Table Of ContentJo hn J. Medina
Die Uhr des Lebens
Wie und warum wir älter werden
Aus dem Englischen von Dietmar Zimmer
Springer Basel AG
Die englische Originalausgabe erschien 1996 unter dem Titel <<The Clock of Ages>> bei Press
Syndicate of the University of Cambridge, Cambridge, England.
© 1996 by Cambridge University Press
Die Deutsche Bibliothek-CIP-Einheitsaufnahme
Medina, John J.:
Die Uhr des Lebens : wie und warum wir älter werden I lohn J. Medina.
Aus dem Eng!. von Dietmar Zimmer.
Einheitssacht.: The clock of ages <dt.>
ISBN 978-3-0348-6061-1 ISBN 978-3-0348-6059-8 (eBook)
DOI 10.1007/978-3-0348-6059-8
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© 1998 Springer Basel AG
Ursprünglich erschienen bei Birkhäuser Verlag, Basel 1998
Softcoverreprint ofthe bardeover 1st edition 1998
Umschlaggestaltung: Atelier Jäger, D-88682 Salem
Gedruckt auf säurefreiem Papier,
hergestellt aus chlorfrei gebleichtem Zellstoff. oo
ISBN 978-3-0348-6061-1
987654321
Für Doris Medina
(1929-1993)
Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9
Teill Wer altert? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15
1 Auf der Suche nach einer allgemeingültigen Definition . . 22
2 Menschenwürdig altern und sterben . . . . . . . . . . . . . . . . . 47
3 Warum überhaupt altern? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73
Teil 2 Wie altem wir? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91
4 Das Altern von Haut und Haaren . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94
5 Das Altern von Knochen, Muskeln und Gelenken . . . . . 109
6 Das Altern des Gehirns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129
7 Das Altern von Herz und Kreislaufsystem . . . . . . . . . . . . 156
8 Das Altern der Lunge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168
9 Was geschieht mit dem Verdauungssystem? . . . . . . . . . . . 178
10 Vom Altern der Sinne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195
11 Das Altern der Fortpflanzungsorgane . . . . . . . . . . . . . . . 219
Teil 3 Warum altem wir? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235
12 Zwei Theorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238
13 Die Fehleranhäufungstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259
14 Der programmierte Tod .......................... 281
15 Die Uhr zurückdrehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 304
16 Schlußbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323
Index 329
Vorwort
Es war Zeit für die letzten Worte.
Meine Mutter lag im Sterben. Seit ich sie zum letzten Mal gesehen
hatte, hatte sie sich nicht sehr verändert. Sie hatte immer noch ihr vol
les Haar, das sie viel jünger aussehen ließ als 64. Doch ihre Stimme ver
riet ihr Alter. Sie war fast eine halbe Oktave höher als die Stimme, die
ich als kleiner Junge gehört hatte; im Laufe der Jahre waren ihre
Stimmbänder rauher geworden. Auch ihre Gesichtszüge, geformt
durch die Zeit und geprägt durch Jahrzehnte liebevollen Lachens, er
zählten von ihrem Alter. Diese Spuren der Vergänglichkeit hatten sie
immer gestört, obwohl sie einmal gelesen hatte, daß Faltenbildung ein
natürlicher, durch nichts aufzuhaltender Vorgang sei. Bereits als junge
Frau schaute sie oft in den Badezimmerspiegel, um das Entstehen der
Falten zu verfolgen. «Die Uhr des Lebens» sang ich dazu auf die Melo
die eines Kirchenliedes, das auch sie gerne gesungen hatte. Sie hielt ei
nen Moment inne. «Man wird nicht jünger, leider», seufzte sie schon
damals, drehte ihren Kopf zum hundertsten Mal und schaute wieder
in den Spiegel.
Als ich jetzt zu ihr kam, lag sie in ihrem Bett. Der Raum war abge
dunkelt, einzig erhellt durch das lautlose Geflimmer eines unbeachte
ten Fernsehgeräts. Ich stellte den Videorecorder ab. Sie war über ei
nem alten Hollywoodfilm eingeschlafen.
«Sie mochten junge Gesichter, weißt du», erzählte sie mir einmal, als
ich noch zur Schule ging. Damals, als sie noch keine Falten hatte, stu
dierte meine Mutter an der Universität Michigan und war eine vielver
sprechende junge Schauspielerin. Außerdem tauchte sie, sang im Chor,
wurde in die Gesellschaft eingeführt, kurzum: Sie war einer dieser
Menschen, die jeden anderen bei der Abschlußfeier ganz blaß ausse
hen lassen, weil er sämtliche Preise bekommt. Was sie noch eindrucks
voller machte, war, daß sie so nett war, immer lachte, immer ein Lä
cheln auf den Lippen hatte, an das man sich den ganzen Tag
erinnerte, das so prickelnd war wie eine frische Limonade.
