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GERMANISTISCHE FORSCHUNGEN
NEUE FOLGE
HERAUSGEGEBEN VON
JOACHIM HEINZLE UND KLAUS-DETLEF MÜLLER
BAND 102
STEPHAN KAMMER
Figurationen und Gesten
des Schreibens
Zur Ästhetik der Produktion
in Robert Walsers Prosa der Berner Zeit
MAX NIEMEYER VERLAG
TÜBINGEN 2003
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbiblio-
grafie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
ISBN 3-484-15102-1 ISSN 0440-7164
© Max Niemeyer Verlag GmbH, Tübingen 2003
http://www. niemeyer. de
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Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.
Satz und Druck: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten
Buchbinder: Geiger, Ammerbuch
Inhalt
Vorbemerkungen: Zu einer Ästhetik der Produktion in Walsers
Berner Prosa ι
I. Programme
ι. Produktionsverhältnisse — Schreibprozeß, Diskurs,
Poetologie 5
1.1 Schreiben und Schrift 5
1.2 Schreibgeschichte(n)-Lesegeschichte(n) j j
2. Produzenten - Schriftsteller, Dichter, Autor 29
2.1 Wen kümmert's, wer schreibt? 29
2.2 Autorschaft und Selbsttechnik:
das diskursanalytische Interesse am Schreiben 39
2.3 Eigentümlichkeiten ^ j
3. Produktionsmetaphern 57
3.1 Zur kulturellen T(r)opik des Schreibens 57
3.2 Spur, Erinnerung, Zeichen: >Die Ruine< 61
3.3 Knotenpunkte
4. Schreiben, Schrift: Probleme der Darstellung, Analyse und Lektüre 75
4.1 Auf der Suche nach dem Gegenstand 75
4.2 Schreibszenen 79
4.3 Schreiben in der Schulbank: > Fritz Kochers Aufsätze< 84
4.4 Das Schreiben lesbar machen gp
5. Walsers Schreibszenen: Mikrogramm und Abschrift 106
5.1 Das »Bleistiftsystem« 106
5.2 Das »Abschreibesystem« r^^
V
II. Lektüren
6. Nachtseiten der Produktion 141
6.1 Vermessungen der Nacht 141
6.2 Exkurs I.
Philomele: der Text der Nacht 145
6.3 Schlafen 148
6.4 Schlafen—Wachen; Schreiben—Lesen: >Minotauros< 151
6.5 Schlaf als >anderer Zustand< 168
6.6 Exkurs II.
Walsers >Surrealismus< 175
6.7 Gespenster J8O
7. Die Arbeit des Schreibens 184
7.1 Geistesarbeiter 184
7.2 Hand-Werk und Broterwerb 187
7.3 Goldfabrikant und Schreibmaschinenfräulein:
Textfabrikationsweisen 209
8. Annäherungen an einen Textualisierungsprozeß:
Das >Tagebuch<-Fragment 217
8.1 Erste Annäherung: Inszenierung des Erotischen 2 20
8.2 Zweite Annäherung: Schriftbilder 262
8.3 Dritte Annäherung: Vor-Schriften 276
8.4 Zum Schluß: Vorschrift und Vergnügen ^04
Literaturverzeichnis 307
VI
Vorbemerkungen:
Zu einer Ästhetik der Produktion in Walsers Berner Prosa
Ausgangspunkt der folgenden Arbeit ist eine doppelte Faszination: Einer-
seits die für ein literarisches Produktionssystem, das als Ausformung einer
individuellen Arbeitsweise wohl kaum seinesgleichen hat. Walsers in der
Berner Zeit betriebenes »Bleistift«- und »Abschreibesystem« (B 322: 300)1
ist - unter den Gesichtspunkten schriftstellerischer Produktion betrach-
tet — von geradezu mechanischer Einfachheit und verblüffender Individuali-
tät zugleich. Die strikte Trennung der Textentstehung in zwei genau de-
finierte Arbeitsschritte: >Entwurf< und >Reinschrift<, wie man es für
gewöhnlich nennt, kontrastiert auffällig mit dem Überschuß an Bedeutsam-
keit, die ihr die >äußerlichen< Umstände ihrer Organisation verleihen. Daß
letztere mehr als nur ein Akzidens dieser Arbeitsweise darstellen, ist späte-
stens seit dem Erscheinen der von Bernhard Echte und Werner Morlang her-
ausgegebenen Bände >Aus dem Bleistiftgebiet< kein Geheimnis mehr.
