Table Of ContentBildung und Arbeit
Jahrbuch 1996
lahrbuch
Bildung und Arbeit
Herausgegeben von
Axel Bolder, Helmut Heid, Walter R. Heinz, GUnter Kutscha,
Helga KrUger, Artur Mdeier, Klaus Rodax
Geschaftsfiihrende Herausgeber:
Axel Bolder, Klaus Rodax
c/o ISO, Kuenstr. 1b , D-50733 Koln
Beirat:
Ditmar Brock, Ingrid Drexel, Hannelore Faulstich-Wieland,
Karlheinz A. GeiBler, Erika M. Hoerning, Ernst-H. Hoff,
Paul Kellermann, Reinhard Kreckel, Rene Levy, Ursula Rabe
Kleberg, Christiane Schiersmann, Gabriele Schwarz
J ahrbuch '96
Bildung und Arbeit
Die Wiederentdeckung
der Ungleichheit
Aktuelle Tendenzen in Bildung
fur Arbeit
Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH
ISBN 978-3-8100-1223-4 ISBN 978-3-322-95964-5 (eBook)
DOI 10.1007/978-3-322-95964-5
© 1996 Springer Fachmedien Wiesbaden
Ursprünglich erschienen bei Leske + Budrich, Opladen 1996
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtIich geschützt. Jede Verwertung
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unzulässig und strafbar, Das gilt insbesondere für VervieWiltigungen, Übersetzungen, Mi
kroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Typoskript (CG Times Scalable, PG 11/12). Hergestellt im Sonderforschungsbereich 186
der Universität Bremen und im Institut zur Erforschung sozialer Chancen (ISO) in Köln.
Inhalt
Einleitung
Axel Bolder (Koln), Walter R. Heinz (BremenlToronto),
Klaus Rodax (Bielefeld)
Brlicken bauen zwischen Bildung und Arbeit 7
Bildung und soziale Ungleichheit im Gesellschaftsvergleich
Lynne Chisholm (Brilssel)
Jugend und Bildung in Europa:
soziale Ungleichheiten in der zweiten Modeme 20
Ludwig v. Friedeburg (Frankfurt a.M.)
Schulentwicklung zur Ungleichheit 36
Frank Coffield (Durham)
The Great British Experiment 51
Torsten Husen (Stockholm)
The "Education Gap" 68
Paul Kellermann (Klagenfurt)
Ungleiche Beschliftigungschancen von Graduierten
vor dem Hintergrund der Entfaltung professioneller Arbeit 83
Harry Maier (Flensburg)
Das Bildungswesen und die langen Wellen
der okonomischen Entwicklung 104
Strukturelle und institutionelle Dimensionen
von Bildung und Ungleichheit in Deutschland
Beate Krais (Darmstadt)
Bildungsexpansion und soziale Ungleichheit
in der Bundesrepublik Deutschland 118
Hartmut Ditton (Eichstiitt)
Zyklen, Grundlagen und Perspektiven der Gesamtschuldiskussion 147
6
Andreas Witzel, Vera Helling, Ingo Mlinnich (Bremen)
Die Statuspassage in den Beruf
als Proze6 der Reproduktion sozialer Ungleichheit 170
Karlheinz A. GeijJler, Frank Michael Orthey (Manchen)
Die Ungleichheit der Subjekte und die Gleichheit der Zumutungen.
