Table Of ContentHEIMITO VON DODERER
DIE WIEDERKEHR DER DRACHEN
HEIMITO VON DODERER
Die Wiederkehr der Drachen
AUFSÄTZE/TRAKTATE/REDEN
Vorwort von Wolfgang H. Fleischer
Herausgegeben von
Wendelin Schmidt-Dengler
BIEDERSTEIN VERLAG
MÜNCHEN
ISBN 3 7642 013 j j
© 1970 Biederstem Verlag München
Gesamtherstellung Passavia Druckerei AG Passau
INHALT
VORWORT ........................................................................... 7
I. DIE WIEDERKEHR DER DRACHEN ......................... 15
II. ZUM FALL GÜTERSLOH
Der Fall Gütersloh. Ein Schicksal und seine Deutung .. 39
Gütersloh und ich.............................................................. 110
Von der Unschuld im Indirekten.
Zum 60. Geburtstag Albert P. Güterslohs ................... in
Offener Brief an Baron Kirill Ostrog............................... 126
Gütersloh. Zu seinem 75. Geburtstage............................. 133
Das Ende des Falles Gütersloh.
Eine kleine Dokumentensammlung ............................. 137
III. ZU SPRACHE UND LITERATUR
Grundlagen und Funktion des Romans ........................... 149
Roman und Leser.............................................................. 176
Symphonie in einem Satz.................................................. 180
Der Fremdling Schriftsteller .............................................. 183
Literatur und Schriftsteller ............................................... 189
Die Sprache des Dichters .................................................... 194
Wörtlichkeit als Kernfestung der Wirklichkeit ............... 198
Die Ortung des Kritikers .....................................................205
IV. AUSTRIACA
Helene Kotanner. Denkwürdigkeiten einer Wienerin
von 1440 ...........................................................................221
Ebenbildlichkeit .....................................................................227
Rosa Chymica Austriaco-Hispanica.
Voraussetzungen österreichischer Lyrik .........................231
Drei Dichter entdecken den Dialekt....................................237
Athener Rede. Von der Wiederkehr Österreichs...............239
Die enteren Gründ* ..............................................................248
Weltstadt der Geschichte ......................................................259
Ouvertüre zu ,Die Strudlhofstiege' ....................................263
6 Inhalt
V. SEXUALITÄT UND TOTALER STAAT.............................275
ANHANG
Nachwort des Herausgebers .............................................. 301
Anmerkungen...................................................................... 307
Bibliographie ...................................................................... 313
Namenregister ......................................................................323
VORWORT
„Der Essay ist das grammatische Stadium der Wissenschaft,
durch welches allein sich diese legitimieren kann“ - definiert Do
derer. Dabei ist Grammatik für ihn „die Kunst des Schreibens
schlechthin und also die Kategorie, unter welcher der Schriftsteller
lebt“, während eine seiner Chiffren für die Wissenschaft „dialek
tische Psychologie“ lautet.
In Gesprächen weit häufiger als in seinen Schriften nahm Dode
rer Bezug auf seinen Lehrer der Psychologie, Dr. Hermann Swo
boda, auf den wohl auch Doderers so innige Beziehung zu Wei-
ninger zurückgeht. Swoboda betrieb seine Psychologie unter dem
Schlachtruf „Emanzipation von den Methoden der Naturwissen
schaft.“ Seine wesentliche .Entdeckung* war die der menschlichen
Periodizitäten von etwa 23-Stunden-Zyklen bis zur Lehre vom
Siebenjahr: eine Lehre von der ständigen Wiederkehr psychischer
Zustände mit der „Exaktheit der Astronomie“; seinen Werken
waren Zyklusschieber beigelegt, mit deren Hilfe man die eigene
Periodizität leichter berechnen konnte. Daran glaubte Doderer
ebenso wie an eine von Swoboda in Aussicht gestellte wissenschaft
liche Astrologie; an manchen Tagen verließ er, auf Grund seiner
Periodizität, ungern das Haus und unternahm nichts Wichtigeres
(man kann Erwägungen solcher Art in den .Tangenten* nachlesen,
etwa p. 44, p. 491). Man mag darin vorläufig nicht mehr erblik-
ken als einen charakteristischen Zug des Autors, einen Hang zu
nicht additiv aus empirischen Einzelheiten entstandenen Anschau
ungen, der zu seiner stark fatologischen Sicht hin fortsetzbar wäre
(wie aller Aberglaube, der laut Weininger bei genialen Männern
am stärksten auftritt; Joyce und Picasso sind allerdings Beispiele
dafür). In Richtung auf seine Fatologie ging Swoboda noch wei
ter: „Man stirbt nicht, weil man krank wird, sondern man wird
krank, weil man stirbt“ - wobei der Abfall der Kräfte nach dem
geistigen und körperlichen Höhepunkt des Siebenjahrs erfolgt.