Andererseits, und dies ist das zweite Faszinosum dieses Schreibens von
der Randperspektive der zeitgenössischen kulturellen Zentren, zeichnet
Walsers Texte eine erstaunliche Hellhörigkeit fur die Zeitgebundenheit
schriftstellerischer Tätigkeit aus. Von der literarischen Tradition, die durch
den Lektüre-Kanon der Jahrhundertwende bestimmt wird, über die vielfal-
tigen intellektuellen, mentalen und medialen Errungenschaften bis hin zu
den Rändern des kulturell Akzeptierten - Kino, Trivialliteratur, Varieté
etc. — geben die Prosastücke zu erkennen, daß in ihnen ein »Jetztzeitstil«
(BG 3: 73) zur Sprache kommt, dessen Scharfsichtigkeit seinesgleichen
sucht; dies aber nicht, ohne auch hier sich eine irreduzible Individualität
zu bewahren. Die 1998 erschienene große Untersuchung von Peter Utz,
die Walsers Texte in der »dialektischen Spannung zur Gravitationskraft
seiner Zeit«2 liest, hat bei der Erforschung dieses Terrains Maßstäbe ge-
1 Zur Zitierweise von Walsers Texten und Briefen vgl. die Angaben im Literaturverzeich-
nis. In Zitaten aus den Bänden >Aus dem Bleistiftgebiet < (BG 1—6) bezeichnet Kursivie-
rung — wenn nicht von mir als Hervorhebung gekennzeichnet — unsichere Entzifferung,
kursiv in eckigen Klammern stehen Ergänzungen der Herausgeber.
2 Utz 1998, S. 10. Zitierte Literatur wird in den Fußnoten nach folgendem Schema nachge-
wiesen: Autorname ggf. Jahr der Erstpublikation/Jahr der zitierten Ausgabe, ggf. Band-
zahl in großen römischen Ziffern, Seitenzahl. Für vollständigen Angaben sei auf das
Literaturverzeichnis verwiesen; sämtliche Hervorhebungen in Zitaten entstammen, wenn
I
setzt, hinter die eine Lektüre nicht zurückfallen sollte, die sie aber auch
nur schwer einholen kann. Wenn im folgenden, wie eben formuliert, Wal-
sers Prosastücken die besondere Aufmerksamkeit gilt, erfordert dies —
obgleich damit die meist unthematisierte Gemeinsamkeit eines Großteils
der Walser-Rezeption nur wiederholt zu werden scheint — eine Begrün-
dung: Nicht nur bilden die Prosastücke den quantitativ größten und reprä-
sentativsten Teil von Walsers schriftstellerischer Produktion der Berner
Zeit; darüber hinaus lassen die Spezifika dieser Prosa ebenso wie ihr Stel-
lenwert als eigentliche Text-Schnittstellen zwischen Schreibtisch und den
Restformen literarischer Öffentlichkeit, die Walser in den zwanziger Jah-
ren noch zugänglich sind, sie zum privilegierten Gegenstand der hier ver-
tretenen heuristischen Doppelperspektive werden.
