Table Of ContentJens Bonnemann
Filmtheorie
Eine Einführung
Filmtheorie
Jens Bonnemann
Filmtheorie
Eine Einführung
Jens Bonnemann
Institut für Philosophie
Universität Jena
Jena, Deutschland
ISBN 978-3-476-04633-8 ISBN 978-3-476-04634-5 (eBook)
https://doi.org/10.1007/978-3-476-04634-5
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J.B. Metzler
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Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung ................................................ 1
Literatur .................................................. 11
2 Hugo Münsterberg (1963–1916) – filmische
Bewusstseinsströme ........................................ 13
2.1 Von der Angewandten Psychologie zur Filmkunsttheorie ..... 15
2.2 Jenseits von Theater und Natur ......................... 19
2.3 Aufmerksamkeitskonzentration und Großaufnahme ......... 21
2.4 Erinnerung und Rückblende ........................... 22
2.5 Die Inszenierung einer emotionalen Welt ................. 23
2.6 Die zweitfreiste Kunst ................................ 27
Literatur .................................................. 31
3 Béla Balázs (1884–1949) – die Physiognomie des Bildes .......... 35
3.1 Filmschauspiel und Theaterschauspiel. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37
3.2 Leiblicher oder sprachlicher Ausdruck ................... 37
3.3 Das Gesicht in der Großaufnahme ....................... 39
3.4 Physiognomische Lyrik ............................... 42
3.5 Hörbarer leiblicher Ausdruck ........................... 44
3.6 Die Physiognomie der Welt ............................ 45
3.7 Expressionismus .................................... 47
3.8 Produktive Kamera .................................. 50
3.9 Physiognomie und Atmosphäre ......................... 51
Literatur .................................................. 54
4 Sergej Eisenstein (1898–1948) – die ‚Kinofizierbarkeit‘
des Denkens .............................................. 57
4.1 Eisensteins Balázs-Kritik .............................. 58
4.2 Montage und japanische Hieroglyphen ................... 60
4.3 Amerikanische und sowjetische Montage ................. 63
4.4 Die Geburt der sowjetischen Montage .................... 65
4.5 Attraktionsmontage .................................. 67
4.6 Konditionierte Rezeption .............................. 68
4.7 Kreative Rezeption ................................... 72
V
VI Inhaltsverzeichnis
4.8 Intellektuelle Montage ................................ 73
4.9 Ton- und Farbmontage ................................ 74
4.10 Kritiker des Montageprinzips – Béla Balázs und
Andrej Tarkowskij ................................... 75
Literatur .................................................. 78
5 Rudolf Arnheim (1904–2007) – das künstlerische
Potenzial der technischen Mängel ............................ 81
5.1 Die Differenz zwischen Darstellung und Dargestelltem ...... 82
5.2 Das Ende der Filmkunst – der „Komplettfilm“ ............. 98
5.3 Ikonische Differenz und starke bewegte Bilder – Gottfried
Boehm ............................................ 100
5.4 Von der geistigen Formgebung zur Kooperation zwischen
Geist und Natur – der späte Arnheim ..................... 103
Literatur .................................................. 107
6 André Bazin (1918–1958) – die Rehabilitierung des Realismus .... 111
6.1 Der Film und die Unsterblichkeit oder: Was schnappt der
Schnappschuss? ..................................... 114
6.2 Neue Technik, alter Traum ............................. 118
6.3 Zwei gegensätzliche Strömungen der Filmkunst ............ 120
6.4 Montage oder Tiefenschärfe? ........................... 124
6.5 Der Film im Verhältnis zu Literatur und Theater ............ 127
6.6 Das Tatsachen-Bild – Physikalismus oder
Phänomenologie? .................................... 130
Literatur .................................................. 134
7 Siegfried Kracauer (1889–1966) – die Kamera ‚im Dickicht
des materiellen Lebens‘ .................................... 137