Wo sie jedoch wirklich brillierte, das war in ihrem Lieblingsfach:
Schauspiel. Sie war so begabt, daß sie in Produktionen mit Fernando
Llamas und Ricardo Montalban auftrat. Sie führte Briefwechsel mit
10 Vorwort
Basil Rathbone, schließlich sogar mit Jane Wyman und Ronald Rea
gan. Beim Durchblättern ihres Nachlasses fand ich einige Briefe und
einen ganzen Stapel Pressefotos, von deren Existenz ich gar nichts ge
wußt hatte. Sie sah so jung darauf aus.
«Sie sagten mir, ich solle nach Hollywood gehen, bevor ich zu alt sein
würde.» Ihre Augen lachten, als sie mir das später einmal erzählte. Ich
begann gerade mit dem College, und sie wollte mir daher ein paar Rat
schläge fürs Leben geben. «Das hatte damit zu tun, daß es praktisch
keine Rollen für Frauen über 30 gab. Ehrlich gesagt, John, es gibt immer
noch keine Rollen für ältere Frauen!» Sie befolgte den Rat ihres Schau
spiellehrers und einiger weniger berühmter Freunde und ging nach Hol
lywood, bevor die Uhr des Lebens auch von ihr ihren Tribut forderte.
Mutter hatte selbstverständlich sofort Erfolg. Ihre Bekannten be
sorgten ihr einen Probeauftritt für einen Kinofilm, und sie schlug alle
ihre Konkurrentinnen aus dem Rennen. «Der Tag, an dem ich erfuhr,
daß ich dabeisein würde, war der glücklichste Tag meines Lebens»,
sagte Mama, «und der traurigste zugleich». Das junge Starlet wurde in
das Büro eines der Produzenten gebeten, um den Vertrag auszuhan
deln. Der Produzent war in der Öffentlichkeit nicht sehr bekannt,
aber er besaß großen Einfluß in dem feudalistischen Star-System der
frühen 50er Jahre. Und als er begann, über die Probleme zu reden,
die er und seine Frau hätten, und wie gut meine Mutter aussehe, und
daß es mit dem Vertrag überhaupt keine Probleme geben würde,
wenn meine Mutter nur ein wenig nett zu ihm wäre, und wie schreck
lich es wäre, sollte sie nein sagen ...
«Ich wußte, was lief, John, und ich wußte auch, daß meine Karriere
beendet sein würde, wenn ich nicht darauf eingehen würde. Ich war
schockiert. In Michigan gab es so etwas nicht. Und schließlich bin ich
in einer anderen Zeit aufgewachsen. Ich dachte kurz nach, und am
Ende war es mir wichtiger, mich jeden Morgen noch im Spiegel be
trachten zu können als jeden Abend auf der Mattscheibe.» Mit diesem
seltsamen Gefühl im Magen, das sich immer dann einstellt, wenn man
aus freien Stücken jahrelang gehegte Wünsche und Träume zu Grabe
trägt, sagte sie nein.
Der Produzent meinte, sie sei verrückt, vor der Tür stünden zehn
weitere Mädchen, die gerne ihre Stelle einnähmen. Mutter meinte,
wie schön für ihn, und er solle die zehn anderen nur gleich anrufen,
und verließ das Büro. «Mir bleiben diese Fotos und ein paar Briefe»,
sagte sie und gab mir einige davon, bevor ich mich auf den Weg ins
College machte.
Das war lange her, und dazwischen lagen Welten. Jetzt bin ich selbst
Vorwort 11
erwachsen und sehe diesen Beinahe-Filmstar und meine lebenslange
Freundin in ihrem letzten Kampf gegen eine Uhr, der sie schon vor
Jahren den Krieg erklärt hatte. Die Ärzte hatten uns gesagt, daß sie
sterben würde, aber wir wußten es schon lange vorher. Sie redete nicht
mehr viel, verlangte höchstens flüsternd nach einem Glas Wasser. Und
wenn sie es bekam, sagte sie «danke» und lächelte.
Ich war jedoch nicht gekommen, um alte Erinnerungen auszutau
schen. Ich wollte ein paar letzte Worte mit ihr reden und dann wieder
gehen, denn ich arbeite als Professor an einer medizinischen Hoch
schule, und ich würde die ganze Nacht fahren müssen, um wieder in
meinem Labor zu sein. Ich setzte mich an ihr Bett und betete. Ich
stammelte etwas wie «Sag Jesus einen schönen Gruß» und berührte
ihre Hand. «Mach' ich», flüsterte sie und verstummte. Dann sagte sie
noch: «Könntest du bitte den Fernseher ausschalten?» Kurz darauf
wurde sie bewußtlos. Eine Woche später starb sie.