Die doppelte Faszination für die Differenzen und Konvergenzen von indi-
vidueller ästhetischer Arbeit und kulturellen Identifikations- und Abgren-
zungsmodellen verlangt einen auch methodischen Doppelblick: >Figuratio-
nen und Gesten des Schreibens<, wie sie der Titel der Arbeit in Aussicht
stellt, sollen als Versuch einer zugleich diskursanalytischen und textwis-
senschaftlichen Annäherung an eine Ästhetik der Produktion beschrieben
werden. Figurationen des Schreibens sind dabei zu verstehen als Auseinander-
setzung mit diskursiven Vorgaben, mit Wahrnehmungs- und Erwartungs-
mustern, welche Walsers Texte in Hinsicht auf die Aufgabe des Schriftstel-
lers inszenieren; Gesten des Schreibens sollen aus der umgekehrten
Perspektive in den Blick genommen werden: ausgehend von der spezifi-
schen Individualität des Schreibakts und der Textproduktion. Wäre der
Begriff nicht von einer gut zweihundertjährigen hermeneutischen Tradi-
tion besetzt, könnte man als Fluchtpunkt dieser methodischen Doppelper-
spektive, zu dem hin sich die Lektüren von Theorieansätzen und Texten
auf den folgenden Seiten — hoffentlich — bewegen, die Chiffre des indivi-
duellen Allgemeinem setzen.
Die Wahl dieser Zugangsweise scheint erklärungsbedürftig. »Diskurs-
analyse <, als spezifische Variante einer konzeptuell weit gefaßten kultur-
wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Literatur, und >Textkritik<, als
sich fur gewöhnlich auf die enge Trias von Autor, Dokument und Werk
beschränkende Annäherungsweise, zeichnen sich vorwiegend durch gegen-
seitige Ignoranz, wenn nicht explizite Feindschaft aus. Das mag zu einem
guten Teil wissenschaftspolitische Strategie sein,3 hat aber seine Ursache
nicht anders ausgewiesen, dem zitierten Text. - Für einen kritischen Überblick über die
ersten Jahrzehnte der literaturwissenschaftlichen Walser-Rezeption vgl. Horst 1991.
3 Vgl. dazu Böhme 1997.
2
wohl auch in einem gegenseitigen Heteronomieverdacht: Diskursanalysen
vernachlässigen die Individualität ästhetischer Texte zugunsten eines re-
duktionistischen Funktionalismus, für den Literatur nur ein Effekt von
Techniken darstellt — dies der implizite Vorwurf von seiten im weitesten
Sinn textkritisch-poetologischer Ansätze. Letztere gehen von der naiv-
illusorischen Sicherheit aus, ästhetische Produktionsprozesse im Rückgriff
auf ein Schöpfersubjekt erklären zu können und kontextuelle Informatio-
nen allenfalls zur kommentierenden Überbrückung der historischen Di-
stanz zu benötigen, die sich zwischen Produktion und Rezeption eines
Texts aufgetan hat — so kontert die kulturwissenschaftlich orientierte
Seite. Beide Argumente haben, dies wird zu zeigen sein, eine gewisse Plau-
sibilität. Dennoch scheinen auf einen zweiten Blick die Gegensätze keines-
wegs unüberwindlich, im Gegenteil: Den Ansätzen ist gemein, daß sie
ihren Ausgangspunkt jeweils in der Oberfläche und an den Rändern dessen
finden, was als problematisches kulturelles Konstrukt >Literatur< heißt: in
der Materialität, in der Positivität oder im Befund einer Überlieferungs-
praxis. Beider Interesse richtet sich demgemäß auf die >Produziertheit<
von Texten eher als auf deren Sinn.
