Table Of ContentSchriftenreihe N eurologie - Neurology Series
11
H erausgeber
H. J. Bauer, Gattingen . H. Ganshirt, Heidelberg· P. Vogel, Heidelberg
Beirat
H. Caspers, Munster' H. Hager, GieBen . M. Mumenthaler, Bern
A. Pentschew, Baltimore' G. Pilleri, Bern' G. Quadbeck, Heidelberg
F. Seitelberger, Wien . W. Tannis, Kaln
Bernhard N eundorfer
Differentialtypologie der
Polyneuritiden
und Polyneuropathien
Mit 18 Abbildungen
Springer-Verlag Berlin· Heidelberg' New York 1973
Privatdozent Dr. BERNHARD NEUNDORFER
Oberarzt an der Neuro1ogischen Klinik im Klinikum Mannheim der Universitat Heidelberg
ISBN-13: 978-3-642-65501-2 e-ISBN-13: 978-3-642-65500-5
DOl: 10.1007/978-3-642-65500-5
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@ by Springer-Verlag Berlin' Heidelberg 1973. Library of Congress Catalog Card Number 72-92345
Softcover reprint ofthe hardcover 1s t edition 1973
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Meiner Frau gewidmet
Geleitwort
Voreinigen Jahren fand in einem klein en art nahe Aachen der sog. Contergan
Proze£ statt. Der Disput der von Anklage und Verteidigung gehorten Sachverstandi
gen geriet vor den Gerichtsschranken bald zu einem lebhaften wissenschaftlichen
Streitgesprach, zu einem an falschem Orte tagenden KongreK Dabei ging es urn
zweierlei:
1. urn die Frage der Gen-Beeinflussung durch ein Medikament (hier speziell urn
Contergan),
2. darum, ob Contergan einzig und allein geeignet war, eine Polyneuropathie zu
verursachen.
Die zweite Frage implizierte eine weitergehende: Ob es iiberhaupt ursachen-spezi
fische Polyneuropathien gebe oder ob Polyneuropathien nicht durchweg eine "poly
genetische Reaktionsform" des peripheren Nervensystems darstellen. Diese Frage lie£
sich - versdindlicherweise - juristisch nicht entscheiden. Immerhin wurde sie aber so
provokativ herausgestellt, daB erfahrene Kliniker in ihrer Beantwortung eine Aufgabe
sehen mu£ten - auch wenn friihere Beobachtungen eine solche Antwort bereits vor
weg zu nehmen schienen.
Herr Priv.-Doz. Dr. NEUNDORFER versuchte, anhand eines vielzahligen eigenen
Krankenguts (750 Falle) und zahlreicher Kasuistiken der Weltliteratur (4500 Fall
beschreibungen) die Frage zu klaren, ob Polyneuropathien tatsachlich multifaktoriell
entstehen oder ob deren klinisches Bild durch die jeweilige Ktiologie akzentuiert wird.
Das Ergebnis seiner Untersuchungen war der abgesicherte Nachweis, daB die letzt
genannte Moglichkeit zutreffe. D. h., aus den subtilen klinischen Besonderheiten la£t
sich sehr wohl auf die Ursache einer Polyneuropathie schlie£en - vice versa: Unter
schiedliche Noxen bedingen jeweils charakteristische Auspragungen einer Polyneuro
pathie. Herm Priv.-Doz. Dr. NEUNDORFER ist damit ein fundamentaler Beitrag zum
Thema der Polyneuropathien gelungen. Die fast liickenlose Bearbeitung und Erwah
nung der Weltliteratur la£tdiese Monographie zugleich zu einem Nachschlagewerk
und zu einer Bibliographie der Polyneuritiden werden.
Mannheim, im Herbst 1972 O.HALLEN
Inhaltsverzeichnis
Einleitung 1
I. Allgemeine Symptomatologie 5
A. Alter - Geschlecht - Vererbung 5
1. Alter. . 5
2. Geschlecht 9
3. Vererbung 11
B. Hauptmanifestationstypen . 12
1. Der symmetrisch-sensible Manifestationstyp 12
2. Der symmetrisch-paretische Manifestationstyp 17
3. Manifestationstyp der Mononeuritis multiplex und Schwerpunkts-
polyneuritis 21
c.
