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Anleitung zur empirischen Hermeneutik:
psychoanalytische Textinterpretation als
sozialwissenschaftliches Verfahren
Leithäuser, Thomas; Volmerg, Birgit
Veröffentlichungsversion / Published Version
Monographie / monograph
Empfohlene Zitierung / Suggested Citation:
Leithäuser, T., & Volmerg, B. (1979). Anleitung zur empirischen Hermeneutik: psychoanalytische Textinterpretation
als sozialwissenschaftliches Verfahren. (Edition Suhrkamp). Frankfurt am Main: Suhrkamp. https://nbn-resolving.org/
urn:nbn:de:0168-ssoar-10632
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edition suhrkamp
Redaktion: Günther Busch
Thomas Leithauser, geboren 1939, ist Professor für Entwicklungspsycho-
logie an der Universität Bremen. Wichtige Veröffentlichungen: Formen
des Alltagsbewußtseins 1976; Kapitalistische Produktion und VergeseU-
schaftung des Alltags, in Produktion, Arbeit, Sozialisation 1976; mit Birgit
Volmerg U. a., Entwurf zu einer Empirie des Alltagsbewußtseins 1977.
- Birgit Volmerg, geboren 1949, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der
Hessischen Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung, Frankfurt.
Wichtige Publikationen: Kritik der Verfahren psychoanalytischer Textin-
terpretation 1975; Die Vergesellschaftung psychopathologischer Struktu-
ren im Produktionsprozeß, in: Produktion, Arbeit, Sozialisation 1976; mit
Thomas Leithauser U. a., Entwurf zu einer Empirie des Alltagsbewnßt-
seins 1977.
Qualitative Interpretationsmethoden wurden in den Sozialwissenschaf'
ten bisher nur wenige entwickelt. Die Methode der qualitativen Inhalts-
anaiyse als empirische Ideologiekritik bleibt unzureichend, sie vermag
ihrem Gegenstand, dem gesellschaftlichen Bewußtsein, nicht wirklich
gerecht zu werden. Gesellschaftliches Bewußtsein entsteht auch und
erhält sich in vielfältigen Sozialisationsprozessen. Diese bilden die subjek-
tive Seite des gesellschaftlichen Bewußtseins. Wie die empirischen Unter-
suchungen zum Alltagsbewußtsein zeigen, treten die subiektiven Struktu-
ren den vGgegebenen ideoLgischen ~nhalten'desB ewußtseins
heute in den Vordergrund. Diese subiektiven Strukturen des Alltagsbe-
wußtseins gilt es wiGenschaftlich zu erfassen: das Verstehen des Gsell-
schaftlichen Gehalts bedarf einer Tiefenhermeneutik. In ihrem Buch
entwickeln die beiden Wissenschaftler ein tiefenhermeneutisches Verfah-
ren der Textinterpretation, mit dessen Hilfe subjektive Strukturen in
Texten erschlossen werden können. Das ausschließlich mit dem Individu-
um befaßte Verfahren der Psychoanalyse wird abgewandelt, seine naive
Anwendung auf Texte kritisiert. An Beispielen werden der besondere
~e~enstanddpesry choanalytischen ~extinier~retatiofrnei gelegt und die
einzelnen Schritte des Interpretationsverfahrens dargestellt.
?
Themas Leithauser, Birgit Volrnerg
Anleitung zur empirischen
Hermeneutik
Psychoanalytische Textinterpretation
als sozialwissenschaftJiches Verfahren
Suhrkarnp Verlag
Die hier vorgelegte Arbeit wird im Schriftenverzeichnis der Hessischen Stiftung für
Friedens- und Konflikdorschung als HSFK-Studie Bd. 1/1979 geführt.
edition suhrkamp 972
Erste Auflage 1979
O Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1979. Erstausgabe. Printed in Germany.
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Ubersetzung, des öffentlichen Vor-
trags und der Ubertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.
Satz, in Linotype Garamond, Druck und Bindung bei Georg Wagner, Nördlingen.
Gesamtausstattung Willy Fleckhaus.
