Table Of ContentDas Schwarze Auge
HANS JOACHIM ALPERS
FLUCHT
AUS GHURENIA
DIE PIRATEN DES SÜDMEERS
TEIL 2
Neunzehnter Roman
aus der aventurischen Spielewelt
herausgegeben
von
ULRICH KIESOW
Originalausgabe
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
HEYNE SCIENCE FICTION & FANTASY
Band 06/6019
2. Auflage
Redaktion: Friedel Wahren
Copyright © 1997
by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München,
und Schmidt Spiele + Freizeit GmbH, Eching
Printed in Germany 2000
Umschlagbild: Ruud van Giffen
Umschlaggestaltung: Atelier Ingrid Schütz, München
Technische Betreuung: M. Spinola
Satz: Schaber Satz- und Datentechnik, Wels
Druck und Bindung: Presse-Druck Augsburg
ISBN 3-453-10975-9
Aventurien heißt die phantastische Spielewelt voll
kühner Abenteuer, Magie und farbiger Exotik,
erschaffen von einem Spezialistenteam und
ausgebaut von Tausenden begeisterter Spieler. Es
ist der Schauplatz des heute größten deutschen
Fantasy-Rollenspiels Das Schwarze Auge. Die
Romane der gleichnamigen Serie lassen uns diese
Welt noch viel unmittelbarer und plastischer
erleben.
Thalon verliebt sich ausgerechnet in Alina, die
Tochter der mächtigen Kauffrau Murenbreker. Als
die beiden fliehen, haben sie nicht nur die Häscher
des Despoten von Ghurenia, sondern auch den
Murenbreker-Klan auf dem Hals.
Der zweite Roman über die »Piraten des
Südmeers« schildert Thalons verzweifelten Kampf
um Liebe und ein eigenbestimmtes Leben in einer
Welt, die ihm beides nicht zubilligen will.
1. Kapitel
Da war ein Raunen wie aus weiter Ferne, ein Name, der
ausgesprochen und weiter davongetragen wurde, als es in der
Absicht desjenigen lag, dessen Lippen ihn geformt hatten. Ein
Name, den der Mann, den sie Cassim nannten, nicht einmal
richtig verstanden und kurz darauf schon wieder vergessen
hatte. Aber dieser Name, dieses Geräusch, diese vielleicht nur
zufällige Aneinanderreihung von Lauten, die sich in eine der
wenigen Pausen im Hämmern und Klopfen gedrängt hatte,
schien tief in seinem Inneren etwas berührt zu haben.
Cassim kam, was ihm nur selten geschah, aus dem Takt. Zum
Glück hatte der Aufseher es nicht bemerkt. Cassim schaute
sich um, aber er vermochte nicht zu entscheiden, wer von den
mehr als zwanzig Sklaven in nächster Nähe den Namen, das
Geräusch, den sonderbar vertrauten, sonderbar bedrohlichen
Klang über die Lippen gebracht hatte.
Der Aufseher hieß Achak und war ein Tulamide. Sein
Gesicht war dunkel, breit und mit unzähligen Narben bedeckt.
Eine mächtige gebogene Nase stach daraus hervor, und unter
schmalen Augenbrauen glänzten kohlschwarze Augen, denen
kaum etwas entging. Obwohl das Haar genauso vom
grauweißen Steinstaub bedeckt war wie der muskulöse nackte
Oberkörper, der Lendenschurz und die Riemensandalen,
schimmerte unter dem Staub fettiges Schwarz. Das Haar war
straff nach hinten gekämmt und endete als Zopf.
Scheinbar versunken saß Achak auf einem Felsbrocken und
stützte die Hände, derbe Pranken mit kurzgliedrigen Fingern,
auf die glahb mit den drei verknoteten Lederschnüren. Er sah
aus wie ein erloschenes Feuer mit ein paar Stücken Fettkohle
in der Asche, aber in Wahrheit war er ein Vulkan.
Unberechenbar und stets einen Wimpernschlag vor dem
nächsten Ausbruch.
Achak war bei seinem Herrn gut gelitten. Er verstand sich
nicht nur darauf, die ihm anvertrauten Sklaven erbarmungslos
anzutreiben. Er beherrschte auch die Kunst, sie so zu
peitschen, daß sie sich vor Schmerzen krümmten, ohne sie
jedoch für die Arbeit zu verderben. Selten schlug er so oft und
so fest, daß ihm ein Sklave vollständig verdarb. Sklaven waren
teuer. Achak wußte dies und handelte danach. Allerdings war
er nicht der Meinung, daß ein Sklave Grund haben sollte, sich
seines Lebens zu erfreuen. Er hatte seine besondere Methode
entwickelt, die Anforderungen seines Herrn mit seinen eigenen
Leidenschaften auf vorteilhafte Art zu verknüpfen.
Cassim beobachtete den Aufseher aus den Augenwinkeln,
während er mit seinem zweieinhalb Stein schweren und einen
Spann langen Dolerithammer den Steinquader zurechtschlug.
