische Darstellung des
Schamaffekts und seiner Bedeutung in der therapeutischen Bezie
hung hat Wurmser nun in eine umfassende Abhandlung tiber ab
wehrbedingte Regressionsformen eingebracht.
Nach Herkunft und beruflichem Werdegang gehort Wurmser zu
den mutigen Briickenbauem, die weit auseinanderliegende Ufer ver
binden und zugleich Bewahrtes bewahren konnen. 1m Zeitalter von
NarziBmus und von Ideologien, die uns auch in den schweren Neu
rosen begegnen, halt Wurmser an der odipal bezogenen psychoana
lytischen Konflikttheorie fest. Konservativ im besten Sinn tiber
nimmt Wurmser tradierte Erkenntnisse nicht ungepriift. Seine
humanistische Bildung und die in der Schweiz erworbene psychia
trisch-phanomenoiogische Schulung ermoglichen es ihm, zu vielen
tibergeordneten Fragen der psychoanalytischen Theorie und Praxis
Stellung zu nehmen. Zur Kritik der NarziBmustheorien und gegen
wartiger Auffassungen tiber die Entstehung von Grenzfallen und de
ren analytische Behandlung gelangte Wurmser aufgrund jahrzehnte-
VI Geleitwort
langer Erfahrung in der Therapie schwerer Neurosen und Drogenab
hangiger. Die kasuistische Darstellung von Krankengeschichten
bildet den Schwerpunkt des Buches.
Es ist didaktisch hilfreich, daR Wunnser zunacht im Abschnitt 2.2
(S.33-43) "Richtlinien zur Abwehranalyse" gibt und im 2. Kapitel
wesentliche Abwehrfonnen abhandelt. Die Haupthypothesen
(S. 24 ff.) werden jeweils eingehend kasuistisch erIautert, vertieft und
begriindet. SchlieRlich gelangt der Autor im letzten (10.) Kapitel zu
einem zusammenfassenden Entwurf, in dem die eigenen Erfahrun
gen und deren subtile kasuistische Dokumentation zusammen mit
der einschIagigen psychoanalytischen Literatur kritisch reflektiert
werden. Immer wieder werden die AusfUhrungen durch Fragen un
terbrochen, so daR der Leser zum Nachvollzug und zur Nachprii
fung der gegebenen Antworten eingeladen wird.
In den Darstellungen der Krankengeschichten wird eine ganz un
gewohnliche Nahe zum gedanklichen und emotionellen Austausch
in der Behandlungssituation ebenso erreicht wie eine verallgemei
nernde Abstraktion, wenn es darum geht, die beschriebenen Phano
mene theoretisch einzuordnen. Wunnser kann auf eine Fiille hervor
ragend dokumentierter Behandlungen von Schwerkranken zuriick
greifen, deren Zuganglichkeit fUr die psychoanalytische Methode an
den erreichten Erfolgen und an den Einblicken in den therapeuti
schen ProzeR bewiesen wird. Doch was ware eine noch so wortge
treue Wiedergabe eines therapeutischen Dialogs ohne das schrift
stellerische Talent des Autors, der den Stoff so gestaltet hat, daR
eine breite Leserschicht Einblicke in menschliche Schicksale bekom
men kann, die nicht nur die Betroffenen selbst und die behandeln
den Arzte angeht.
Dieses Buch vereinigt in sich literarische Qualitaten mit therapeu
tischem Engagement und mit wissenschaftlicher Zielsetzung. Diese
Trias macht das Buch faszinierend und wird ihm eine breite und in
teressierte Leserschaft weit tiber das engere Fachgebiet hinaus si
chern.
Ulm, im Januar 1993 Helmut Thoma
Vorwort zur 2. Auflage
Mit Dankbarkeit und Freude sehe ich der Neuauflage dieses Buches
entgegen - des ersten aus einer Reihe von Werken, die im deut
schen Sprachbereich eine sehr gute Aufnahme gefunden haben.
Jetzt, wo auch das vierte dieser Bticher, und zwar als direkteste
Nachfolge der in diesem ersten Band zu findenden klinischen Stu
dien, vorliegt, werden ihre innere Zusammengehorigkeit, ihr tiefer
Zusammenhang und ihre gegenseitige Komplementaritat noch of
fensichtlicher. Eine der Aufgaben, die sich v. a. dieses erste Buch ge
stellt hat, besteht darin, eine Alternative bei der Behandlung schwie
riger Patienten zu den Theorien und therapeutischen Methoden,
namentlich von Klein, Kernberg und Kohut aufzuzeigen, nicht im
Geiste der Polemik und Rechthaberei, sondern dem eines klinischen
Pragmatismus und einer philosophischen Besinnung, die tiber das
Technische und Wissenschaftliche im engeren Sinne hinausgeht.
DaB es eine so freundliche Antwort und einen so weiten Widerhall
gefunden hat, verdankt es nicht zuletzt der guten Zusammenarbeit
mit dem Springer-Verlag, doch nicht weniger dem oben zitierten
"captui lectoris".