Reizerscheinungen 25
1. Sensible Reizerscheinungen 25
2. Spontanschmerzen 29
3. »Burning-feet"-Syndrom 32
4. Hyperaesthesie und Hyperpathie 33
5. Druckschmerzhaftigkeit von Nerven und Muskeln . 33
6. Motorische Reizerscheinungen 35
D. Untersuchungsbefunde . 36
1. Sensibiliditsstorungen 36
2. Motorische Ausfalle . 38
3. Muskelatrophie 46
4. Vasomotorisch-neurotrophische Storungen 46
5. Storungen von Blasen-, Mastdarm- und Sexualfunktion 49
6. Reflexstorungen 50
7. Hirnnervenlahmungen 52
E. Verlaufscharakteristik 59
II. Nosographie 65
A. Die »entziindlichen" Polyneuritiden 66
x Inhaltsverzeichnis
B. Die vascular bedingten Polyneuropathien (unter Einschlug der
Kollagenosen) . 7S
C. Exotoxische Polyneuropathien 80
D. Endotoxisch-metabolische Polyneuropathien (unter Einschlug von Gra
nulomatosen und malignen Prozessen mit Infiltration und Kompression
peripherer Nerven) . 91
Zusammenfassung . 109
Literatur . 110
Sachverzeichnis . 198
Einleitung
Schon immer war es ein Anliegen der medizinischen Forschung, Symptome und
Syndrome so zu analysieren, daB schon aus der Anamnese, Inspektion und korper
lichen Untersuchung der Patienten sofort zumindest gewisse Riickschllisse auf die Ktio
logie gezogen werden konnen. Auf den. ersten Blick ist es nicht ganz abwegig, ein
solches Unterfangen bei Erkrankungen des peripheren Nervensystems als undurch
fiihrbar anzusehen, wenn man bedenkt, wie eintonig doch die morphologische Struk
tur der peripheren Nerven ist, und <welche Vielfalt von Noxen und anderen Storfak
toren dem gegeniiber stehen. Auch die Moglichkeit der peripheren Nerven, auf Krank
heitsprozesse mit Reiz- und Ausfallssymptomen zu reagieren, scheint verhaltnisma£ig
beschrankt zu sein. Vor allem auf sol chen Oberlegungen mag die Ansicht basieren, daB
es sich bei Polyneuropathien und Polyneuritiden demnach gleichsam nur urn eine
"polygenetische Reaktionsform" (JANZEN [30J) handelt, die eine weitere differential
diagnostische Aufgliederung von der polyneuritis chen Symptomatik her nicht zula£k
Auf der anderen Seite lehrt die Erfahrung aus dem klinischen Alltag, daB - wie
es SCHELLER 1953 [56J in seiner allgemeinen Vorbemerkung zur Beschreibung poly
neuritischer Krankheitsbilder ausfiihrt - "je nach Art des schadigenden Faktors bald
diese, bald jene Bahnen innerhalb des peripheren Neurons vorzugsweise ergriffen sein
konnen, was sich klinisch dann in der Weise aU£~ert, daB in einem Falle Lahmungen,
im anderen aber vegetative oder sensible Storungen dem Krankheitsbild die charak
teristische Note geben. Die Krankheitserscheinungen konnen mehr oder weniger stiir
misch unter dem Bild eines akut sich entwickelnden Prozesses auftreten, in anderen
Fallen ist der Verlauf auBerordentlich langsam und schleichend." Mit anderen Worten:
es zeichnen sich durch unterschiedliche Betonung und Kombination einzelner Sym
ptome sowie bestimmter Verlaufsgestalten Muster ab, die sich voneinander unter
scheiden lassen und "als Eckpfeiler fiir eine praktisch brauchbare Systematik dienen
konnen" (ERBSLOH 1967 [17]).
1m Folgenden soll nun dargelegt werden, daB die einzelnen Formen der Poly
neuritiden und Polyneuropathien gleichsam eine charakteristische Physiognomie tra
gen, so daB es dem Untersucher moglich ist, eine spezifische Diagnose zu stellen oder
zumindest in bestimmte Richtungen gehende differentialdiagnostische Oberlegungen
anzustellen. 1m ersten - nicht so sehr dem Umfang als dem Sachverhalt nach -
wesentlicheren Teil wird aufgezeigt, daB die einzelnen Symptome und Symptomen
komplexe den verschiedenen atiologisch unterscheidbaren Formen der Polyneuritiden
und Polyneuropathien in unterschiedlicher Haufigkeit und Qualitat zugeordnet wer
den konnen. Dabei herrscht meistens das Prinzip des "Mehr oder Weniger", seltener
das der AusschlieBlichkeit vor. Es werden sich Kerngruppen mit typischen Mustern
herauskristallisieren lassen; es wird aber auch deutlich werden, daB jenseits dieser
Kerngruppen - wie bei allen Krankheitserscheinungen - Falle mit flieBenden Ober
gang en zu anderen Mustern und auch Ausnahmen vorhanden sind.