Er wußte, daß Achak nur aufspringen und zwei Schritte tun
mußte, um Cassim die Schnüre der dreischwänzigen glahb
über die Hüfte zu ziehen. Und ihm war klar, daß er es früher
oder später auch tun würde. Sobald Cassim es wagte, eine
Pause einzulegen. Oder ohne besonderen Grund. Vielleicht nur
deshalb, um Cassim daran zu erinnern, daß er ein Sklave und
Achak ein Aufseher war.
Cassim versuchte sich den Klang des Namens, der ihn
beunruhigt hatte, in Erinnerung zu rufen. Es wollte ihm nicht
gelingen. Aber sein Körper schien sich zu erinnern. Tief in
seinem Inneren ballte sich machtvoll ein Gefühl zusammen
und drohte ihn zu übermannen.
Angst!
Nackte, kreatürliche Angst, an der Cassim zu ersticken
drohte. Angst, die keinen Namen hatte. Für ihn hatte sie keinen
Namen. Und doch war die Angst durch einen Namen ausgelöst
worden, den er bewußt nicht einmal wahrgenommen hatte. Ein
Name, der etwas in ihm berührt hatte. Etwas Altes.
Angst, Angst, Angst.
Angst, die mit diesem Namen in Verbindung stehen mußte.
Angst, deren Ursache er vergessen hatte. Wie er alles
vergessen hatte. Aber die Angst hatte nichts vergessen. Cassim
fühlte eine Bedrohung. Am liebsten wäre er aufgesprungen
und davongerannt. Aber er wußte ja nicht einmal, wovor er
flüchtete.
Er kämpfte die Panik nieder, indem er wie besessen mit
seinem Hammer auf den Stein einschlug. Allmählich spürte er,
daß die Angst zurückwich.
Als Achak plötzlich aufsprang und seine glahb schwang, traf
sie nicht Cassim, sondern einen anderen. Die Lederschnüre
fraßen sich in den schmalen Rücken des alten Zobo, brachen
Borke über alten Wunden auf und ließen Blutstropfen aus den
Rändern der frischen Striemen perlen. Zobo war
zusammengezuckt und biß sich auf die Unterlippe, um keinen
Schrei auszustoßen. Aber er hörte nicht damit auf, mit seiner
Doleritscheibe, Bimsmehl und Knochenöl den grauen Marmor
zu glätten.
»Alter Bock, du bist hier nicht im alveranischen Paradies,
verstanden!« brüllte der Aufseher. »Aber ich sorge auf der
Stelle dafür, daß du dorthin gelangst, wenn du nicht sofort
einen Zahn zulegst! Was habe ich getan, daß Boron mich mit
Greisen straft, die ihre Pisse nicht mehr halten können?«
Achak legte eine Pause zum Luftholen ein. Erneut schlug er
den Alten, dem der Schmerz das Wasser in die Augen trieb
und der trotzdem wie ein Besessener seine Polierscheibe
kreisen ließ, um den Peiniger zu befriedigen. »Mit alten
Scheißern, denen schon die Würmer im Fleisch
herumkriechen? Mit alten Furzern, deren runzliges Arschloch
wie ein Frosch quakt, wenn sie ihren halbverfaulten Darm
lüften?«
Cassim verstand nur die Hälfte von Achaks Tiraden, aber
genug, um zu wissen, worum es ging und was für gewöhnlich
folgte. Er duckte sich, aber das konnte ihn auch nicht retten. Im
nächsten Moment stachen ihm die Lederschnüre in die Hüfte.
Er krümmte sich.
»Oder mit Blöden wie dem da!« schickte Achak dem Hieb
der glahb einen Gruß hinterher. »Die sich das bißchen Hirn,
das sie hatten, weggevögelt haben. Die von den Göttern für ihr
Saufen und Huren bestraft wurden. Habe ich recht,
Schwachkopf?« Ein neuer Hieb. »Ich rede mit dir,
Abschaum!«
Die Bedeutung des Wortes Abschaum war Cassim bekannt.
Er setzte ein einfältiges Grinsen auf. »Abschaum, ja. Cassim
sein Abschaum, ja. Danke, ja. Meister viel klug, ja.«
Achak schwankte zwischen Zufriedenheit und Mißtrauen.
Vorsichtshalber ließ er die glahb noch einmal Cassims Körper
küssen, diesmal die Oberschenkel. »Manchmal habe ich den
Eindruck, daß du schlauer bist, als du tust«, knurrte er. »Wenn
ich jemals herauskriegen sollte, daß du mich verarschst,
schneide ich dir die Eier ab, Blödian! Und anschließend den
Schlund! Und wenn mich mein Herr mit einem halben
Jahressalär dafür zahlen läßt!«
»Ja, Meister. Danke, Meister, ja.« Cassim nickte mehrmals,
vergaß jedoch nicht, weiter den Dolerithammer zu schwingen.