Towson, im Januar 1993 Leon Wurmser
Vorwort zur 1. Auflage
Das vorliegende Buch entstand zuniichst aus einer Reihe von Vor
triigen der letzten 5 Jahre, die vor verschiedenen Gruppen, in ver
schiedenen Liindem und Sprachen gehalten wurden. Doch war es
nicht meine Absicht, einfach eine Sammlung solcher "disiecta mem
bra" , eine Anhiiufung unverbundener Essays und Ausfiihrungen
vorzulegen, sondem die ihnen unterliegende Gesamtschau und in
nere Einheit mehr zur Geltung zu bring en. Lemen und Erfahrung
bestimmten dabei das Denken, aber das Denken bestimmte auch
umgekehrt die Erfahrung, wie es in einem schonen Wort von Konfu
zius ausgesprochen wird: "Lemen ohne Denken ist nichtig, Denken
ohne Lemen ist gefiihrlich."
Zuniichst mochte ich meinen tiefsten Dank den Freundeil aus
sprechen, die mich immer wieder eingeladen haben, den Erfahrun
gen Wort und Struktur zu verleihen - zuerst Herro Prof. Dr. Andre
Haynal in Genf, sodann Frau Dr. Martha Eicke und Herro und Frau
Berna in Ziirich, Herro Mats Fridell, Frau Ulla Bejerholm und Frau
Marianne Faxen in Schweden, wie auch Frau Dr. Zimmermann,
Herro Dr. Eickhoff, Herro Prof. Dr. Thomii und Herro Prof. Dr. Kii
chele in Deutschland. Ihre groBziigige Hilfe erlaubte es mir, dem
Form und Begriff zu geben, was ich in unziihligen Stunden mit Pati
enten gesammelt hatte, und es so den Studenten und Kollegen im
Laufe der Jahre zu vermitteln. Ganz besonders muB ich Herro Dr.
Toni Graf-Baumann yom Springer-Verlag und dessen Lektoren,
Herro Lothar Picht und Frau Andrea Gaisser herzlich fUr ihre
freundliche und hilfreiche Zusammenarbeit bei der Vorbereitung
und Drucklegung danken.
In zweiter Linie waren und sind es die Gespriiche mit einigen
Freunden in den USA - Dres. Paul Gray, Joseph Lichtenberg, Cibe
les Vidaud, Alan Zients, Anne Lewis, Donald Nathanson und Leo
Rangell - und ihre mutige Unterstiitzung meiner Arbeit auch in
schwierigen Zeiten, die die Weiterfiihrung der klinischen Arbeit und
deren gedankliche Ordnung erst moglich machte bzw. macht. Ihre
Haltung repriisentierte das, was der chinesische Weise dem "wiirdi
gen Menschen" als Hauptwerte empfohlen hatte: Loyalitiit und Ehr
lichkeit.
X Vorwort zur 1. Auflage
Zuniichst plante ich, diese klinischen Arbeiten mit den literari
schen und philosophischen Essays unter dem vereinigenden Begriff
"Konflikt und Komplementaritiit" zusammenzufassen. Doch als es
mir klar wurde, daB darin manche philosophisch zu bezweifelnden
Bedeutungen mitschwangen, entschloB ich mich, diesen Band ein
fach als ein wei teres Dokument meines wachsenden Verstiindnisses
fiir das menschliche Innenleben, wie es sich von Werk zu Werk er
weiterte und vertiefte, hinzustellen - als selbstiindige Arbeit und
doch auch als Glied in einer Reihe, die von dem Buch The hidden
dimension iiber The mask of shame zu diesem Werk und dariiber
hinaus zum demniichst erscheinenden Band Verblendung und tragi
sche Wahrheit fUhrt. Es ist die Arbeit an diesem Band, die auf den
zwei friiheren, enger konzipierten und thematisch schiirfer bestimm
ten Monographien aufbaut; umgekehrt wird der hier vorliegende
Text als Plattform dienen fUr die literarisch-philosophische Struktur
als ganze. Aile Biinde gehoren als Erfahrungs- und Denkgut zusam
men, und doch sind sie fUr das Verstiindnis keineswegs voneinander
abhiingig.
Durchgehend versuchte ich in ihnen allen, von den Klischees der
Theorien wegzukommen und mich den sich in der klinischen Situa
tion ergebenden Direktbeobachtungen weitestmoglich anzuniihem,
ohne dabei aber das Theoretische ganz zu verleugnen. Dieses hat als
Wegweiser zu gelten und soli eher diskret bleiben: man ist froh,
wenn man sich von Zeit zu Zeit am Theoretischen orientieren kann.
Doch besteht der Weg nicht aus Wegweisem!
Dabei blieb es meine Oberzeugung wiihrend der letzten 30 Jahre
unabliissiger psychotherapeutischer Arbeit, daB es ganz besonders
die Erfahrungen mit schwerkranken Patienten sind, die uns Wert
und Unwert der methodisch-technischen Voraussetzungen und der
praktischen Regeln zeigen.
