Table Of ContentÖSTERREICHISCHE AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN
PHILOSOPHISCH-HISTORISCHE KLASSE
SITZUNGSBERICHTE, 245. BAND, 2. ABHANDLUNG
VERÖFFENTLICHUNGEN DER KOMMISSION
FÜR SPRACHEN UND KULTUREN SÜD- UND OSTASIENS
HEFT 1
TILMANN VETTER
ERKENNTNISPROBLEME
BEI DHARMAKIRTI
Vorgelegt in der Sitzung am 8. April 1964
Gedruckt mit Unterstützung des Vereines der Freunde der
österreichischen Akademie der Wissenschaften
WIEN 1964
HERMANN BÖHLAUS NACHF. / GRAZ-WIEN-KÖLN
KOMMISSIONSVERLAG
DER ÖSTERREICHISCHEN AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN
Alle Rechte vorbehalten
Copyright © 1964 by
Österreichische Akademie der Wissenschaften
Wien
Druck: Rudolf M. Rohrer, Baden bei Wien
Inhalt
Seite
Vorwort • 5
Einleitung 9
1. Der buddhistische Anätmaväda 9
2. Hînayana und Mahäyäna 11
Erstes Kapitel: Sauträntikaontologie 13
1. Die Lehre von der Augenblicklichkeit 14
2. Die Kausalitätslehre 18
a) Der Ursachenkomplex 18
b) Das Gleichartige 20
c) Das Entgegengesetzte 25
Zweites Kapitel; Das System der Erkenntnisrnittel 27
1. Die Schlußfolgerung 28
2. Der Buddha 31
3. Zweck und Handeln 34
4. Die Wahrnehmung 37
Drittes Kapitel: Das Problem des Begriffs 41
1. Methode 42
2. Die Apohalehre 47
a) Die logische Seite des Begriffs 47
b) Die psychologische Seite des Begriffs 49
c) Wort und Satz 59
Viertes Kapitel : Das Problem der Anschauung 63
1. Problemdenken und Mystik 64
2. Die Dreiteilelehre 71
a) Das Objekt 72
b) Das Bewußtsein 75
3. Der Idealismus des Selbstbewußtseins 77
Fünftes Kapitel: Metaphysik der Erkenntnis 83
Anhang I : Sein und Seiendes in der indischen Philosophie 89
Anhang II : Polemik gegen die Realität einer Gemeinsamkeit 98
Anhang III: Eine Sonderform der Apohalehre 110
Anhang IV : Abkürzungen und Literatur • . 112
Anhang V: Vergleich der Verszählungen des Pramänavärttikam 116
Anhang VI: Verzeichnis der zitierten Pramänavärttikastellen 118
Vorwort
Die philosophische Bearbeitung der Geschichte der indischen
Philosophie steckt noch in den Kinderschuhen. P. Deussen und
0. Strauss haben verheißungsvoll angefangen. Das Verständnis
konnte sich aber nicht weiter vertiefen, weil zu wenig Material
vorlag. Das blieb lange Zeit trotz beachtlicher Einzelleistungen
so. Erst E. Frau wallner betrat mutig die gefürchteten Gebiete
einer Terra incognita, um sie für die Landkarte der indischen
Philosophie wenigstens im groben zu vermessen. Es war eine
einmalige Pionierarbeit, nicht mit bloßen Einzelheiten zurück-
zukommen, sondern die Zusammenhänge aufzudecken: neue
Perspektiven sind eröffnet; Altbekanntes ist zurechtgerückt und
in einen größeren Rahmen gestellt.
Wichtigstes Neuland hat Frauwallner mit Dharmakirti zu-
gänglich gemacht. Dharmakirti ist der wohl neben Dignäga ein-
flußreichste buddhistische Denker der nachklassischen Periode
der indischen Philosophie. Der Hauptprobleme, die mit der er-
kenntnistheoretischen Thematik dieser Periode entstanden, war
er sich wie kein anderer bewußt und kann auch heute noch in
diesen Dingen ein mehr als nur historisches Interesse beanspruchen.
Warum hat sein System bis jetzt noch keine genügende
Darstellung gefunden ? Das hat zwei Gründe. Einmal kannte man
von ihm in Sanskrit lange Zeit nichts als Fragmente bei brah-
manischen Autoren und den Nyäyabinduh, ein für den Schulbetrieb
abgefaßtes Kompendium. Es war nicht zu sehen, mit welchen
Problemen er rang und wie er argumentierte. Daher hat auch das
Buch von T. Stcherbatsky „Erkenntnistheorie und Logik bei den
späteren Buddhisten" nur das Verdienst, auf den Namen Dharma-
kïrti's aufmerksam gemacht zu haben. Es erweist sich als uner-
giebig, sobald man das Pramänavärttikam kennt. Den Weg, die
Hauptwerke Dharmakïrtfs, das Pramänavärttikam und den
Pramänaviniscayah, in den tibetischen Übersetzungen zu studieren,
mochte Stcherbatsky offenbar nicht gehen; in Petersburg und
Moskau hätten ihm jedenfalls die Texte zur Verfügung gestanden.