Erwachsenenbildung als Einheit von Differenzen 188
Harry Friebel (Hamburg)
Forschung und Politik zu sozialen Segmentierungen
und Polarisierungen in der Weiterbildung 217
Geschlechterverbaltnis, Bildung fiir Arbeit und soziale Ungleichheit
Hans Bertram, Marina Hennig (Berlin)
Das katholische Arbeitermadchen vom Lande:
Milieus und Lebensffihrung in regionaler Perspektive 229
Helga Krager (Bremen)
Die andere Bildungssegmentation: Berufssysteme
und soziale Ungleichheit zwischen den Geschlechtem 252
K1assiktext
Friedrich Schleiermacher
Die Begiinstigten noch mehr begiinstigen? 275
Streitgesprach
Karlheinz A. GeijJler (Miinchen), Hermann Schmidt (Bonn)
Ungleiche Ausbildung? Diskussion zum System der Berufsaus-
bildung in Deutschland (Moderation: Helmut Heid, Regensburg) 288
Lebenswerk
Stefan Egger, Andreas Pfeuffer (Konstanz), Franz Schultheis (Genj)
Bildungsforschung in einer Soziologie der Praxis: Pierre Bourdieu 312
Literatur 340
Autorinnen und Autoren des Jahrbuchs 1996 360
AxEL BOLDER, WALTER R. HEINZ, KLAus RODAX
Briicken bauen zwischen Bildung und Arbeit
Es ist schon einige Zeit her. Als wir dariiber nachdachten, ob es nicht
sinnvoll sei, angesichts der Widerspriiche zwischen Modernisierungseuphorie
und bildungspolitischem Stillstand ein Diskussionsforum zu etablieren, das
diesen Widerspriichen auf den Grund gehen konnte, waren die groBen
Systemzusammenbriiche im Osten noch gar nicht in Sicht. Vielmehr hatte
nach der konservativen und technokratischen Wende der Schwenk zur
Reproduktion von Ungleichheit im Bereich von Bildung und Arbeit gerade
erst wieder eingesetzt; die dazugehOrenden bildungspolitischen Kiirzel
lauteten " Elitebildung" , "Aufhebungder Begabtenbenachteiligung", numerus
clausus, "Bildung als Biirgerpflicht" und so weiter. Es war klar, da6 mit
der Umkehrung des Reformprinzips "Fordem statt Auslesen" im Grunde
nur auf bildungspolitischem Gebiet nachvollzogen werden sollte, was im
Bereich der gesellschaftlichen Giiterdistribution schon seit Jahren im Gange
war: die Sparpolitik zu einer Riickverteilung der Lebenschancen von unten
nach oben zu nutzen.
Mittlerweile hat sich die Welt veriindert. Nicht, da6 die grundlegenden
Uberlegungen obsolet geworden waren; die skizzierten Entwicklungen haben
seither an Scharfe eher noch zugenommen. Doch haben dec Zusammen
bruch des real existierenden Sozialismus und der damit einhergehende
weltweite Siegeszug des neoliberalen Gesellschaftsmodells die Ausgangs
positionen des Denkens iiber Bildung, speziell liber Bildung fUr Arbeit, ver
andert, und dies fordert emeutes Nachdenken. Ein erster Einstieg konnte
das Nach-Denken iiber topoi sein, die die auf Gesellschaft bezogenen
Wissenschaften einerseits wesentlich zu verantworten haben, weil sie die
Miinzen gepriigt und in Umlauf gebracht haben, vor deren gesellschaftli
chem Gebrauch, ihrer politischen Ummiinzung, andererseits manche ihrer
Vertreter heute stehen wie der Zauberlehrling vor der Erfahrung, da6 der
Besen das Kehren nicht mehr lii6t.
Nehmen wir zum Beispiel die "neuen sozialen Ungleichheitenn• Ge
schlechtsdifferenzen, regionale Disparitiiten, differente Arbeitszeitmuster,
trennende Lebensstile und Lebensphasen hat es imrner gegeben. Sie waren
im zeitdiagnostischen Modernisierungsdiskurs allenfalls der Aufmerksamkeit
entzogen und wurden nach einer historisch gesehen kurzen Prosperitiitsphase
in einem kleinen Ausschnitt der Welt nur wieder "normal". Kennzeichen
fiir die neuen Unsicherheiten der Gesellschaftsanalysen sind die wie Pilze
8 Axel Bolder, Walter R. Heinz, Klaus Rodax
aus dem Boden schiefienden Termini, die alle nach Abschied ldingen:
"Postindustriell" leben wir, "postmateriell", "postmodem", "nachtradi
tional", "postfeministisch", in "postfordistischen", mittlerweile "post-post
tayloristischen" Arbeitssituationen gar. Wir leben, so Ulrich Beck, der
Wanderprediger aller zeitgenossischen Umbriiehe und Risiken, in einer Zeit
des "Nieht-mehr und Noch-nieht".
