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Die Wissenschaft vom Guten und Bösen
Untersuchungen zur
antiken Literatur und Geschichte
Herausgegeben von
Heinrich Dörrie und Paul Moraux
Band 5
Walter de Gruyter & Co.
Berlin 1970
Die Wissenschaft
vom Guten und Bösen
Interpretationen zu Platons 'Charm.ides'
von
Bernd Witte
Walter de Gruyter & Co.
Berlin 1970
D6
Archiv-Nr. 36 96 703
@ 1970 by Walter de Gruyter & Co., TOfflJllsG . J. Glllchen'scbe Verlagsbaadlang - J. Guttentag,
Verlagsbuc:hbmdluag - G-ir Reimer- Karl J. Trllbaer- Veit & Comp., Berlin 30, Geatbiller Stnße 13
(Printed in Germany)
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Satz UDdD tuck: Walter de Gruyter & Co., Berlin 30
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1<Tl6e-ra1. (Charm. 173a)
Einleitung
Interpretation der Interpretationen
Als Platon nach der Niederlage Athens im Peloponnesischen Krieg
seine ersten Dialoge veröffentlichte, hatten die Normen, die bis dahin
das Leben der Polis bestimmten, ihre traditionelle Bedeutung ver
loren. Dem Philosophen, der sie zum Ausgangspunkt seines Denkens
machte, stellte sich daher zunächst die Aufgabe, die überlieferten
Begriffe dem Verstehen wieder zugänglich zu machen, um sie dann in
seinem Werk neu begründen zu können.
In dieser Absicht untersucht Platon im „Charmides" die „Be
sonnenheit" (CTOOcppoavvDrir)e.i Definitionsversuche, die sich auf ge
läufige Formeln berufen, führen den Dialog über die traditionelle
Auffassung hinaus zu dem Begriff einer „Wissenschaft der Wissen
schaft", dem am Schluß die „Wissenschaft vom Guten und Bösen"
gegenübergestellt wird. Die dialektische Auseinandersetzung ist ein
gefaßt von einem Rahmen, der sich als Erzählung der äußeren Ge
sprächsumstände gibt. Eine solche Vielfalt von Aspekten macht es
dem Interpreten, der das Werk als Gegenstand des Verstehens und
damit dessen Autor als Philosophen ernst nimmt, zur Aufgabe, das
Ganze des Dialoges als von Platon bewußt geformte Einheit zu deuten,
in der jeder Teil seine spezifische Funktion hat und deren innerer
Aufbau für die zu sagende Wahrheit bezeichnend ist.
Die wissenschaftliche Deutung Platons ist in ihren Anfängen nicht
so sehr vom einzelnen Dialog als von der Gesamtheit des Werkes als
Interpretationseinheit ausgegangen. Ihr Bahnbrecher, Fr. Schleier
macher, faßt im Vorwort seiner 1804 erschienenen Übersetzung die
hermeneutischen Prämissen seiner Arbeit zusammen. Nach ihm muß
es „eine natürliche Folge und eine notwendige Beziehung dieser
Wittc, Wiucmchaft I
2 Einleitung
Gespräche aufeinander geben"1• In dem didaktischen System, zu
dem er die Dialoge anordnet, findet der „Charmides" als „Neben
werk" zu dem „Hauptwerk" der Tugenddefinitionen des „Protagoras"
seinen Platz11• Dabei werden die verschiedenen Ebenen, die der dia
lektische Aufstieg erreicht, als Elemente einer einzigen Definition
verstanden 3, so daß der Dialog mit einem positiven Ergebnis endet,
der Bestimmung der Besonnenheit, die sich aus der Addition aller im
Laufe des Gesprächs gefundenen Antworten ergibt'.