Zu diesem Buch
Auch noch so viel theoretisches Wissen kann uns nicht wirklich auf den
Tod eines geliebten Menschen vorbereiten. Wir können uns unsere Ge
fühle vorher ausmalen und uns mit oscarreifer Perfektion darauf vor
bereiten, doch wenn der Tod dann tatsächlich kommt, dann können
die meisten von uns nur noch stammeln. Das Gefühl des Verlustes ist
unerträglich, und die Hilflosigkeit angesichts biologischer Vorgänge,
die wir nicht kontrollieren können, macht uns angst.
Der Tod von Verwandten und Freunden übt auch noch aus einem
anderen Grund einen derart starken Eindruck auf uns aus. Tief unten
in unser aller Unterbewußtsein schlummert das Wissen um die eigene
Sterblichkeit. Wenn jemand stirbt, der uns sehr nahe steht, dann kön
nen auch wir selber sterben. Wenn wir älter werden, treten gewisse un
widerrufliche Veränderungen in unserem Körper auf, die uns ständig
an dieses unentrinnbare Ende erinnern. Dieses Gefühl der Zerbrech
lichkeit gegenüber dem unerbittlichen Lauf der Zeit ist eines der tief
sten, die ich je empfunden habe. Wir spüren das Ticken der Uhr des
Lebens.
Dieses Buch beschreibt eine persönliche Reise. Nicht durch ein frem
des Land oder durch ferne Gedankenwelten. Es ist eine Reise durch
ein Stück Lebenszeit, durch das Innere der Uhr des Lebens, durch
den Alterungsprozeß des Menschen. Es soll eine Erkundungsreise
12 Vorwort
sein. Wir werden an vielen Orten auf der ganzen Welt und an vielen
Stellen in unserem Körper haltmachen. Wir werden anhalten, um uns
Fragen zu stellen, durch die wir den Prozeß des Alterns besser verste
hen können, wie zum Beispiel: «Warum werden unterschiedliche Tier
arten verschieden alt?», «Warum bekomme ich graue Haare?» und
«Verliere ich wirklich mein Gedächtnis?» Weil ich Ihr Reiseführer, zu
gleich aber auch Wissenschaftler bin, möchte ich diese Fragestellungen
aus einer reduktionistischen Perspektive betrachten. Das heißt, ich
möchte mit Ihnen die unvorstellbar komplexe Welt unserer Gewebe
und Zellen und sogar unserer Gene ganz aus der Nähe ansehen. Denn
diese sind letztlich die Bestandteile der Uhr des Lebens. Wir werden
die Uhr beim Ticken beobachten und uns Gedanken über Forschungs
arbeiten machen, die uns womöglich Wege aufzeigen, wie die Funktion
dieser Uhr verlängert werden kann - oder auch, in einigen Fällen, ver
kürzt.
Die erste Etappe unserer Reise führt zurück in die Geschichte. Wir
werden versuchen, Altern und Tod in einen Zusammenhang mit der
Evolution der Arten zu bringen. Warum altern Organismen überhaupt?
Hat unsere Fortpflanzungsfähigkeit etwas mit unserer Lebensspanne zu
tun? Gibt es unsterbliche Lebewesen? Um diese Fragen zu beantwor
ten, müssen wir zunächst einmal zu definieren versuchen, was der Tod
im allgemeinen und der menschliche Tod im besonderen eigentlich ist.
Und das ist, wie wir sehen werden, keine einfache Aufgabe.
Im zweiten Teil werden wir uns mit den Bestandteilen der Uhr des
Lebens beschäftigen. Wir betrachten gemeinsam, wie sich die verschie
denen Gewebe und Organe des menschlichen Körpers im Laufe der
Jahre verändern. Warum bekommt unsere Haut Falten? Was passiert
mit meinem Gehirn? Warum muß ich Bücher, je älter ich werde, immer
weiter weg halten, um den Text zu erkennen? Indem wir diese einzel
nen Organe nacheinander untersuchen, werden wir sehen, wie stark
das Alter unsere Fähigkeiten beeinflußt, auf welche Änderungen wir
uns im Alter einstellen müssen - und worauf wir uns freuen können.
Im letzten Teil werden wir uns damit beschäftigen, wie die einzelnen
Teile zusammenwirken und die Uhr des Lebens zum Ticken bringen.
Anstelle von Geweben und Organen werden wir nun einzelne Zellen
und die Gene betrachten, die in ihnen enthalten sind. Gibt es Gene,
die eine Zelle geplant zum Absterben bringen? Gibt es Gene, die die
Lebensspanne verlängern können? Was kann ich tun, um die Alterser
scheinungen in meinem Körper zum Stillstand zu bringen oder sogar
umzukehren? Um diese Fragen zu beantworten, werden wir untersu
chen, wie verschiedene Gene in einzelnen Zellen und Lebewesen funk-