Diesen Weg nun ist Frauwallner gegangen und hat sich unter
großen Mühen aus den tibetischen Übersetzungen die Gedanken-
6 Vorwort
welt Dharmakïrti's erschlossen (Aufsätze in der WZKM).Als R.
Sänkrtyäyana kurz vor dem zweiten Weltkrieg Sanskrittexte
des Pramänavärttikam in Nepal und Tibet fand und veröffentlichte,
war er dann einer der wenigen, die dieses Werk wirklich
übersetzen konnten. Denn — das ist der zweite Grund — es zeigte
sich, daß auch im Sanskrittext die Verse des Pramänavärttikam
noch äußerst schwierig zu verstehen sind. Es genügt keineswegs,
nur Sanskrit zu können. Bis heute ist denn auch in Indien meines
Wissens noch kein brauchbarer Aufsatz über Dharmakirti er-
schienen, geschweige denn eine größere Darstellung. Lediglich
in Japan hat man sich etwas um Dharmakirti bemüht (z. B. in
IBK Aufsätze von Y. Miyasaka, die mir leider nicht zugänglich
sind, da ich nicht Japanisch kann, und von I. Yamada).
Im Frühjahr 1960 gab mir Prof. Frauwallner „Erkenntnis-
probleme bei Dharmakirti" als Dissertationsthema. Die Aufgabe
war gewissermaßen, unübersichtliche Stellen im Neuland Dharma-
kirti genauer zu vermessen. Zugrundegelegt wurde das Pramä^a-
värttikam (wo im folgenden nur römische und arabische Ziffern
stehen, sind seine Kapitel und Verse gemeint). Prof. Frauwallner
übersetzte mir die meisten in Frage kommenden Stellen. Dazu
wäre ich damals nicht in der Lage gewesen. Und selbst wenn:
das Übersetzen der Verse erfordert auch für den Kenner so viel
Zeit, daß die vorliegende Arbeit noch nicht hätte abgeschlossen
werden können. Der Stoff nun, der zu bearbeiten war, verlangt
die philosophische Bearbeitung, auf die ich oben angespielt habe,
und stellt sie nicht etwa bloß in unser Belieben. Es gibt Inhalte
der Philosophiegeschichte, die sich nicht wie Fakta erzählen
lassen. Oder wie will man z. B. das Idealismusproblem behandeln ?
Will man wie indische Kommentatoren sagen, die einen Philo-
sophen nähmen ein Außending an, die andern nicht ? Ich kann
mir darunter nicht viel vorstellen und der gesunde Menschen-
verstand hält den Leugner der Außenwelt für einen Narren.
Schließt man sich aber der philosophischen Argumentation an,
so wird einsichtig, zu welchen Ausweglosigkeiten es führt, wenn
Erkennen und Erkanntes getrennt werden.
Die Dissertation, die ich im Frühjahr 1962 an der Universität
Wien vorlegte, behandelte nur den ersten Teil des Planes, den ich
mir für die Darstellung der Erkenntnisprobleme gemacht hatte.
Dank eines Stipendiums der Deutschen Forschungsgemeinschaft
war es dann möglich, die Arbeit fortzusetzen. Vor allem konnte
ich nun die 1960 von R. Gnoli sorgfältig edierte Svavrttih zu
Vorwort 7
Pramänavärttikam I hinzuziehen (zitiert mit p. . . .). Die Über-
setzungen daraus stammen von mir selbst. Die Dissertation bildet
zwar den Grundstock der vorliegenden Arbeit; doch ist alles
gestrichen, was nicht unmittelbar zum Thema gehört. Wörtlich
ist so gut wie nichts übriggeblieben, in manchen Punkten bin ich
zu einer andern Ansicht gekommen.
Prof. Frauwallner möchte ich dafür danken, daß er mir diesen
Stoff so großzügig überlassen hat und mir jederzeit mit seinem
Rat beistand. Auch Prof. Heintel, dem ich hauptsächlich meine
philosophische Ausbildung verdanke, bin ich für wertvolle Hin-
weise verpflichtet. Dr. L. Schmithausen und Dr. E. Steinkellner
möchte ich für das Nachprüfen meiner Übersetzungen danken.
Dr. Schmithausen hat mir wertvolle Anregungen, besonders zum
Problem des Begriffs, gegeben.