7.1 Die Realität um ihrer selbst willen ....................... 140
7.2 Formgebung und Realismus im Film ..................... 143
7.3 Formgebung als Beitrag zur Realitätswiedergabe ........... 145
7.4 Der prekäre Status der Filmkunst ....................... 147
7.5 Filmische Objekte ................................... 148
7.6 Vieldeutigkeit der Realität, Eindeutigkeit der Formgebung ... 152
7.7 Die kulturkritische Mission des Films .................... 155
7.8 Ist Kracauer ein wunderlicher Realist (Adorno)? ........... 159
7.9 Kein Realismus ohne Formgebung – Ablehnung des
naiven Realismus .................................... 163
7.10 Unkonventionelle Wahrnehmung in Malerei und Film ....... 164
Literatur .................................................. 167
8 Christian Metz (1931–1993) – die Semiotik des Films ............ 171
8.1 Filmsemiotik avant la lettre ............................ 173
8.2 Der Realitätseffekt des Films ........................... 176
8.3 Eine Sprache (langage) ohne Sprache (langue) ............. 180
Inhaltsverzeichnis VII
8.4 Kommunikation ohne Regeln? .......................... 183
8.5 Konventionelle Bedeutung und natürliche/ästhetische
Expressivität ........................................ 184
8.6 Von der Expressivität zur Syntagmatik ................... 188
8.7 Möglichkeiten der Denotation im Spielfilm – acht
Haupttypen der kinematografischen Syntagmatik ........... 192
8.8 Kinematografische und außerkinematografische Codes ...... 197
Literatur .................................................. 201
9 Gilles Deleuze (1925–1995) – das Kino à la Bergson ............. 205
9.1 Die kinematografische Illusion in Philosophie
und Kinematografie .................................. 207
9.2 Das reine Bewegungs-Bild und die Metaphysik des Films .... 208
9.3 Von den Bewegungs-Bildern zu den Wahrnehmungs-,
Aktions- und Affekt-Bildern ........................... 213
9.4 Das Bewegungs-Bild innerhalb eines sensomotorischen
Schemas ........................................... 215
9.5 Die Äquivokation des Begriffs des Bewegungs-Bildes ....... 218
9.6 Die kulturelle Krise der menschlichen Handlungsfähigkeit
und die filmische Krise des Bewegungs-Bildes ............. 219
9.7 Jenseits des sensomotorischen Schemas – die
Äquivokation der Zeit-Bilder ........................... 223
9.8 Filme als (Medien-)Philosophen? ....................... 225
9.9 Die beiden Hälften des Zeit-Bildes und die
Romankonzeption bei Walter Benjamin und
Michail Bachtin ..................................... 227
9.10 Spielarten des Zeit-Bildes ............................. 231
9.11 Deleuze in der aktuellen Filmwissenschaft- Thomas
Elsaesser und Oliver Fahle ............................. 235
Literatur .................................................. 240
10 David Bordwell (*1947) und Kristin Thompson (*1950) –
eine Frage des Stils ........................................ 243
10.1 Von der Ästhetik über die Taxonomie zur Poetik ........... 244
10.2 Das neoformalistische Programm ....................... 246
10.3 Die vierfache Motivation der Verfahren ................... 249
10.4 Ablehnung der deduktiven Grand Theories:
Psychoanalyse, (Post-)Strukturalismus und
marxistische Ideologiekritik ............................ 252
10.5 Der implizite Zuschauer – die neoformalistische
Wirkungsästhetik .................................... 254
10.6 Von der Rezeption zur Interpretation ..................... 258
10.7 Vom Sehen des Plots über cues zum Verstehen der Story ..... 261
10.8 Historische Poetik des Films – die Evolution stilistischer
Verfahren .......................................... 263
VIII Inhaltsverzeichnis
10.9 Das abstrakte Erkenntnissubjekt der neoformalistischen
Filmrezeption ....................................... 266
Literatur .................................................. 269
11 Vivian Sobchack (*1940) – das leibliche Widerfahrnis der
Filmrezeption ............................................. 273