Eine Parallele zur oft letalen Folge der .Menschwerdung* bei Do
derer ist hier nicht zu übersehn (so warnte Doderer mit tiefer
Sorge, mit je vorwegnehmender Traurigkeit einen jungen Mann,
8 Vorwort
der „alles zu richtig“ mache, vor einem frühen Tod) - ebenso
wenig wie die naheliegende Folgerung, daß Swobodas Lehre dem
naturalistischen Roman eine „wissenschaftliche Begründung“ für
eine durchgehende Motivik - eben durch die Periodizität - böte.
Doch so direkt sind die Bezüge gewiß nicht zu setzen, sondern
sollen nur eine weitere Tendenz zur Fatologie markieren.
Wirklich unmittelbar in Doderers theoretisches Denken einge
gangen ist Swobodas Erklärung der Erinnerungen: diese erfolgten
periodisch und seien ausschließlich durch die Periodizität bewirkt,
„freisteigend“, bedürften also keiner Brüche in die Gegenwart,
keiner Assoziation, die als spezieller Aspekt und als gegenwärtige
Ursache die Erinnerung verändern würde; vielmehr ist das Ab
sterben aller bewußten, d. h. immer irgendwie interessierten Erin
nerung die wichtigste Voraussetzung für das .Freisteigen'. Von
dieser Lehre, die - im Gegensatz zu jeder anderen psychologischen
Erinnerungstheorie - die Möglichkeit wahrhaftiger und vollstän
diger Erinnerungen verbürgt, war Doderer so völlig überzeugt,
daß sie zu einem entscheidenden, nach vielen Richtungen hin wir
kenden Element seines Denkens wurde (im Repertorium spricht
er sogar von „freisteigenden Wutanfällen“).
Von zentraler Bedeutung ist hier die Wahrheit und Vollstän
digkeit der Erinnerung. Bei Weininger (dem „glorreichen“, wie
Doderer sagt) heißt es: „Der Apperzeption als der Aneignung ist
das Gedächtnis als der Besitz, seinem Umfang wie seiner Festig
keit nach, proportioniert.“ Daß der bei Doderer so häufige Termi
nus .Apperzeption' von seiner intensiven Beschäftigung mit Wei
ninger herrührt, ist kaum zu bezweifeln. Weininger impliziert
seiner Wortwahl, daß er Kantianer sei, verwendet das Wort aber
doch in recht vielfältigem Zusammenhang, vom Sinne Leibnizens,
der den Begriff in die Philosophie einführte als Gegensatz zu den
,kleinen Perzeptionen* (einen erweiterten Begriff davon bilden
Weiningers ,Heniden‘, für welches Wort ihm Doderer sehr
„dankte“) bis etwa zur Definition, daß ein Genie ein Mensch mit
universaler Apperzeption sei. Das kommt Doderers Anspruch an
den Schriftsteller recht nahe. Bei Kant heißt es: „Nun können
keine Erkenntnisse in uns stattfinden, keine Verknüpfung und
Einheit derselben untereinander, ohne diejenige Einheit des
Bewußtseins, welches vor allen Datis der Anschauung vorher
geht und worauf in Beziehung alle Vorstellung von Gegenstän
den allein möglich ist. Dieses rein ursprüngliche, unwandelbare
Vorwort 9
Bewußtsein will ich nun die transzendentale Apperzeption
nennen.“
Was bei Kant eine logisch notwendige Voraussetzung der Er
kenntnis ist, wird bei Doderer zur Forderung nach einer Leistung,
nach einer „existentiell verändernden Wahrnehmung“, nach einem
„zu höchster Intelligenz gebrachten Gewissen“.
Hier sei kurz zu den Begriffen ,Wissenschaft' und ,Psychologie'
zurückgekehrt; auch um gleich abzulehnen, daß Doderer mit Ap
perzeption nicht mehr als eine besonders sorgfältige und unvor
eingenommene Wahrnehmung, eine positivistische Objektivität
meint (seine Auseinandersetzung mit dem Positivismus ist in dem
Essay „Unschuld im Indirekten“ deutlich genug ausgefallen);
dazu hätte er nicht den aufwendigeren Begriff der Apperzeption
benötigt.