Da die Arbeit sich auch die Aufgabe setzt, das wichtigste
Material zu sammeln und die schwierigsten Stellen in Überset-
zung vorzulegen, sei dem Leser, der sich nur grob orientieren
möchte, empfohlen, bei den Kapiteln I—IV nur die Anfänge der
Abschnitte zu lesen. Da ich immer vom Allgemeinen ausgehe und
die folgenden wörtlichen oder paraphrasierten Diskussionen als
Beweise für meine Behauptungen bringe, bedeutet es keinen Ver-
lust an Neuigkeiten, wenn man die Lektüre jeweils an dem Punkt
abbricht, wo die Argumentationen allzu ermüdend werden. Da-
gegen sind Kapitel V und Anhang I zusammenhängend geschrie-
ben. Auch Anhang II, obwohl eine Übersetzung, gibt den bei
Dharmakirti wohl seltenen Fall eines lesbaren Zusammenhangs
und eignet sich auch gut zur Einführung in seine Sprache, an-
ders als die Stellen im Kapitel III, bei denen sich das Ringen
mit den Schwierigkeiten des Problems oft in langen Schachtelsät-
zen und schwebenden Formulierungen niedergeschlagen hat.
Einleitung
Nicht zuletzt nach dem großen Vorbild Vr.sagai^a's1, der
wohl zum ersten Mal in der indischen Philosophie der Darstellung
metaphysischer „Erkenntnisse" eine Untersuchung der Art und
Weise, wie man zu ihnen kommt, vorausgeschickt hat, führt
Dignäga (ca. 480—540)2 mit seinem Pramänasamuccayah die
Untersuchung der Erkenntnismittel (pramänäni) als eigene Dis-
ziplin in die buddhistische Philosophie ein.
Dharmakirti's (ca. 600— 660)2 Hauptwerk, das Pramänavärtti-
kam, ist ein ausführlicher Kommentar zum Pramâçasamuccayah.
Die Ausführlichkeit jedoch ist nicht ein Ausmalen von Sätzen
Dignäga's, sondern ein tiefgehendes Neuentwickeln seiner Position.
Die gründliche Behandlung der Erkenntnismittel (Wahrnehmung
und Schlußfolgerung) zeigt: die neue Disziplin kann keine selbst-
genugsame Existenz führen. Der Hauptgrund liegt im Begriff
der Erkenntnismittel selbst. Der Buddhist kann sich — im Gegen-
satz etwa zum Naiyäyika — nicht vorstellen, was ein Erkenntnis-
mittel getrennt von der Erkenntnis bedeuten soll. Auch wenn
meist die einzelnen Erkenntnismittel, insbesondere die Logik,
rein formal beschrieben werden, fordern sie doch, sobald ihre
Voraussetzungen in Frage gestellt werden, die Grundlage einer
Philosophie der Erkenntnis, die wesentlich buddhistisch gedacht
ist. Hier in der Einleitung sollen dazu die allgemeinsten Voraus-
setzungen beigetragen werden: erstens der Anätmaväda und
zweitens der Gegensatz Hinayäna-Mahäyäna.
1. Der buddhistische Anätmaväda
Anätmaväda kann heißen, daß ein System keine Seele als onto-
logischen Baustein anerkennt. Das gilt für fast alle buddhistischen
Schulen mit Ausnahme der Vätsiputriya-Sämmatiyas (Pudgala-
väda). Dieser Aspekt soll hier nicht betrachtet werden. Uns inter-
essiert zunächst die Bedeutung des Anätmaväda als mystischer
1 Siehe E. Frauwallner: Die Erkenntnislehre des klassischen Sämkhya-
sy stems.
2 Siehe Frauwallner Landmarks.
10 Einleitung
Weg. Er ist die dem Buddha eigene Methode durch Ausscheiden
des Vergänglichen, Leidhaften, Nichtichhaften zur Erlösung zu
führen: „Der Körper ist nicht Ich. Die Gefühle sind nicht Ich"
usw. Diese Methode ist der Methode der Upanischaden, sich auf
das Selbst zu konzentrieren, diametral entgegengesetzt, ohne sich
von ihr bezüglich des Ziels wesentlich zu unterscheiden. Wenn
man die Methode des Buddha bildlich beschreiben will, kann
man sagen : der Mensch nähert sich hier gewissermaßen rückwärts
dem Absoluten, indem er durch Analyse das Endliche distanziert.
Das Ende ist Schweigen und dieses Schweigen wird in den alten
Texten bezüglich der Beschreibung des Nirväna meist durchge-
halten.