Inhalt
Vorbemerkung 7
I. Einleitung. Von der Ideologiekritik zur Psychoanalyse
des Alltagsbewußtseins 9
I. Praxis, Sprache, Bewufltsein 9
2. Der Zerfall des ideologischen Bewußtseins 31
3. Die gesellschaftliche Struktur des Textes 46
11. Der Gegenstand der psychoanalytischen
Textinterpretation j 6
I. Sprachspiele im Text. Ein Interpretationsbeispiel j6
2. Die Aufspaltung des Sprachspiels in der Interaktions-
praxis 77
3. Die Funktion der Protosymbole im deformierten Sprach-
spiel 96
4. Objektiver und subjektiver Sinn 108
111. Text und Persönlichkeitsstniktur 120
IV. Regeln und Gültigkeit des tiefenhermeneutischen
Textverstehens 149
I. Verstehen als hermeneutisches Sprachspiel 149
2. Methodische Schritte der Rekonstruktion 163
' Vorbemerkung
Es gibt bisher nur wenige Versuche in den Sozialwissenschaften,
qualitative Interpretationsverfahren zu entwickeln und auszubau-
.
en, obwohl letztlich alle empirischen Untersuchungen, auch die-
jenigen, die mit ausgefeilten statistischen Methoden arbeiten, auf
die qualitative Interpretation ihrer Ergebnisse angewiesen sind.
Die Interpretation läßt sich nicht durch die Quantifizierung der
Forschungsschritte ersetzen und überflüssig machen. Alle quanti-
tativen Ergebnisse bedürfen der Interpretation, damit sie zu
Erkenntnissen führen.
Unsere Arbeit gilt dem Versuch, die psychoanalytische Textin-
terpretation, die bisher mehr oder weniger am Rande der Litera-
tur-, Kunst- und Geschichtswissenschaften betrieben und gedul-
det wurde, zu einem sozialwissenschaftlichen Verfahren zu ent-
wickeln. Es wäre allerdings eine sinnlose Unternehmung, ein
hermeneutisches Verfahren als unabhängige Methode konstru-
ieren zu wollen, die auf alles und jedes im sozialwissenschaftli-
chen Gegenstandsfeld anwendbar ist - gewissermaßen als Kon-
trapunkt zu den statistischen Methoden. Hermeneutik läßt sich
weder als eine generelle Methode instrumentalisieren noch als
technisches ~achwissenle hren und lernen. Deshalb heißt unser
Buch Anleitung zur empirischen Hermeneutik. Hermeneutische
Verfahren sind immer auch abhängig von den Gegenständen, die
sie interpretieren, und von den Personen, die interpretieren.
Solche Abhängigkeiten sind nicht auflösbar; sie sind vielmehr, auf
die jeweilige Interpretation bezogen, in einem metahermeneuti-
schen Diskurs zu reflektieren und durchschaubar zu machen. So
können Fehlinterpretationen korrigiert und unvollständige Inter-
~retationene reänzt werden. Ein solcher hermeneutischer Dis-
kurs bedarf eLer besonderen wissenschaftlichen Organisation ,
der Inter~retation.d eren Form wir in unserem Buch skizzieren.
Das vin uns entwickelte Verfahren der psychoanalytischen
Textinterpretation ist eng verknüpft mit der empirischen Unter-
suchung des Alltagsbewußtseins und der Untersuchung der all-
täglichen Rede. In der Einleitung wird dieser Untersuchungsge-
genstand (noch einmal) auf einer gesellschaftstheoretischen Ebene
geklärt. Dabei sollte, so hoffen wir, auch deutlich werden, daß
dieser gesellschaftstheoretische Ansatz nicht auf eine bloße Hy-
pothesenbildung für empirische Expertisen reduzierbar ist. Her-
meneutik ist keine ErMarungswissenschaft. Das heißt nun freilich
nicht, daß wir für einen Primat der Theorie gegenüber der
Empirie plädieren. Vielmehr haben in unserem theoretischen
Verständnis empirische Untersuchungen gegenüber der Theorie
durchaus ihre Selbständigkeit. Diese konstituiert sich auf einer
Ebene der Unmittelbarkeit, die sich in ihren vielen Besonderhei-
ten theoretisch nicht zur Darstellung bringen läßt.
