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Titel der Originalausgabe: Ein Jahr in Prag
Auswandern auf Zeit
© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2016
Alle Rechte vorbehalten
www.herder.de
Umschlaggestaltung: Designbüro Gestaltungssaal
Umschlagmotiv: © TTstudio – shutterstock
E-Book-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig
ISBN (E-Book): 978-3-451-80765-7
ISBN (Buch): 978-3-451-06862-1
Für Anna A. und Frieda M.
Inhalt
Auf dem Weg
Oktober
Strč prst skrz krk!
November
Nä!
Dezember
Festgefroren
Januar
In die Magengrube
Februar
Kämpfer und Bafler
März
Mišmaš
April
Osterrutenemanzipation
Mai
Integrationsversuche
Juni
Zu Mann und Frau
Juli
Im Gleichgewicht
August
Sanftes Hügelland
September
Zemský ráj to na pohled
Nachwort
Und nun?
Auf dem Weg
Wir passen überhaupt nicht zusammen, diese Stadt und ich. Ich
rauche nicht, mag kein Bier und esse kein Fleisch. In Prag habe ich
schon Glück, wenn im Restaurant während der Mittagszeit nicht
gequalmt wird, und der Präsident des Landes ist bestimmt nicht der
einzige Tscheche, der Vegetariern und Abstinenzlern öffentlich den
Tod wünscht. Außerdem mag ich Katzen und Berge; in Prag gibt es
vor allem Hügel und Hunde. Und ich fühle mich wohl, wenn es
sauber ist. Wenn keine Essensreste am Besteck kleben oder in einer
Küche gelegentlich mal durchgewischt wird. In Prag kann man nicht
immer und überall vom Boden essen.
Trotzdem sitze ich jetzt im IC-Bus der Deutschen Bahn, auf dem
Weg nach Osten. Denn es gibt etwas in dieser Stadt, das mich
immer wieder in ihren Bann zieht. Seit ich das erste Mal zwei Tage
hier verbracht habe – vor mehr als zehn Jahren war das, während
einer Konzertreise mit einem Jugendorchester – löst allein ihr Name
ein schwer zu bändigendes Gefühl der Sehnsucht in mir aus. An den
Aufenthalt damals kann ich mich kaum erinnern, nur an ein kleines
Bild, das ich auf der Karlsbrücke für ein paar Kronen gekauft habe:
Die Moldau mit ihren Brücken war darauf zu sehen, in orange-gelbes
Abendlicht getaucht. Und an ein paar Stunden, die wir unter den
blühenden Bäumen des Laurenzibergs (tschechisch Petřín)
verbrachten. Das unbeschwerte In-der-Sonne-Liegen-und-den-
Klängen-der-Stadt-Lauschen und ein magisches Glitzern, gepaart
mit der mächtigen Kraft des Flusses: Das war, was ich mit Prag
verband und was mich, nachdem ich so etwas Ähnliches wie
erwachsen geworden war, jedes Mal unheilbar melancholisch
werden ließ, wenn ich an die Stadt dachte.
Dreimal hatte es mich seitdem schon zurückgezogen. Dreimal war
ich für ein paar Wochen in Prag, um ein Praktikum zu machen. Und
dreimal stand ich am Ende meines Aufenthalts im imposanten
historischen Hauptbahnhof, vor dem der Bus nach Nürnberg und
München abfährt. Jedes Mal habe ich die lateinische Inschrift
„PRAGA – mater urbium“ angestarrt, die Prag zur „Mutter aller
Städte“ macht. Ich habe die Menschen beobachtet, die unter meinen
Füßen zu ihren Zügen eilten und habe über die in Stein gemeißelte
Jahreszahl 1918 nachgedacht (das Jahr, in dem meine Oma ihren
ersten Geburtstag feierte und in dem die Tschechen zusammen mit
den Slowaken ihre erste eigene Republik gründeten). Und jedes Mal
habe ich geheult, weil mir der Abschied so schwer fiel.
Diesmal ist es anders. Diesmal habe ich mir vorgenommen, ein
Jahr in Prag zu leben, mir unendlich viel Zeit für die Stadt zu
nehmen, die Tschechen und ihre Sprache so richtig kennenzulernen.