Historisch gesehen ist das nieht neu. Nachwelt will immer auf der Hohe
der Zeit sein und verabsehiedet mehr oder minder radikal die vorangegan
genen Perioden ihrer Geschiehte. Nehmen wir zum anderen Beispiel die
populare Denkfigur der "Individualisierung", derzufolge die einzelnen, aus
den tradierten Sozialmilieus gelost, in historiseh neuer Qualitiit dam
genotigt oder - das variiert naeh ideologiseher Verortung - befiihigt sind,
ihre eigenen Biographien zu schreiben. Der verkiirzten Denkfigur liegt
implizit ein Gesellschaftsbild natiirlieher Sozialintegration durch Gemein
schaft zugrunde, von Lebensmilieu als "Kiez", das im Riickblick Lebens
fiihrung und Lebenslauf "frillier" viel sicherer erscheinen liiBt, als sie es je
waren. War nicht, zum Beispiel, der Siegeszug des Faschismus in Europa
zu einem gewichtigen Teil Resultat von sozialer Entwurzelung und
Abstiegserfahrungen, waren nicht die andauemden Veranderungen der
politischen Landkarte Europas Manifestationen von Flucht, Vertreibung,
Umsiedlung - letztlich: massenhaften Vereinzelungen, Biographiebriichen,
Zwangen zu Neuanfiingen? Individualisierung ist das Thema der Modeme;
neu ist dies, als erlebte Welt, allenfalls fUr die Nachkriegsgeneration.
Was also muJ3 tatsiichlich neu gedacht werden im Feld von Bildung fUr
Arbeit? Der "qualitative Sprung" liegt weniger in der Fortdauer, vielleicht
auch Verschiirfung von Individualisierung als Chance und Risiko, mehr
schon im Zusammenbruch der theoretischen Generalisierungen der heute
lehrenden und arbeitenden Generation von Soziologen und Piidagogen. Der
Fortschrittsglaube, der uns, vollig unverstandlicherweise nach Guernica,
Auschwitz und Hiroshima, wieder erfaJ3t hatte, hat allerdings einen neuen,
deutliehen Rill erlitten. Gerade im Kontext von Bildung und Arbeit geht es
heute darum, wer die Relevanzstrukturen bestimmt, die symbolischen Bot
schaften, mit denen Entwicldungen benannt, "erkannt" werden, und ganz
besonders um die der "Modernisierung" unserer Gesellschaft. Was heillt
heute Modernisierung der Arbeitswelt, der industriellen Beziehungen, des
Bildungswesens? Was wird an scheinbaren Sachzwangen "unhinterfragt" in
die Offentliche Diskussion eingebracht und ist doch nur Resultat einer
ideologischen Richtungsentscheidung, die als so1che nach dem Zusammen
bruch der politischen Gegenwelt vielleicht schon gar nicht mehr erkannt
wird? In den knapp zweieinhalb Jahrzehnten seit dem hoffnungsfrohen Auf
bruch in die Demokratisierung der Gesellschaft durch soziale Reformen und
Bracken bauen zwischen Bildung und Arbeit 9
Bildungsexpansion hat sich das Bewu8tsein den tristen Realititen wieder
angepa8t.
Das Projekt "Jahrbuch Bilduog uod Arbeit"
Eine Grundannabme des Projekts lahrbuch Bildung und Arbeit ist, da8 es
keine Sachzwinge gibt, die es unbedingt erforderten, Bildung, und speziell
Bildung fUr Arbeit, unter Argumentationsfiguren wie "weltweite Markte",
"intemationale Konkurrenz", "Zwang zur Kostenminimierung" oder "Dere
gulierung zur Freisetzung innovativer Potentiale" zuriickzufahren bezie
hungsweise zu Privatveranstaltungen werden zu lassen. Zum Sachzwang
wird das allmichtige Kostenargument erst auf der Basis ordnungspolitischer
Richtungsentscheidungen des neoliberalen Fundamentalismus, die Ungleich
heit in Kauf nehmen und den Begriff der Chancengleichheit ummiinzen, wie
aus den Beitragen dieses Jahrbuchs deutlich werden wird. Hervorragende
Aufgabe des Projekts durfte es deshalb auf absehbare Zeit sein, die ideolo
gische Offensive einer markt-und akkumulationsorientierten Ordnungspolitik
auf ihre gesellschaftlichen Grundlagen und Konsequenzen hin zu befragen
und das Denken in Alternativen zu befordem.
Anspruch des lahrbuchs Bildung und Arbeit ist es, das Projekt einer
aufgeklirten und selbstbewu8ten Gesellschaft kritischer Burger als Ma6stab
der eigenen Arbeit nicht aufzugeben. Es geht uns darum, ein an diesem
Ma6stab orientiertes Diskussionsforum einzurichten, das die Diskussion im
Themenfeld initiiert und verstetigt und sich kritisch-emanzipatorischen
Ansitzen verpflichtet weill.