11.1 Medien- und Kulturkritik – der Verlust der Leiblichkeit ...... 275
11.2 Film und Fotografie – Gesehenes oder gesehenes Sehen ..... 279
11.3 Film und Computersimulation – Virtualisierung
oder Spüren des Leibes ............................... 280
11.4 Die Antiquiertheit des Leibes? .......................... 281
11.5 Körpertheorien des Kinos ............................. 284
11.6 Bewusster Sinn, objektiver Zwang, leiblicher Dialog ........ 287
11.7 Der Leib des Films ................................... 290
11.8 Das Sehen eines Sehens ............................... 292
11.9 Der ganze Leib geht ins Kino .......................... 294
11.10 Kluge Finger ....................................... 296
Literatur .................................................. 300
12 Schlussbemerkungen – Perspektiven einer Phänomenologie
des Films ................................................ 303
12.1 Von der Werkästhetik zur Wirkungsästhetik ............... 303
12.2 Perspektiven der Wirkungsästhetik als Phänomenologie
des Films .......................................... 310
Literatur .................................................. 317
Literatur ..................................................... 319
Personenregister .............................................. 321
1
Einleitung
Um gleich zu Beginn einem Missverständnis vorzubeugen: Eine Einführung in
die Filmtheorie ist nicht dasselbe wie eine Einführung in die Filmwissenschaft.
Die Filmtheorie stellt Fragen, die sich von denen der Filmwissenschaft oder der
Filmgeschichte deutlich unterscheiden. Allerdings geht man wohl nicht zu weit
mit der Vermutung, dass viele – vielleicht die meisten? – Filmwissenschaftler
und -kritiker der Meinung sind, eigentlich ganz gut ohne die Beiträge der Film-
theorie auskommen zu können. Während die Filmkritikerin auf der Grundlage ihrer
l fimgeschichtlichen Bildung ein letztlich doch subjektives Geschmacksurteil über
die – narrativen, ästhetischen oder inhaltlichen – Qualitäten von einzelnen Filmen
oder Gruppen von Filmen fällt und die Filmwissenschaftlerin sich um eine inter-
subjektiv überprüfbare wissenschaftliche Analyse jener – narrativen, ästhetischen
oder inhaltlichen – Qualitäten dieser einzelnen Filme oder Gruppen von Filmen
bemüht, ist die Filmtheoretikerin auf der Suche nach Erkenntnissen über den Film
im Allgemeinen. Auch wenn es aus der Mode gekommen zu sein scheint: Es geht
um den Film als Film. Was hier im Mittelpunkt steht, sind also Einsichten, die
nicht nur für einen einzelnen Film, für Genres, Strömungen oder Epochen, sondern
ausnahmslos für jeden Film gültig sein sollen. Wer nicht vor alten Worten zurück-
schreckt, würde hier sagen, dass es um nicht weniger als das Wesen des Films und
seine grundsätzlichen Entwicklungsgesetze geht.
Zu einem genuin filmtheoretischen Nachdenken über Filme gehören Fragen
wie: Was ist überhaupt der Film, und wodurch unterscheidet er sich von ande-
ren Medien? Auf welche Weise wird ein einzelner Film dem allgemeinen Cha-
rakter des Mediums Film als solchem gerecht? In welchem Verhältnis steht Bild
und Ton, Narration und Sichtbarkeit? Gibt es eine Kunst des Films, und wenn
ja, wie unterscheidet sie sich dann von derjenigen der Literatur, des Theaters,
der Musik und der Malerei? Das sind die Fragen, mit denen Filmtheoretiker das
Potenzial des Films, aber auch die Maßstäbe einer mediengerechten Produktions-
weise bestimmen. Aufgrund ihrer allgemeinen Fragestellung ist die Filmtheorie
im Unterschied zur Filmwissenschaft häufig mit zwei grundlegenden Vorwürfen
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J. Bonnemann, Filmtheorie, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04634-5_1
2 1 Einleitung
konfrontiert. Erstens gerät sie in den Verdacht des „Überintellektuellen“ (Tudor
1977 [1974], 9), wie Andrew Tudor in den 1970er Jahren – also nach über einem
halben Jahrhundert Filmtheoriegeschichte – bilanziert. Der zweite Vorwurf
hängt eng damit zusammen, verdient es jedoch, gesondert betrachtet zu werden.