Mit dem Beginn der philosophischen Schulbildung wird auch
versucht, das Nirvana zu bestimmen. Das geschieht zunächst
analog der Bestandaufnahme der Gegebenheiten (dharmäh) : das
Nirvana gilt als unbedingte (asaniskrta) Gegebenheit. Damit
mindert sich keineswegs der Eindruck, den Buddhisten ginge es
nur um die Negation. Auch dort, wo sich im Mahäyäna der Begriff
mit dialektischen Mitteln auf das Absolute richtet und soundso-
viele Prinzipien an ihrem Gegenteil aufreibt, wird nur an wenigen
Stellen der Anätmaväda selbst überstiegen, z. B. im Ratnaküta
oder Vimalakirtinirdesa3. Diese Stellen bilden Höhepunkte der
indischen Philosophie. Nur bei ihnen ist der Gegensatz der Position
und Negation des Ätma überwunden. Doch die dialektische Auf-
hebung des Anätmaväda ist nicht durchgedrungen: auch nach
der Gründung der Mädhyamikaschule bleibt das Nichtich oberstes
Prinzip. Aber die mit dem Mahäyäna beginnenden Beschreibungs-
versuche des Absoluten machen nun, wenn der Anätmaväda
Charakteristikum des Buddhismus bleiben soll, eine Präzisierung
notwendig: im Anätmaväda erscheint das Ich nie als Subjekt
3 Frauwallner PB S. 166: „Selbst*' (ätmä), Käsyapa, das ist ein
Extrem. „Nichtselbst" (nairätmyam), Käsyapa, das ist ein zweites Extrem.
Was zwischen diesen beiden, dem Selbst und dem Nichtselbst in der Mitte
liegt, das ist formlos, unzeigbar, ohne Erscheinungsbild, ohne Erkennen,
ohne Halt und ohne Kennzeichen. Das nennt man, Käsyapa, den mittleren
Weg, die wahrheitsgemäße Betrachtung der Gegebenheiten.
E. Lamotte: Vimalakirtinirdesa S. 308: „Moi" (ätman) et ,,non-
moi" (anätman) font deux. La nature propre (svabhäva) du moi étant
inexistante (anupalabdha), comment le non-moi existerait-il ? La non-
dualité perçue par la vision de ces deux natures est l'entrée dans la non-
dualité.
Einleitung 11
eines Satzes, sondern immer nur als Prädikat. Auf diese Weise
fällt Säramati nicht außerhalb des Buddhismus, obwohl bei ihm
der im Buddhismus seltene Fall eintritt, daß das Ich bejahtes
Prädikat ist. Das Subjekt ist dann aber nichts Endliches: dem
Element der Gegebenheiten (dharmadhätuh) wird Reinheit, Ich,
Wonne und Ewigkeit zuerkannt4. Zum Vergleich sei angeführt:
Wenn im Ätmaväda Negationen vorkommen, ist das Prädikat
etwas Endliches, z. B.: „Das Ich ist nicht der Körper".
2. Hmayäna und Mahäyäna.
Die deutsche Sprache hat den Vorteil, durch eine wohl in der
Natur der Sache liegende Mehrdeutigkeit der Begriffe den Gegen-
satz Hmayäna—Mahäyäna auf eine einfache Formel bringen zu
können. Man kann nämlich das Hinayäna (kleines Fahrzeug) den
realistischen, das Mahäyäna (großes Fahrzeug) den idealistischen
Buddhismus nennen. Der Realismus des Hinayäna gilt erstens
hinsichtlich der nüchternen Einstellung zum praktischen Ziel
(Ideal des Arhat) und zweitens hinsichtlich der theoretischen
Auffassung der Wirklichkeit : Realität der Gegebenheiten und
Transzendenzfeindlichkeit (konsequent negative Durchführung des
Anätmaväda). Der Idealismus des Mahäyäna gilt erstens hin-
sichtlich der Begeisterungsfähigkeit und Opferbereitschaft (Ideal
des Bodhisattva) und zweitens hinsichtlich der theoretischen Auf-
fassung der Wirklichkeit: Irrealität der Gegebenheiten und —
falls der Anätmaväda nicht dialektisch aufgehoben wird — opti-
mistischer Versuch einer Beschreibung des Absoluten und dessen
personaler Explikation (neue Buddhologie).
Die Hauptbegriffe des Mahäyäna wie Mitleid und Zaubertrug
(mäyä) finden sich zwar schon im alten Kanon5, aber der große
Aufbruch zu Beginn unserer Zeitrechnung ist aus diesen Ansätzen
allein nicht erklärbar. Die Polemik gegen das Hmayäna war
zunächst scharf und Ausdruck der idealistischen Grundhaltung,
von der aus die Charakteristika des kleinen Fahrzeugs sämtlich
zu verurteilen waren. Das Wort für dessen Anhänger, £rävaka
(Hörer), nahm damals fast den Unterton von „Spießer" an. Mit
der Zeit verlor sich jedoch der Elan des Anfangs und die ursprüng-
4 Siehe Frauwallner PB S. 256.
5 Mitleid z. B. Majjh. I p. 169, 6; Zaubertrug z. B. Samyuttanikäya
22, 95, 105.