Wir haben gemeinsam mit Gunther Salje, Ute Volmerg und
Bernhard Wutka in dem Sammelband Entwurf zu einer Empirie
des Allta~sbewußtseinsd iese Probleme in der Sicht der Konstruk-
tion emGrische; Erhebungsmethoden für das Alltagsbewußtsein
diskutiert. So ist denn dieses Buch unter anderem als ein Ergebnis
der beiden Forschungsprojekte anzusehen: »~icherheitsbeZürfnis
und Konfliktverarbeitung. Eine sozialpsychologische Untersu-
chung zum Ost-West-Konflikt«, das an der Hessischen Stiftung
für Friedens- und Konfliktforschung von der Berghof-Stiftung
für Konfliktfor~chung~e fördert wird, und »Subjektive Folgen
von Erfahrungs- und Kommunikationseinschränkungen in re-
striktiven sozialen Situationen am Beispiel der Fernsehsituationa,
das über die Zentrale Forschungskommission der Universität
Bremen gefördert wird. Im Rahmen dieser eng miteinander ko-
operierenden Projekte finden Gruppendiskussionen statt, deren
Texte (Protokolle) von uns psychoanalytisch interpretiert wer-
den. So wird z. B. an einem Textbeispiel aus einer Gruppendis-
kussion des ersten Projekts das Verfahren der psychoanalytischen
Textinterpretation erprobt und exemplifiziert.
Im übrigen ist dieses Buch als eine wesentliche Erweiterung der
Studie Kritik der Verfahren psychoanalytischer Textinterpretation
(Birgit Volmerg) und in wichtigen Teilen als eine sprachphiloso-
phische Präzisierung theoretischer Thesen aus Formen des All-
ta~sbewußtsein(sT hemas Leithauser) zu verstehen. Wir möchten
miUt unserer Arbeit ein Stück gemeinsamer Forschung dokumen-
tieren, von der wir glauben, daß sie auch künftig zu interessanten
empirischen und theoretischen Entdeckungen führen wird.
Wir danken an dieser Stelle Frau Herma Merkelbach, die durch
genaue und korrekte Abschrift des Manuskripts unsere Arbeit
erheblich erleichtert hat.
Thomas Leithäuser, Birgit Volmerg
I. Einleitung. Von der Ideologiekritik zur
Psychoanalyse des Alltagsbewußtseins
I. Praxis, Sprache, Bewußtsein
Gesellschaftswissenschaftler sind auf der Suche nach neuen Me-
thoden, um sich mit alten Problemen auseinanderzusetzen; dies
geschieht nicht zuletzt deshalb, weil die alten Probleme weiter-
hin ungelöst sind. Zwei eng miteinander verknüpfte Gründe sind
insbesondere zu nennen, warum dies so ist. Erstens sind gesell-
schaftliche Probleme in einem hohen Grade komolex: zu ihrem
Verständnis bedarf es einer differenzierenden ~etkoded,e r Ent-
wicklung möglichst realitätshaltiger Kategorien. Zweitens sind
gesellschaftliche Probleme nicht stillgestellte Probleme; sie unter-
liegen der historischen Veränderung. Diese Veränderungen selbst
und ihr Verhältnis zu anderen gesellschaftlichen Problemlagen
gilt es ebenfalls zu erfassen. Damit ist ein Dermanenter Pers~ekti-
0
venwandel in den Sozialwissenschaften gesetzt.
Unser Gegenstand den wir zunächst elnmal ganz allgemein als
das nesellsch&~ewußtsein bezeichnen wollen, ist sowohl
komplex als auch dauernder Veränderung unterworfen. Dies mag
weniger für die einzelnen Inhalte des Bewußtseins gelten als für
seine Formen und den jeweiligen Stellenwert, den es zu anderen
gesellschaftlichen Ebenen gewinnt."