Doch ist auch die Zusammenfassung der von Fall zu Fall gewon
nenen Erkenntnisse und die Obersicht iiber das weite Gebiet schwe
rer neurotischer Pathologie ebenso wichtig wie das im Rahmen des
Dargebotenen mogliche sorgfiiltige Studium der Einzelprozesse,
selbst wenn ich vor abschlieBenden und gesamthaften Formulierun
gen eher zuriickscheue. Die Erkenntnis schreitet fort durch das Ka
tegorisieren, doch kann dieses auch verfiihrerisch und gefiihrlich
werden, dies urn so mehr, da geme ein Geist der Verurteilung mit
eindringt, der dann sehr rasch die wertvollste Arbeit mit den Patien
ten unterminiert. Man muB frei genug bleiben, das Kategorische im
mer wieder zuriickzunehmen, urn dem Individuellen stets gerecht zu
werden.
Das bedeutet natiirlich, daB es mir technisch im Verlaufe der Jah
re zu einem Hauptanliegen wurde, es soweit wie moglich zu vermei
den, in eine Autoritiitsrolle zu verfallen, und es mir im Gegenteil
Vorwort zur 1. Auflage XI
darauf ankam, die Uber-Ich-Ubertragungen, wie sie sich standig in
neuen Formen von Angst und Abwehr zeigen, zu erkennen und mit
dem Patienten durchzuarbeiten. Uber-Ich-Analyse ist ein wichtiger,
weitgehend vernachliissigter Teil der analytischen Arbeit, und dies
namentlich im Bereich der Ubertragung. Diese Analyse ist hingegen
einzig dann moglich, wenn wir besonders sorgfaltig darauf bedacht
sind, weder kritisch noch fiihrend noch belehrend zu werden, was
gerade bei den schwerkranken Patienten eine standige Versuchung
und vielleicht auch nie vollig vermeidbar ist. Auch in diesem Zusam
menhang muB gesagt werden, daB es das mir von Freunden und Be
ratern geschenkte Vertrauen und ihre Unterstiitzung war, welche es
mir erst moglich machten, meinem eigenen Ideal als Therapeut und
Forscher naher zu kommen.
Zum SchluB mochte ich noch ganz besonders meiner Familie
danken. Mein Sohn David hat mehrere Kapitel in den Word Proces
sor geschrieben und mir dadurch meine Arbeit sehr erleichtert. Mit
ihm wie mit Daniel und Yoram habe ich immer wieder die anregend
sten Diskussionen gehabt, die sich in manchem Dargestellten wider
spiegeln. Meine Frau Zdenka hat die oft iiberaus schwierige finan
ziell-administrative Arbeit in meiner Privatpraxis auf sich genommen
und dabei nur zu oft ihre wertvolle Zeit dafiir geopfert, damit ich
die fiir die wissenschaftliche Arbeit notwendigen Stunden und Tage
zur Verfiigung hatte.
Was nun iibrigbleibt: "Pro captu lectoris habent sua fata libelli -
Je nach der Aufnahmefahigkeit des Lesers haben die Biicher ihre
Schicksale" (Terenz).
Towson, im August 1987 Leon Wurmser
Inhaltsverzeichnis
1 EinfUhrung:
Wanderer zwischen zwei Welten 1
1.1 Sechs Polaritaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1
1.2 Hauptsachliche Beobachtungen und Annahmen . 10
1.3 Methode der Darstellung 17
1.4 Auswahl der Fiille ..... 22
1.5 Hauptthemen . . . . . . . . 26
1.6 Der Kampf mit dem Damon 28
2 "Die Verkniipfungen zu entdecken -
das Passende gehorig zusammenzubinden"
Einige vorgangige Bemerkungen zur Technik der
Abwehr- und Ober-Ich-Analyse . . . . . . . . . . . . .. 31
2.1 Die Vorentscheidung . . . . . . 31
2.2 Richtlinien zur Abwehranalyse 33
2.3 Wesentliche Abwehrformen . . 43
2.3.1 Verleugnung und Verdrangung 43
2.3.2 Wen dung ins Gegenteil .. . . 45
2.3.3 Identifizierung . . . . . . . . . 46
2.3.4 Regression, Polarisierung und Obertreibung 47
2.3.5 Extemalisierung . . . . . . . . . . . . . . . 48
2.4 Beispiele fur Sequenz en und Rekonstruktionen der
Ich-Vorgange . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49
2.4.1 Ein Fall von Pseudostupiditat . . . . . . . . . . . . 49
2.4.2 Rekonstruktion der Abwehrsequenz in einem Fall von
neurotischer Depression und masochistischem Charakter 52
2.5 Suggestive Psychotherapie und psychoanalytische
Technik . . . . . . . 61
2.6 Theorie und Technik . . . . . . . . . . . . . . . . 64