2 Einleitung
Gema£ dem Anliegen der vorliegenden Studie werden nur Symptome beschrieben,
die dem "polyneuritischen Syndrom" angehoren, also auf Storungen des peripheren
Nervensystems zurlickgehen, wahrend andere neurologische und von anderen Organ
systemen ausgehende Storungen sowie Laborbefunde unberlicksichtigt bleiben. Aus-
Tabelle 1. Aufgliederung des eigenen Krankengutes
Atiologie Fallzahl
Diabetes mellitus 230
Alkoholismus " 198
sog. idiopathische Polyradiculoneuritis 102
neuralgische Schulteramyotrophie 42
Rachendiphtherie 31
Tri-Aryl-Phosphat 16
Udimie (nephrogene Polyneuropathie) • 15
Uliron und Neouliron 11
serogenetische Polyneuritis 11
Thalidomid 8
rheumatische Arthritis 8
Porphyrie 7
Malabsorption 7
INH" 5
Nitrofurantoin· 5
Salvarsan 5
Paraneoplastische Polyneuropathie 4
Wund-Diphtherie 3
Periarteriitis nodosa 3
Myxodem' 3
Myelom' 3
neurale Muskelatrophie " 3
lymphocydire Meningitis" 2
Hydantoin 2
Vincristin • 2
Barbiturat-Koma' 2
Anticoagulantien • 2
Polycythamie • 2
Leukamie 2
maligne Reticulose 2
Paramyloidose 2
myotonische Dystrophie 2
Mumps 1
Brucellose 1
Lues 1
Ruhr 1
Lupus erythematodes 1
Graviditat 1
Arsen 1
Benzol 1
Thallium 1
Morbus Waldenstrom' 1
Summe: 750
• nur Faile aus dem Mannheimer Krankengut
Einleitung 3
nahmen bilden Hinweise auf spastische Symptome bei der Tri-Aryl-Phosphat-Intoxi
kation, weil diese hier besonders eng mit dem "polyneuritischen" Symptomenkomplex
vermischt sind, sowie auf wesentliche Mitsymptome bei weniger bekannten Syn
dromen, wie dem Fisher-, Bassen-Kornzweig- und Louis-Bar-Syndrom. Miteinbezogen
wurden Manifestationsalter, Geschlechtsspezifitat und Hereditat, wobei es sich um
Merkmale handelt, die man nicht yom "polyneuritischen Syndrom" trennen kann, ja
die ihm nachgerade immanent sind.
Versuche, in derartiger und umfassender Weise yom Einzelsymptom ausgehend
eine Differentialtypologie der Polyneuritiden und Polyneuropathien zu gestalten, sind
un seres Wissens nur selten und dann meist nur bruchstiickhaft oder einzelne Symptome
betreffend (u. a. [17,23, 33, 68, 69]) unternommen worden.
Im zweiten Teil werden dann, wie es sonst iiblich ist, nochmals die einzelnen For
men der Polyneuritiden und Polyneuropathien gesondert besprochen, wobei auf die
im ersten Teil aufgezeigten GesetzmaBigkeiten zuriickgegriffen wird. Auch hier bleibt
mit den oben angegebenen AusnahIl).en die Charakterisierung auf die dem "polyneuri
tischen Syndrom" angehorenden Symptome beschrankt.
Diese Studie 'Stiitzt sich auf die Analyse von 750 FaIlbeobachtungen aus den Jahren
1943-1968 1 der Universitatsnervenklinik Heidelberg und der Jahre 1969 bis 1971
der Neurologischen Klinik der Medizinischen Fakultat Mannheim. Sie sind in TabeIle 1
der Haufigkeit nach aufgereiht.
Es wurden nur FaIle beriicksichtigt, deren atiologische Zuordnung zweifelsfrei ist,
so daB damit nichts iiber die Gesamtzahl der in dies en Zeitraumen zur Beobachtung
gelangten Fal1e ausgesagt wird. Es wird damit gleichzeitig zum Ausdruck gebracht,
daB wir wie andere Autoren (u. a. [178, 263]) auch die sogenannte "idiopathische"
Polyradiculoneuritis weitgehend als nosologische Einheit betrachten. Das gleiche gilt
flir die neuralgische Schulteramyotrophie. AuBerdem haben wir zur Dberpriifung und
Erganzung unseres eigenen Materials das einschlagige Schrifttum herangezogen und ca.
4500 Einzel- und seriel1e Fal1berichte nach den gleichen Gesichtspunkten wie unsere
eigenen FaIle ausgewertet. Dabei haben wir bei den haufiger vorkommenden Formen
meist nur eine zufal1ige Auswahl getroffen, wahrend bei den seltener auftretenden
Gruppen (wie z. B. bei Polyneuropathien bei Myelom, Morbus Waldenstrom, Kryo
globulinamie und anderen) wir moglichst al1e auswertbaren Kasuistiken zu erfassen
versucht haben.
Bei Fal1zahlen iiber 50 wurden der Dbersichtlichkeit und Vergleichbarkeit halber
die Relationen auch in Prozenten, bei Fal1zahlen darunter mit ganz wenigen Aus
nahmen nur mit einfachen Zahlenrelationen angegeben. Das Schrifttum, das der
Einzelfallauswertung zugrunde gelegt wurde, wurde - um laufende Wiederholungen
zu vermeiden - in der Regel nur einmal, namlich in Zusammenhang mit der ersten
Erwahnung der betreffenden Polyneuritis- oder Polyneuropathieform angefiihrt.
1 Herrn Prof. Dr. H. GANSHIRT, Direktor der Neurologischen Universitatsklinik Heidel
berg, danke ich herzlich fiir die Dberlassung der Krankengeschichten.