Solche Formen sind z. B. Mythen, Mythologien, Kosmogo-
nien, Ideologien und, wie wir für die heutige Phase des Spätkapi-
talismus zeigen wollen, das ~#$agsbewußtsein.' Wir würden
allerdings miflverstanden, entstünde der Eindruck, wir wollten
gesellschaftliche Bewußtseinsformen losgelöst vom gesellschaftli-
chen Gesamtzusammenhang untersuchen. Vielmehr geht es uns
um die Bedeutung, die Bedeutungsänderungen genau in diesem
Gesamtzusammenhang. Gesellschaft ist nach Marx »vergegen-
ständlichte Praxisu., und Bewußtsein ist in & als S~rache
vermittelt._iheser These wollen wir nachgehen. Bewußtsein is;
ein gesellschaftliches Produkt. Es ist nicht unabhängig, völlig
abgelöst, sondern nur verselbständig von gesellschaftlichen Pro-
* Die Verselbständigung und die Veränderung der Form gegenüber ihrem Inhalt
sprengen keineswegs eine Form-Inhalt-Dialektik, sondern zeichnen als Momente
den Weg dieser Dialektik, die auch den Inhalt nicht unverändert I'aßt.
zessen denkbar. Nur durch die vielfältigen sprachlichen Artikula-
tionen - vom ungeschlachten Schrei bis hin zum subtilen inneren
Dialog - gewinnt Bewußtsein eine faßbare Struktur in stabilen
Formen. Nicht artikuliertes Bewußtsein ist nicht bewußt. Es ist
bewußtseinsfahig oder, im Unterschied dazu, unbewußt.
*Die Sprache ist so alt wie das Bewußtsein - die Sprache ist das
praktische, auch für andere Menschen existierende, also auch für mich
selbst erst existierende wirkliche Bewußtsein, und die Sprache entsteht,
wie das Bewußtsein, erst aus dem Bedürfnis, der Notdurft des Verkehrs
mit anderen Menschen. Wo ein Verh'aknis existiert, da existiert es für
mich, das Tier >verhalt<si ch zu nichts und überhaupt nicht.u2
Die Menschen müssen sich zueinander verhalten, sie müssen
bestimmte Verhältnisse des Verkehrs miteinander schaffen. Dies
geschieht auch im Medium der Sprache und kann nur mit ihr und
in ihr geschehen. $mache ist ~raktischesB ewußtsein; sie fixiert
und regelt das Verhältnis zu den anderen, damit zugleich zu mir
selbst. Deshalb sind wir bei der Untersuchung des gesellschaftli-
chenewußtseins auf dessen praktische Realisation in der Spra-
che angewiesen. Die Sprache gibt uns Auskunft darüber, wie die
Verhältnisse des menschlichen Verkehrs bestimmt, wie sie gere-
gelt sind. Sie pibt aber zugleich Auskunft über das, was in gnem
praktischen Lebenszusammenhang nicht artikuliert wird, üb$r
das Nicht-BewuiSte, aber Bewußtseinsfahige, und sie erteilt Aus--
Kunite - gewiß auf mannigfaltigen Umwegen und oft indirekt
über das Nicht-Artikulationsfähige, das Unbewußte.
Gesellschaftliche Praxis umfaßt sowohl die materielle Produk-
tion als auch die an sie gebundenen Be~ußtseins~rozessael,s
auch viele andeyel nicht unmittelbar an den Produktionsprozefl
gekettete Tätigkeiten. Vergesellschaftung läat sich, so betrachtet,
als die Differenzierung der gesellschaftlichen Praxis in komplexe
Teilbereiche beschreiben. Diese Teilbereiche sind gegeneinander
verselbständigt, sie sind institutionalisiert. So bestimmt Marx die
Gesellschaft als *vergegenständlichte Praxisu. Vergesellschaftung,
Differenzierung der gesellschaftlichen Praxis in vergegenständ-
lichte Teilbereiche, ist einerseits Resultat der fortschreitenden
Arbeitsteilung, andererseits und zugleich die Organisation dieser
Arbeitsteilung. So ist die Unterscheidung von Praxis, Sprache
und Bewußtsein ein Produkt ihrer Vergesellschaftung, ebenso
wie die Trennung von Produktion, Sprache und Bewußtsein.
Die Entwicklung des Kapitalismus hat diese Vergesellschaftung
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