Die Interpretation Schleiermachers geht von dem methodischen
Grundsatz aus, daß die Person des Autors im Sinne eines formalen
Prinzips die Einheit des Werkes konstituiert und dadurch Verstehen
überhaupt erst ermöglicht1. Indem die intuitive Einsicht in die
schöpferische Individualität das Vorgehen des Interpreten leitet,
zwingt sie ihn, auch die zunächst disparat erscheinenden Elemente als
Teile eines sinnvollen Ganzen zu erfassen. Der Tradition der Platon
deutung des achtzehnten Jahrhunderts folgend, 6 bleibt die gesuchte
Einheit für Schleiermacher jedoch die des Gesamtwerkes, das, einmal
als didaktisches System verstanden, dann wieder Licht auf die Person
Platons zurückwirft und sie mit Leben füllt7•
Schleiermachers Arbeiten haben eine neue hermeneutische Situa-
tion geschaffen. Was von ihm als formales Subjekt zur Grundlage und
1 Fr. Schleiermacher, Platons Werke, 1, 1, Berlin 11804, 11866, S. 1?.
1 Fr. Schleiermacher, 1. c., 1, 1, S. 86.
8 Fr. Schleiermacher, 1. c., 1, 2: Einleitung zum Charmides, S. lff.
' Auf Grund der gleichen Methode kommt die Mehrzahl der Einzelabhandlungen
über den Charmides, zum größten Teil in Gymnasialprogrammen erschienen, zu
einem positiven Ergebnis, so J. Ochmann (1827, lateinische Dissertation als Ver
teidigung gegen Asts Athetese), A. Spielmann (1876), A. Pawlitschek (1888):
Sophrosyne ist „die wohlgefällige Beschaffenheit der Seele (S. 26) ... sie schließt
alle Tugenden in sich (S. 28)", A. Sauer (1894): .,Die ac.>q,poavVT\i st also das
auf der Kenntnis des Guten und Bäsen beruhende zarte Pflichtgefühl (S. 28)",
J. Kohm (1902).
1 Nach Schleiermachers späterer theoretischer Formulierung: .,Aber die Einheit
des Werkes, das Thema wird hier angesehen als das den Schreiber bewegende
Prinzip, und die Grundzüge der Composition als seine in jeder Bewegung sich
offenbarende eigenthümliche Natur." (Fr. Schleierm.acher, Hermeneutik, hrsg. von
H. Kimmerle, Abb. Heidelb. Ak., Phil. Hist. Kl., 1969, 2, S.107). Dazu H. G.
Gadamer, Wahrheit und Methode, Tübingen 1960, S. 172ff.
• Zehn Jahre vor dem Erscheinen von Schleiermachers Übersetzung noch einmal
zusammengefaßt im „System der Platonischen Philosophie" von W. G. Tenne-
mann, 4 Bände, Leipzig 1792-1795.
7 Schleiermacher ist sich dieses hermeneutischen Zirkels durchaus bewußt: .,Vor
der Anwendung der Kunst muß hergehen, daß man sich auf der objectiven und
subjectiven Seite dem Urheber gleichstellt ... Beides kann aber erst vollkommen
durch die Auslegung selbst gewonnen werden. Denn nur aus den Schriften eines
jeden kann man seinen Sprachschatz kennenlernen, und ebenso seinen Charakter
und seine Umstände." (Hermeneutik, S. 88).
Interpretation der Interpretationen 3
zum methodischen Prinzip der Deutung gemacht wurde, hat nach ihm
durch die beständige Beziehung auf das Werk inhaltliche Erfüllung
gewonnen. Um der Schwierigkeit zu entgehen, die untereinander
widersprüchlichen Dialoge zu einem einheitlichen System ordnen zu
müssen, kann Fr. Ast (1816) daher die Ideenlehre als Maßstab dessen
ansehen, was „platonisch" ist: ,,Der Platonismus ist folglich nicht als
ein System zu betrachten ... , sondern, erhaben über jede endliche
und zeitliche Besonderheit, lebt er in der Aetherregion der Idee, lebt
er im Lichtglanze der Philosophie selbst" 8• Diese vorgefaßte Bestim
mung findet ihr klassizistisch verengtes Platonbild nur in den Dialogen
der mittleren Epoche bestätigt und scheidet folgerichtig alle frühen
Werke und unter den späten die „Nomoi" und die „Epinomis" als
unecht aus9• So beurteilt Ast auch den Gesprächsverlauf des „Charmi
des" unter ausdrücklicher Ablehnung der Ergebnisse Schleiermachers
als „sophistisch-dialektisch, also eigentlich eristisch" und daher als
,.unplatonisch"10, zumal auch die Charaktere der Gesprächspartner -
nach ihm - eines Platon unwürdig sind11• Indem die Athetese den
Dialog aus jedem biographischen und geistesgeschichtlichen Zusam
menhang herausreißt, stellt sie die Interpreten vor eine neue Aufgabe.
Man sucht nun nicht mehr die Bedeutung des Dialoges zu bestimmen,
sondern ihn in einen neuen historischen Kontext einzufügen, der ihn
erst wieder verständlich machen könnte. So wird er in der Nachfolge
Asts einem unbekannten hellenistischen Platoniker zugesprochen, in
dessen Denken auch aristotelische Einflüsse zu finden seien111•
8 Fr. Ast, Platon's Leben und Schriften, Leipzig 1816, S. 6.
• Ast, 1. c., S. 10: .,Der einzige Weg, den man bei der Kritik der Platonischen Schrif
ten einschlagen kann, um zu einem sichern Ziele zu gelangen, kann ja nur dieser
sein, daß man in den größeren Werken des Platon, deren Echtheit nicht in Zweifel
gezogen werden kann, den eigentiimlichen Geist dieses Denkers erforscht . . . und
daß man dann diesen ... als den Maßstab betrachtet, nach welchem die anderen
Werke beurteilt werden müssen."