Gemeint ist der Einwand, dass jegliche Theorie die Intensität der Filmrezeption
schwächt. Zunächst jedoch zum Vorwurf der Überintellektualität, der im Wesent-
lichen auf der Unterstellung beruht, die Frage nach dem Wesen des Films würde
die einzelnen realen Filme mit ihren besonderen Qualitäten ignorieren und sich
im Abstrakten und Spekulativen verirren. Man interessiert sich also mehr für den
Begriff und verliert die Sache, auf die er sich bezieht, aus dem Blick. So wie im
Verlauf des 20. Jahrhunderts auch in der Philosophie Wesensfragen mehr und
mehr in Verruf kommen, wird, wie Tudor fortfährt, die Filmtheorie im Vergleich
mit den ‚geerdeten‘ und ‚seriöseren‘ filmwissenschaftlichen Fragestellungen als
„eine wenig geübte und angesehene Beschäftigung“ (ebd., 9) beurteilt.
Dass dieser Befund aus den 1970er Jahren auch heutzutage immer noch gül-
tig ist, bestätigt ein Blick in die filmwissenschaftliche Standardeinführung von
James Monaco, Film verstehen, die erstmals 1977 auf Englisch veröffentlicht wird
und 2009 in einer überarbeiteten und erweiterten Neuausgabe erscheint, deren
deutsche Übersetzung 2012 bereits eine zweite Auflage erhält. Dort bezeichnet
Monaco die Filmtheorie eher abschätzig als „eine intellektuelle Anstrengung, die
hauptsächlich zum Selbstzweck existiert und oft ihre eigenen Verdienste, aber
nicht unbedingt viel Bezug zur wirklichen Welt hat“ (Monaco 2012 [2009], 463).
Immerhin räumt Monaco ein, dass seit den 1970er Jahren Theorie und Praxis
selbst in den Hollywood-Studios näher zusammengerückt sind: „Sogar die Büros
in Hollywood sind heute voll von promovierten Filmschul-Absolventen; seit der
Generation von Coppola, Scorsese und Lucas – allesamt aus Filmschulen hervor-
gegangen – sind qualifizierte Abschlüsse wichtig für eine Anstellung in den Stu-
dios“ (ebd., 464).
Wie die zitierte Passage deutlich macht, wirft Monaco in jenem Kapitel seines
Buchs, das sich eigens der Filmtheorie widmen soll, hin und wieder die Bereiche
Filmwissenschaft und Filmtheorie völlig durcheinander, denn jene Filmschul-Ab-
solventen sind sicher Filmwissenschaftler, ob sie aber auch Filmtheoretiker
sind, ist eine ganz andere Frage. Abgesehen von diesen Begriffsverwirrungen
ist Monaco der Überzeugung, dass sich eine solche Kooperation von Theorie
und Praxis für die Filmproduktion nicht unbedingt als vorteilhaft erweist. Denn
obwohl die Kunst hierdurch reflektierter wird, führt schließlich ein Übermaß an
Theorie doch dazu, die freie Entfaltung der Kreativität zu unterdrücken.
Offenbar hat Monaco ein sehr widersprüchliches Verständnis von Filmtheorie,
die für ihn einerseits nur eine realitätsferne und abstrakte Gedankenspielerei, ja
ein bloßer „Selbstzweck“ ist, andererseits aber dennoch ein strenges normatives
Regelwerk entwickelt, das die reale Filmpraxis in Fesseln legt. Demgegenüber
insistiert Monaco nun darauf, dass die beste Kunst von Renegaten hervorgebracht
wird, die gegen alle Regeln verstoßen (vgl. Monaco 2012 [2009], 464). Die Frage
stellt sich aber, ob nicht gerade eine Filmtheorie Aspekte filmischer Darstellbarkeit
zu beleuchten vermag, die bisher zu wenig oder gar nicht beachtet worden sind.