Eine Weile starrte ihn der Aufseher noch an. Dann machte er
eine abfällige Handbewegung und drehte sich um. Er
schlenderte durch die Reihen der Steinmetzen, Steinpolierer,
Steinsäger und Steinbohrer, die zu Füßen der Berge arbeiteten.
Hin und wieder holte er mit der glahb aus und ließ sie
spielerisch auf einen der nackten Rücken hinabsausen. Der
graue Staub, der jeden einzelnen dieser Rücken bedeckte und
kaum noch die natürliche Hautfarbe zeigte, wirbelte auf und
tanzte in der hitzeflirrenden Luft. Die Frauen, die
knochentrockene Holzpflöcke in die Bohrlöcher steckten und
dann mit Wasser übergossen, damit das quellende Holz den
Stein sprengte, bedachte er besonders üppig mit Schlägen. Nur
Eliamet, eine großbrüstige, langmähnige Frau, die derzeit sein
Lager teilte, wurde verschont und mußte statt dessen einen
derben Griff zwischen die Schenkel erdulden.
Das Hämmern und das Sägen erfüllten das Tal und klangen
bis auf die Bucht hinaus, wo die Schiffe aus Ghurenia im
Wasser dümpelten. Auf Rollen und Holzschlitten zogen einige
Sklaven Marmorquader zum Strand hinab, während nackte
Kinder Fischtran in die Gleitbahnen rieben, um den Transport
zu erleichtern. Sie mußten aufpassen, nicht überrollt zu
werden, wie es einem der Blagen am vergangenen Windstag
passiert war. Man hatte die Reste aus dem Fels kratzen
müssen, und der riesige Blutfleck war noch immer gut zu
erkennen. Als hätte der Felsen selbst geblutet. Blagenblut oder
Felsenblut, das kümmerte hier keinen, nicht einmal die
Sklaven. Selbst die Mutter des Kindes schaute inzwischen nur
noch apathisch drein. Sie war Zeugin des Unglücks gewesen
und schreiend herbeigelaufen. Als sie nicht aufhörte zu
schreien, hatte der Transportaufseher drei Sklaven aufgeboten,
um sie zu fesseln, zu knebeln und zu den Höhlen zu schleppen.
Die drei hatten offenbar die günstige Gelegenheit genutzt, die
Wehrlose zu besteigen. Zumindest brüsteten sie sich mit dieser
Tat. Der Mann, der am lautesten davon geredet hatte, lebte
nicht mehr. Er lag am nächsten Morgen mit durchschnittener
Kehle in seinem Blut. Die Frau stritt ab, etwas damit zu tun zu
haben. Vielleicht sagte sie die Wahrheit, und ein Gerechter
unter den Sklaven hatte sich ihrer Sache angenommen. Die
überlebenden Schänder schwiegen seither, umklammerten oft
ihre Steindolche und wachten des Nachts im Wechsel,
während der andere schlief.
An einem Einschnitt der Bucht schoben Sklaven, begleitet
von zwei pöbelnden Aufsehern, einige Marmorquader auf ein
Treidelboot, das mit Tauen an eine der Potten herangezogen
wurde, wo weitere Sklaven die Quader an Deck hievten. Arbeit
gab es reichlich auf Minlo.
Endlich kam der von allen herbeigesehnte Moment. Auf ein
Zeichen der Oberaufseherin blies einer der anderen Aufseher
die urfhana, ein Bronzehorn mit zwei Trichtern. Der dumpfe,
aber durchdringende Ton drang bis in die fernsten Winkel des
Talkessels und überlagerte alles Hämmern, Sägen und
Klopfen. Auf der Stelle ließen die Sklaven ihre Werkzeuge
fallen. Einige sanken erschöpft zu Boden, aber die meisten
strebten bereits den Zelten und Hütten am Strand entgegen, wo
das Essen verteilt wurde.
Die Insel war auch ohne Mauern und Zäune ein Gefängnis,
dem so leicht niemand entrinnen konnte. Im Westen, Norden
und Osten versperrten unzugängliche Felsmassive den Zugang
zum Meer. Suchte ein Flüchtling trotzdem sein Heil darin, in
diese Wände zu steigen, war er stundenlang den Blicken aller
im Tal Zurückgebliebenen ausgesetzt, vor allem denen der
Söldner. Die Söldlinge besaßen Armbrüste und Langbogen,
mit denen sie jeden herunterschießen konnten, den sie dort
entdeckten. Und wenn deren Reichweite nicht ausreichte, fiel
gewiß ihrer Tiermeisterin etwas ein. Es hieß, die Frau, die
Adler und Falken dressierte und die Vögel dazu bringen
konnte, im Fels hängende Menschen anzugreifen, habe
Zauberkräfte. Und eine Flucht im Schutze der Nacht hatte noch
niemand gewagt. Selbst nicht gesehen zu werden, bedeutete
auch, selbst nichts sehen zu können. Angesichts der tückischen
Steilwände eine Entscheidung für den Tod. Dann konnte man
sich auch gleich in das Schwert eines Söldners stürzen.