Table Of ContentStudienbiicher zur Sozialwissenschaft Band 13
Gabor Kiss . Einfiihrung in die soziologischen Theorien I
Gabor Kiss
Einfiihrung in die
soziologischen Theorien I
Vergleichende Analyse soziologischer
Hauptrichtungen
3., verbesserte Auflage
\~estdeutscher Verlag
Erste Auflage 1972
Zweite Auflage 1974
Dritte, verbesserte Auflage 1977
© 1972 Westdeutscher Verlag GmbH, Opladen
Softcover reprint of the hardcover 3rd edition 1972
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ISBN-13:978-3-53 1-21 088-9 e-ISBN-13:978-3-322-86536-6
DOl: 10.1007/978-3-322-86536-6
Vorwort
Die vorliegende Arbeit wurde im Juli 1970 als Habilitationsschrift der Sozial
wissenschaftlichen Abteilung der Ruhr-Universitat in Bochum vorgelegt.
Zu Dank bin ich vor aHem meiner Frau fiir ihre ·Unterstiitzung, Professor
Harry Hoefnagels (Nijmegen) fiir seine Anregungen und me in en Studenten
verpflichtet, die durch eine aufgelockerte Diskussionsatmosphare in vieler
Hinsicht dazu beigetragen haben, den Verfasser zur Dauerreflexion iiber die
Problematik anzuregen.
Bochum, Januar 1972 Gabor Kiss
Ruhr-Universitat
Abt. f. Sozialwissenschaften
Inhaltsverzeichnis
Einleitung 9
I. Vernun/trechtlich orientierte Gesellscha/tstheorien 19
1. Hobbes:
1. »Der Mensch ist des Menschen Wolf« .................... 19
2. Das Problem der sozialen Ordnung soli durch Vert rag mit
Dritten (Herrscher) gelOst werden ...................... 20
2. Rousseau:
1. Die Ursachen der sozialen Ungleichheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 25
2. Losung durch Herrschaft des Allgemeinwillens (Gesellschafts-
vertrag) .............................................. 31
3. Kant:
1. Die dualistische Natur des Menschen und die Bedingungen der
Emanzipation (Rechtsstaatlichkeit und politische Miindigkeit) 34
2. Die Dreistadienlehre von Kant: vom Naturzustand zum recht-
lich-biirgerlichen und zum ethisch-biirgerlichen Zustand ...... 38
Zusammen/assung .......................................... 45
II. Liberalistisch orientierte Gesellscha/tstheorien .................. 60
1. Locke:
1. Die von seiner Bediirfnisnatur gelenkte Lernfahigkeit und
Rationalitat des Menschen (Voraussetzungen der politischen
Emanizipation) ........................................ 60
2. Die primare Rolle der gesellschaftlichen Institutionen gegen-
iiber dem Staat ...................................... 63
2. Die Physiokraten (1756-1778): Die Lehre von der Herrschaft
der Natur:
1. Die soziale Ordnung folgt Naturgesetzen und ist nicht "mach-
bar" ................................................ 68
2. Produktive, sterile und disponible Klasse: soziale Schichtung
nach okonomischen Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 70
6
3. Smith:
1. Die Arbeitsteilung ist die wirkliche QueUe des sozialen Fort-
schritts .... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 73
2. Wirtschaft und Moral: die Beschrankung des Eigennutzes durch
die von »moralischen Gefiihlen« bedingte Gegenseitigkeit
sozialer Verhaltensweisen .............................. 79
ZusammenJassung .......................................... 86
Ill. Dialektisch orientierte Gesellscha/tstheorien .................... 98
1. Hegel:
1. Der Idealismus in der Dialektik: die Bewegungsformen des
BewuBtseins .......................................... 98
2. Die GeseUschaft als »System der Bediirfnisse« - Staat als
»Wirklichkeit der sittlichen Idee« ........................ 114
2. Marx:
1. Der Materialismus in der Dialektik: die Prioritat der objekti-
ven Realitat .......................................... 125
2. Das okonomische Bewegungsgesetz der Geschichte: Typologie
der GeseUschaftsformationen (von urwiichsigen Gemeinschaften
zum Sozialismus) ...................................... 142
3. Marxens Klassentheorie: Klassengesellschaft = Herrschaft
kraft Verfiigung iiber Kapital .......................... 163
Zusammen/assung .......................................... 172
IV. Anarchismus (Zusammenfassende Darstellung) .................. 186
I. Negativer Anarchismus .................................. 196
II. Positiver Anarchismus 212
V. Positivismus ............................................... 222
1. Montesquieu:
1. Die Staatsverfassungen leiten sich »von der Natur der Dinge«