Natiirlich gibt es durchaus Diskussionszusammenhiinge in diesem Themen
bereich. Ihre Struktur zeichnet sich aber eher durch fachspezifische und
persOnliche Zufilligkeiten aus: Sie sind dementsprechend mehr oder weniger
eng und mehr oder weniger formalisiert. Statt nun dem einschlagigen aka
demischen Markt einfach ein weiteres Publikationsorgan hinzuzufiigen, soll
beim lahrbuch Bildung und Arbeit das Schwergewicht auf der Diskussion
der Strukturierungsprozesse im Schnittpunkt von Bildung, Beruf und
Arbeitsleben, auf Entwiirfen, Umsetzungsansitzen und Projekten ihrer parti
zipativen Gestaltung liegen.
Das Jahrbuch versteht sich folglich auch als Experimentierfeld, das der
kritischen Analyse bestehender Theorien und der Bewertung innovativer,
mit- und selbstbestimmter Praxisformen im Themenfeld Raum gibt. Dem
entspricht ein Begriff von Bildung, der nicht nur den Qualifikationserwerb
10 Axel Bolder, Walter R. Heinz, Klaus Rodax
zur Sicherung dec Marktgingigkeit der individuellen Arbeitskraft themati
siert, sondem ebenso die zentrale Bedeutung von Bildung als Ressource fUr
Lebenschancen und - vielleicht mehr denn je -als Option auf ein individuell
gestaltetes Leben. So scheint es uns einerseits problematisch, Bildung und
Arbeit als wenn auch aufeinander bezogene, so doch relativ separate Berei
che zu verstehen, wie dies in der Diskussion urn Bildungs-und Beschiifti
gungssystem im Sinne einer "Entkoppelung" sogar gefordert wird. Anderer
seits diirfte es deshalb nicht Minder problematisch sein, ein hierarchisches
Verhiiltnis der beiden Sphiiren zu unterstellen - demzufolge die Bildungs
erfordemisse und -prozesse dem Diktat wie immer auch ermittelter Qualifi
kationsbedarfe des "Beschiiftigungssystems" unterzuordnen und anzupassen
waren. Vielmehr halten wir es fUr unverzichtbar, die heiden Bereiche inte
griert anzugehen - wie es im Bereich beruflicher Bildung in den neueren,
zwar arbeitnehmerzentrierten, nichtsdestoweniger dennoch arbeitgeberorien
tierten Modellen wie Organisationsentwicklung, Qualitiitszirkel und Lemstatt
schon praktiziert wird.
"Brlicken bauen zwischen Bildung und Arbeit" gibt das Programm der
Jahrbuchreihe vor. Kritisch-emanzipatorischer Tradition verpflichtet, die das
Gedeihen der Okonomie nie als Selbstzweck verstehen kann, werden damit
Grundziige des Selbstverstindnisses angezeigt: wie mit den zur Debatte ste
henden Themen und miteinander umgegangen wird. Thematisch sind damit
zwei Aspekte angesprochen: Interdisziplinaritiit als Programm und die
Absicht, das Projekt durch Neuhelebung und Verstetigung der Diskussion
weiterzutreiben, vielleicht gar erst wieder aufleben zu lassen in einem
Klima okkupierter, restriktiver Denkmuster und symbolischer Politik mittels
wohlfeiler marktgingiger Formeln. Diskurs impliziert den Bezug aufein
ander und auf das Thema - das additive Sammeln von disparaten Beitragen
kann mithin nicht Richtschnur des editorischen Handelns sein. Von daher
bestimmt sich dann das Umgehen miteinander weitgehend von selbst: Jedes
Jahrbuch solI selbst schon Ergebnis von Diskussion und Kooperation sein,
in einem ProzeJ3 der Kommunikation zwischen Herausgebem und Autoren
entstehen.
Das Konzept der Jahrbuchreihe sieht vor, fUr relativ lange im voraus fest
gelegte Themenschwerpunkte jeweils Originalbeitrage einzuwerben. Die
Themenzentrierung der einzelnen Biinde, die allenfalls von N achtragen zur
Diskussion mit den Lesem durchbrochen werden soil, soll der Jahrbuchrei
he ein unverwechselbares Profil verleihen. In den einzelnen Beitriigen wird
nicht nur iiber den Stand von Forschung berichtet, sondem es sollen
Kontroversen iiber den eigenen Fachhorizont hinaus ausgetragen und der
Dialog auch iiber die FachOffentlichkeit hinaus vorbereitet werden. Grundle
gend ist des weiteren die Idee, der nicht zuletzt durch Spezialisierung