Ich habe mein Studium gerade beendet und eine Stelle bei der
deutschsprachigen „Prager Zeitung“ bekommen. Aber ausgerechnet
diesmal habe ich gar keine rechte Lust, so lange zu bleiben. Denn
vor der Abreise habe ich mich zu Hause noch schnell in einen Typen
verliebt, der nun ebenso sehnsüchtig auf meine Rückkehr wartet wie
ich jeden Abend auf seinen Anruf. Ich hätte die Stelle auch ablehnen
können. Aber nach nur ein paar Wochen Beziehung hielt ich es für
keine gute Idee, seinetwegen auf Prag zu verzichten. Und außerdem
war ich trotzig, weil ich in Deutschland nur Absagen auf meine
Bewerbungen bekommen hatte. Ich durfte zwar für mickrige
Zeilenhonorare als freie Journalistin arbeiten, eine ordentlich
bezahlte Stelle wollte mir aber trotz besten Praktikumszeugnissen
und super Masterabschluss niemand geben. Wenn Deutschland
mich nicht haben will, dann will ich es jetzt auch nicht mehr,
beschloss ich – vielleicht etwas überstürzt – nach einem besonders
schmerzhaften „Vielen Dank für Ihre Bewerbung. Wir bedauern,
Ihnen mitteilen zu müssen …“.
Jetzt, nicht einmal zwei Monate später, starre ich durchs
Busfenster auf Wiesen und Wälder. Die Grenze haben wir bereits
passiert, ohne dass ich es bemerkt habe. Nur mein Handy heißt
mich per SMS lautlos „Willkommen in Tschechien“.
Oktober
Strč prst skrz krk!
In meiner ersten Prager Nacht hatte ich nur zwei Gedanken: Wo
kann ich am besten gleich morgen eine Matratze kaufen, und wie
transportiere ich sie mit tramvaj und metro (so die Prager
Bezeichnungen für Straßen- und U-Bahn) nach Hause? Von der
möblierten Einzimmerwohnung in der Nähe des Karlsplatzes
(Karlovo náměstí) war ich sofort begeistert. Mein Vermieter war ein
leidenschaftlicher Hobbyhandwerker und hatte sie nicht mit
deutscher Gründlichkeit, dafür aber mit umso mehr Liebe zum Detail
in einen gemütlichen Rückzugsort verwandelt. Tisch und Kommode
hatten Holzwurmspuren und kamen offenbar vom Flohmarkt oder
einer Wohnungsauflösung. Ansonsten hatten sie nichts gemeinsam.
An der Wand hing eine Toskana-Landschaft neben schneebedeckten
Prager Dächern. Weder der Stil der Gemälde noch ihre Rahmen
passten zusammen. Das Bett stand zwischen zwei Schränken – der
eine antik verschnörkelt, der andere quadratisch, praktisch,
kommunistisch. Sie waren so angeordnet, dass sie ein Mini-
Schlafzimmer bildeten. Ich betrat es durch eine improvisierte
Schwingtür aus zwei farblich verschiedenen Holzbrettern. Das
Zimmer war ein Graus für jeden Perfektionisten und eine Höhle, in
die ich unbedingt einziehen wollte. Einziger Schwachpunkt war –
und das merkte ich erst jetzt – die durchgelegene Matratze. Ich
spürte die ganze Nacht über jede einzelne Strebe des Lattenrostes.
Mein Rücken schmerzte, und ich überlegte, ob ich den Kauf einer
Matratze problemlos auf Tschechisch bewältigen könnte. Mit meinem
chytrý telefon (die Tschechen übersetzen Smartphone und ähnliche
Begriffe oft wörtlich) googelte ich Matratzengeschäfte in der Nähe.
Die Verbesserung meiner Schlafsituation rutschte im Laufe der
nächsten Tage immer weiter nach unten auf der Prioritätenliste.
Zuerst wollte ich mich anmelden, damit alles seine Ordnung hat. Als
EU-Bürgerin brauche ich zwar weder eine Arbeitserlaubnis noch
eine Aufenthaltsgenehmigung, aber die Behörden hier wollen
trotzdem informiert werden, wenn man sich mehr als drei Monate in
ihrem Land aufhält. Welches Amt in meinem Fall das richtige war,
blieb mir auch nach gründlicher Recherche ein Rätsel: Die Angaben,
die ich im Internet fand, waren widersprüchlich und deckten sich
nicht mit den Erfahrungsberichten meiner Kollegen. Offenbar war je
nach Stadtbezirk eine andere Dienststelle zuständig, was aber nicht
hieß, dass die auch nur annähernd in der Nähe dieses Bezirks lag.
„Wir leben halt in einem Land ohne Regeln“, sagte unser Fotograf
Ondřej, den ich in meiner Verzweiflung um Rat fragte. Obwohl
Ondřej schon seit Jahren für die „Prager Zeitung“ arbeitet, spricht er
kein Wort Deutsch. Den Versuch, schwierige tschechische Sätze zu
formulieren, belohnt er dafür meist mit einem anerkennenden
Nicken. Wenn er gute Laune hat. Außerdem distanziert sich Ondřej
gerne von seinen Mitbürgern. Wenn er sagt, Tschechien sei ein Land
ohne Regeln, dann meint er damit nämlich keinesfalls sich selbst. Er