ab .................................................. 222
2. Saint-Simon:
1. Die »positive« Methode und pragmatische Funktion der Ge-
sellschaftslehre ........................................ 225
2. Der soziale Fortschritt hangt von den Sachzwangen des Indu-
strialismus ab ......................................... 228
7
3. Das Gesellschaftsmodell von Saint-Simon: miiBiggehende und
produktive Klassen .................................... 232
3. Comte:
1. Fortschritt durch intellektuelle Emanzipation zu einem »posi-
tiven Stadium« .................................... " 237
2. Grundkrafte der sozialen Bewegung: Statik (Ordnung) und
Dynamik (Fortschritt) .................................. 248
3. Wissenschaftliche Voraussicht ............................ 252
4. Spencer:
1. Die Bewegungsprinzipien der Gesellschaft: Wachstum, struk-
turelle Differenzierung und funkti'onale Interdependenz .... 253
2. Sozialwissenschaftliche Methode ........................ " 263
3. Evolutionstheorie: primitive, militarische und industrieUe
Gesellschaftstypen .................................... 265
Zusammen/assung .......................................... 277
Person enr egister ................................................ 296
Sach register .................................................... 298
Verzeichnis der in den Anmerkimgen zitierten Literatur .............. 302
8
»Jeder von uns ... in der Wissensdtaft weiS, daB das, was er ge·
arbeitet hat, in 10, 20, 50 Jahren veraltet ist. Das ist das Schidtsal,
ja: das ist der Sinn der Arbeit der Wissensdtaft, dem sie, in ganz
spezifiswem Sinne gegenilber allen anderen Kulturelementen, filr
die es sonst nom gilt, unterworfen und hingegeben ist: jede lVissen
schaftliche .Erflillong" bedeutet neue .Fragen" und will .liberboten"
werden und veraltern. Damit hat sich jeder abzufinden, der der
Wissenschaft dienen will ... Wir konoen nimt arbeiten, ohoe zu
hoffen, daB andere weiter kommen werden als wir.«
(Max Weber: Soziologie, Analyse, Politik, Stuttgart 1956 (Kroner),
S. 315 f.)
Einleitung
Die vorliegende Abhandlung ist eine historisch orientierte vergleichende
Analyse gesellschaftstheoretischer Hauptrichtungen: Sie ist aus dem Wunsch
entstanden, durch einen Vergleich der bedeutendsten theoretischen und me
thodologischen Positionen seit dem 17. Jahrhundert auf Grund schwerpunkt
maBiger Selektion sowohl ein Optimum an Orientierungswissen zu vermit
teln, als auch neue und gegenwartsbezogene Akzente in der Geschichte sozio
logischen Denkens zu setzen.
Urn den von Georg C. Homans als »allgemein bekanntes Chaos« bezeich
neten Gegenstand der Wissenschaft Yom mensch lichen Verhalten 1 trotz der
immensen Hille von Publikationen sowohl wissenschaftlich vertretbar als auch
didaktisch brauchbar zu systematisieren, sollen die einzelnen theoretischen
Positionen nicht nur in Abgrenzung zu anderen, sondern auch in sich zusam
menhangend behandelt und erst in den jeweiligen »2usammenfassungen«
schwerpunktmaBig verglichen und gewertet werden. Urn dieser doppelten
Aufgabe der Systematisierung und Gewichtung gerecht zu werden, muB eine
rigorose Selektion im Sinne der Reduktion von Wissenkomplexitat vorgenom
men werden:
1. Die gesamte Abhandlung besteht aus zwei Banden 2: der erste umfaBt die
wichtigsten Gesellschaftstheorien seit dem Beginn der Industrialisierung bis
ca. 1900; der zweite Band behandelt die theoretischen Hauptrichtungen der
Soziologie als einer relativ eigenstandigen Disziplin seit (ca.) 1900 bis zur
Gegenwart (1970).
Die Bestimmungskriterien einer Hauptrichtung sehen wir in den fUr die ein
zelnen theoretischen Posiuonen charakteristischen methodologischen Ansatzen:
Die Systematisierung des Materials erfolgt also auf der Grundlage der spezi
fischen Art und Weise, wie Gesellschaft gesehen und von welchem Ansatz her
sie gedeutet wurde. Man kann generell in der Entwicklung soziologischer
Theorien zwischen einem ontologischen und einem funktionalen System-
1 Elementarformen sozialen Verhaltens, Koln-Opladen 1968, S. 1.
2 Goplant ist (flir 1978) ein dritter Band, der die folgenden Theorieansatze thematisieren
5011: Marxismus im Westen, Interaktionstheorie, Politisdte Psychologie, Kommunikations~
theorie und funktional-strukturelle Systemtheorie.