10 Ast, 1. c., S. 424.
11 Ast, I. c., S. 426: .. Wie erscheint Sokrates? Nicht als der metaphysische Erotiker,
wie ihn Platon schildert, sondern als empirischer und lnsterner Päderast, der
ilberdies mit sich selbst in Widerspruch ist ... "
18 C. Schaarschmidt (1866) und K. Troost (1889) schließen aus Parallelen zum späten
Platon, zu Xenophon und zu Aristoteles, diese Autoren seien von dem Kompilator
als Quellen benutzt worden. Auf Grund dieses Vorverständnisses werden an sich
richtig gesehene Zusammenhänge in ihrer Bezugsrichtung mißdeutet: ,.Dieser
Gedanke [einer hrtcrnil1Tt hr1crni1111sw) ird daher, da wir unserem Verfasser den
Erfindungsgeist, ihn selbst produziert zu haben, schwerlich zutrauen dilrfen, auf
die aristotelische v611a1vs oriaeoosb ezogen werden milssen ... " (C. Schaarschmidt, Die
Sammlung der platonischen Schriften zur Scheidung der echten von den unechten
untersucht ... , Bonn 1866, S. 431).
Filr unecht erklärt den Charmides auch E. Zeller in der ersten Auflage der „Philo
sophie der Griechen in ihrer geschichtlichen Entwicklung", Stuttgart 1864.
I•
4 Einleitung
Die Aporie, in die Schleiennachers Unternehmen einer einheit
lichen Interpretation des Gesamtwerks durch die Athetese eines
Großteils der Dialoge geraten war, wird von der philologischen Inter
pretation durch die Annahme einer Entwicklung des Philosophen zu
lösen versucht. Dabei geht sie grundsätzlich nicht über den herme
neutischen Ansatz Schleiennachers hinaus. So gilt auch ihr als Ver
stehenseinheit das Gesamtwerk, dessen innere Gegensätze jedoch, da
sie nicht mehr in ein System zu ordnen sind, direkt aus dem bio
graphischen Zusammenhang als aufeinanderfolgende Entwicklungs
stufen erklärt werden. Dieses Verfahren rückt die frühen Dialoge, zu
denen auch der „Charmides" gerechnet wird, in unmittelbare Nähe
zum historischen Sokrates und erkennt ihnen daher nur elenktische
Funktion zu. Indem es jede Negation als eine absolute und die Schluß
aporie als Ratlosigkeit des Philosophen selbst auffaßt, verkennt es das
Gesetz des dialektischen Fortschreitens, nach dem jede Setzung in
einer höheren wieder aufgehoben werden muß. So kann Th. Becker
(1879) unter Berufung auf Bonitz18 das „Resultat" des „Charmides"
darin sehen, ,,nachzuweisen, daß ein Begriff, den man bisher unbe
fangen als geltend gebraucht hatte, undenkbar sei". In der Sache
selbst freilich müsse „Plato in edler Offenheit seine Unfähigkeit, die
ihm aufstoßenden Schwierigkeiten zu lösen, eingestehen" 14• Die Be
deutung der aporetischen Tugenddialoge wird damit auf die beispiel
hafte Darstellung des ,,sokratischen Nichtwissens'' eingeschränkt.
Die Interpretationsmethode der historischen Schule, die in den
großen Biographien zu Beginn des Jahrhunderts ihren Höhepunkt
findet, zielt auf eine noch engere Verknüpfung von Werk und Leben.
Dieser Versuch setzt eine genaue Analyse des sozialen und geistes
geschichtlichen Hintergrundes voraus15, wie sie M. Pohlenz in seinem
Buch über „Platos Werdezeit" (1913) für den Rahmen und die
ersten Definitionen des „Charmides" geleistet hat. Andererseits führt
sie jedoch dazu, die philosophische Bemühung um die Wahrheit als
„Kritik an fremden Ansichten" mißzuverstehen, so daß für Pohlenz
die „Wissenschaft der Wissenschaft" zu einem Begriff wird, mit dem
ein gegnerischer Sokratiker Leben und Wirken des verstorbenen
Meisters zu interpretieren versucht, während Platon selbst das Tun
seines Lehrers durch die „Wissenschaft des Guten" deute. Damit wird
13 H. Bonitz, Platonische Studien, Berlin 11886, S. 243ff.: Bemerkungen zu dem Ab
schnitt des Dialogs Charmides p. 166---172.
1& Th. Becker, Plato's Charmides inhaltlich erläutert, Halle 1879, S.105. In ähnlicher
Weise sehen E. Schönborn (1884) und A. Knauer (1889) das Ergebnis in dem Ab
bau falscher Vormeinungen.
11 In jüngster Zeit hat M.Buccellato, Studisul dialogo platonico, Riv. Cr. di Storia d.
Filosofia 18, 1963, 540---560 diesen Aspekt noch stärker herausgearbeitet.