Bei Weininger heißt es: „Die Psychologie nun, welche hier der
Darstellung dient, ist eine durchaus philosophische“, wenn auch
vom „trivialsten Erfahrungsbestande“ ausgehend; dem folgt wie
bei Swoboda eine entschiedene Ablehnung aller empirischen Psy
chologie, zu der Doderer auch die „Seelenschlosserei“ etwa Freuds
rechnet (auch seine erste Vorstellung von Freud stammt wohl von
Swoboda, der 1900 Freuds Patient war!); kurzum: Doderer
lehnte alle Psychologie — oder überhaupt (Geistes-)Wissenschaft —
ab, „wenn sie nicht bezogen wird auf die Entelechie des Men
schen“.
Die philosophische Psychologie Weiningers deckt sich mit der
dialektischen Psychologie Doderers: es ist hier die Dialektik des
Innen und Außen, des Jenseits im Diesseits, die zu einer eben
solchen Unreduzierbarkeit führt; es ist eine Lebensphilosophie,
in der alles mündet: eben die „Wissenschaft vom Leben“ bei
Doderer.
Wenn nun dies den Rahmen darstellt, innerhalb dessen der
Begriff Apperzeption verwendet wird, so darf die Hinsicht auf
die „Entelechie (das formende Prinzip, in gewissem Sinne: die
Seele) des Menschen“, worin Kants ,Bewußtsein* mit Doderers
,Gewissen' zusammenfällt, von keinem trivialen Erfahrungsbe
stand mehr ausgeschlossen bleiben. (Doderer nennt Goethe einen
„gewaltigen Apperzipierer“; man sollte dabei an die enorme
Bedeutung des Begriffs der Entelechie für Goethe denken.)
In diesem Zusammenhang kann abkürzend auch der Begriff
der .Wörtlichkeit' bei Doderer einbezogen werden; über Thomas
10 Vorwort
von Aquin und die Analogia entis, die in Doderers Denken eine
zentrale Stellung einnimmt. Ich erinnere mich eines Abendessens
mit Doderer und H. Eisenreich, in dem beide zur Überzeugung
vertraten, daß keinen (wahren) Roman schreiben oder überhaupt
Kunst schaffen könne, wer nicht an Gott glaube (Weininger:
„Es mag irreligiöse Dichter geben - sehr große Künstler können
es nicht sein - “); ein häufiger Ausspruch Doderers lautete, daß
jeder Romancier Thomist sei, ob er es nun wisse oder nicht; daß
es keinen Roman gäbe ohne die Analogia entis; letztlich (etwa
.Tangenten' p. 654) ist nur mehr die Pseudologie außerhalb der
Analogia entis. (Den Begriff Pseudologie verwendet Doderer nie
im bloß medizinischen Sinn (krankhaftes Lügen), sondern Pseu
dologie kennzeichnet die Scheinordnung eines - natürlich verlo
genen - Modells einer Gegenwelt (zweite Wirklichkeit), im Ge
gensatz zur Analogie, der göttlichen Ordnung der wirklichen
Welt. ,Wirklich' ist also auch eine Leistung des Betrachters und
gewinnt einen ethischen Aspekt).
Doderers Begegnung mit Thomas von Aquin (Auf den Wällen
von Kursk, 1942) war ein schockartiges „Influenzieren“, durch
aus in dem Sinn, daß er unbewußt ohnehin schon Thomist gewe
sen sei: Essentia est id quod per definitionem rei significatur.
Wenn .definitio' ebenso das Wort ist wie jene „Hunderte von
Seiten einer erzählenden Darstellung, die als ganzes eine einzige
Metapher ist“, dann sind der Schriftsteller und der Philosoph die
einzigen, welche die Wirklichkeit nicht nur zu erkennen vermögen
(apperzipieren), sondern sie - per definitionem - überhaupt erst
konstituieren; hier ist der Schritt anzusetzen von der noch vagen
„Magie des Wortes“ zur „Wörtlichkeit als Kernfestung der Wirk
lichkeit“.
Die Essenz, das Wesen eines Dinges wird erst durch die Defi
nition bezeichnet: sie existiert für uns nur als eben jene Bezeich
nung, die in der Scholastik die Quiditas, die .Washeit' des Dinges
heißt. Diese Quiditas definiert ein Zusammengesetztes, das ,com-
positium' aus Stoff und Form, in seinem bezeichneten Zustand
von ,actu* und ,potentia‘, Tat-Sächlichkeit und Möglichkeit, wo
bei, vereinfacht gesagt, eine Verschiebung dieser Verhältnisse zu
allen andern .composita' führt, ebenso wie zur Festsetzung des
,Einfachen* (Gott): per analogian, d. h. durch ein Schließen nach
den Analogie-Gesetzen.
Wenn wir von hier zu Doderers so gründlicher Empirie zurück