9
begriff unterscheiden 3, deren letzterer ein Produkt des 20. Jahrhunderts ist.
In der Tradition alterer Gesellschaftstheorien - die auch heute noch fort
lebt - versuchte man bis ca. 1900 das soziale System als eine interne Ord
nung der Beziehungen von Teilen zueinander und zum Ganzen zu deuten;
seit dieser Zeit zeichnete sich - mit Ausnahme marxistischer und dialek
tischer Gesellschaftstheorien - eine allmahliche Abkehr Yom ontologischen
Systembegriff durch formalsoziologische (Kap. VII) und analytische (Kapi
tel VIII) Deutungen abo Auf der Grundlage dieser Analysen bildete sich der
funktionale Systembegriff als eine der Interpretationsmoglichkeiten der ver
anderten sozialen Wirklichkeit im 20, Jahrhundert heraus und versuchte so
wohl die gesamtgesellschaftlich gesteuerten Bedingungen individuellen und
gruppenhaften Verhaltens als auch die intcraktionistisch gesteuerten Einfliisse
auf die gesamtgesellschaftliche Funktionsweise in einem strikt interdepen
denten Zusammenhang theoretisch in den Griff zu bekommen. Noch in An
lehnung an die Konzeption der kategorialen Erfassung von Systemen als eine
strukturell gepragte Relation zwischen den Teilen und dem Ganzen, begriff
Parsons - der als reprasentativer Vertreter der ersten gleichgewichts-theore
tisch en Richtung in der Soziologie gilt (urn 1950) - das soziale System zwar
aus sich heraus bestehend, bezog aber die Umwelt, wenn auch nur als Quelle
von Storungen, schon mit in sein Konzept ein. Weitere Entwicklungsetappen
funktional orientierter Systemtheorien sieht Luhmann in den theoretischen
Konzepten »umweltoffener« und kybernetischer Systeme 4.
Urn die Zasur zwischen den beiden Teilen un serer Abhandlung »um 1900.
zu begriinden war es notwendig, auf die (oben erwahnten) Aspekte del
Neuorientierung in der Gesellschaftsbetrachtung kurz hinzuweisen. Eine
strikte Trennungslinie zwischen den einzelnen Hauptrichtungen zu ziehen ist
unmoglich: Die konkurrierenden Auffassungen zwischen einem ontologischen
oder funktionalen Ansatz, zwischen dialektischer oder positivistischer Sicht
weise, oder die Auseinandersetzungen zwischen primar strukturalistischen
oder primar funktionalistischen Position en beherrschen das Feld wissenschaft
licher Kontroversen. Die vorliegende Darstellung will eine Briicke zwischen
Vergangenheit und Gegenwart bauen, indem sie versucht, die Kernprobleme
aus der Sicht der verschiedenen Positionen her zu beleuchten und eine Syste
matisierung vorzunehmen, die auf die Zusammenhange theoriegeschichtlicher
Aspekte Riicksicht nimmt.
3 Vgl. Luhmann: Moderne Systemtheorien ais Form gesamtgesellsmaftlimer Analyse, in:
Habermas, J. - Luhmann, N.: Theorie der Gesellsmaft oder Sozialtemnologie, Frankfurt
a. M. 1971, S. 10 (und S. 10 f.).
4 In den Gleimgewimtstheorien wird der Einflufl der aus der Umweltkomplexitat resultieren·
den systemverandernden Prozesse entweder vom Gesichtspunkt ihrer Kompensierbarkeit
oder nur in ihrer Negativitat (Storung) aufgefaflt; .Die Theorie der umweltoffenen
Systeme - sagt Luhmann - die davon ausgeht, dafl Systeme sim nur durm Unterhaltung
und selektive Steuerung von Austausmprozessen mit der Umwelt erhalten konnen (stellen)
die Interdependenz von System und Umwelt bereits ais etwas Normales (dar), und nimt
als Mangel ... Kybernetische SystemtheoTien, die das Verhaltnis zwismen System und
Umwelt als eine Differenz in Komplexitat begreifen, (sehen) die Umwelt ais iibermaflig
komplex an. Ein System muG, wenn es sidt erhalten will, seine eigene Komplexitat zu der
der Umwelt in ein Verhaltnis der Entspremung (durdt verstlirkte Selektividlt) bringen .. ,«
(Habermas - Luhmann, op. cit. S. 10).
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