Der erste Teil der vorliegenden Untersuchung beschäftigt sich ausgehend
von dieser Prämisse mit theoretischen Annäherungsweisen an die Oberfläche
des Texts. Diese werden jeweils kontrastiert mit darauf bezogenen Textlektü-
ren, anhand derer die methodischen Konzepte gewissermaßen auf die Probe
gestellt werden sollen. Im ersten Kapitel wird versucht, die formulierten me-
thodischen Überschneidungen, unter Berücksichtigung insbesondere der
englischsprachigen und französischen textkritischen Theorien der letzten
Jahrzehnte, näher zu bestimmen. Dabei wird zu berücksichtigen sein, daß
das anscheinend voraussetzungslos einem — meist wenig fröhlichen — Posi-
tivismus der Überlieferungswirklichkeit von Dokumenten verpflichtete Er-
kenntnisinteresse textkritischer Ansätze fundamental an kulturelle Konven-
tionen über die Grenzziehung zwischen >Texten< und ihren materiellen
Grundlagen, ihren >sekundären< Erscheinungsformen sowie den Praktiken
ihrer Transmission und Speicherung gebunden ist. Das zweite Kapitel
wird — ausgehend von der diskursanalytischen Auseinandersetzung mit
Literatur — nach dem Stellenwert einer >Praxis des Schreibens< fragen,
die jenseits theoretischer Wiederbelebungsversuche des Autormodells und
zugleich ohne Letztbegründung im historischen Subjekt des Schreibenden
konzeptualisiert werden kann. Einer näheren terminologischen Bestim-
mung der >Figurationen des Schreibens< dient das dritte Kapitel. Dort
soll das Konzept einer Produktionsmetaphorik — als textuell reflektiertes
Verhältnis zwischen individueller und kultureller Situiertheit ästhetischer
3
Arbeit — umrissen werden, das den Ausgangspunkt fur die Textlektüren
des zweiten Teils bildet. Ein viertes Kapitel setzt sich, um die Problematik
des >Schrift<begriffs in Hinsicht auf die Doppelperspektive der Untersu-
chung zu profilieren, mit unterschiedlichen methodischen Ansätzen aus-
einander, Schreibprozesse darzustellen und lesbar zu machen. Besondere
Aufmerksamkeit gilt dabei den impliziten Modellbildungen, anhand derer
textkritische und editionswissenschaftliche Ansätze sowie die linguistische
Schreibprozeßforschung die von ihnen entworfenen >Schreibszenen< (R.
Campe) formen. Das fünfte Kapitel des ersten Teils schließlich, das zu den
Textlektüren des zweiten überleitet, rekapituliert Walsers Schreibsystem
unter besonderer Berücksichtigung der angesprochenen Oberflächeneffekte
von Schreiben und Schrift; die herkömmliche Differenzierung zwischen
einem >Entwurfs-< und >Reinschrift<-Charakter von Walsers Bleistift- re-
spektive Tintenmanuskripten erweist sich dabei als unzulänglich.
Der zweite Teil kehrt die Perspektive um: Ausgangspunkt der ersten bei-
den Kapitel sind Beobachtungen am Textkorpus von Walsers Berner Prosa,
die sich zur »poetologischen Erkenntniskritik«4 an verschiedenen diskursi-
ven Konzepten kondensieren lassen. Das erste Kapitel widmet sich den
>Nachtseiten der Produktion^ es erkundet die produktionsmetaphorischen
Kontextualisierungen von >Nacht<, >Schlaf< und >Schreiben<. Im zweiten
Kapitel wird eine Rekonstruktion der Auseinandersetzungen mit Konzep-
ten der Arbeit des Schreibens unternommen, die Walsers Texte und Briefe
in Gang setzen. Das abschließende dritte Kapitel konzentriert sich auf die
Textualisierungsprozesse im Bleistiftmanuskript des sogenannten >Tage-
buch<-Fragments von 1926: In drei Annäherungen werden die Spuren eines
Schreibvorgangs untersucht, die von einer fundamentalen (Selbst-)Reflexion
auf Produktivität und Produziertheit zeugen; dies in einem breiten figuralen
Spannungsfeld, das von der Materialität der Schreibszene bis zur poetologi-
schen Programmatik des >Texts< als Inszenierung des Schreibens reicht.
Es handelt sich bei den folgenden Seiten damit um Ansätze zu einer
Ästhetik der Produktion, die von der Oberfläche des materiell Vorhandenen
ausgehen, diese beschreibend erkunden und die dazu vorhandenen Beschrei-
bungs- und Begriffsmodelle kritisch überprüfen wollen. Gegenstand der
Untersuchung sind also, im Unterschied zur Produktionsästhetik oder zur
Kreativitätsforschung, nicht kognitive Prozesse oder psychische Vorausset-
zungen literarischer Arbeitsweisen, sondern die Materialien, auf und aus de-
nen Texte gefertigt werden.
4 Gellhaus 1995, S. 21 (im Original hervorgehoben).
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