Table Of ContentClaudia Schittek
Die Sprach- und
Erkenntnisformen
der Rätsel
Claudia Schittek .Die Sprach- und Erkenntnisfonnen
der Ratsel
Claudia Schittek
Die Sprach- und
Erkenntnisformen der Ratsel
VERLAGFURWISSENSCHAFT
UNOFORSCHUNG
CIP-TitelaufnahmederDeutschen Bibliothek
Schittek, Claudia:
Die Sprach- und ErkenntnisformenderRatsel/Claudia Schittek
Stuttgart:M und P, VerI.flirWiss.und Forschung, 1991
(M&P) SchriftenreiheflirWissenschaftund Forschung)
Zugl.:Berlin, Freie Univ.,Diss.,1990
ISBN978-3-476-45007-4
ISBN978-3-476-45007-4
ISBN978-3-476-04165-4(eBook)
DOI 10.1007/978-3-476-04165-4
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"M&P Verlag flirWissenschaftund Forschung
ein Verlag derJ.B.MetzlerschenVerlagsbuchhandlungund
Carl ErnstPoeschelVerlag GmbH in Stuttgart"
©1991Springer-VerlagGmbHDeutschland
UrsprunglicherschienenbeiJ.B.MetzlerscheVerlagsbuchhandlung undCarlErnstPoeschel
VerlagGmbHinStuttgart 1991
Inhaltsverzeiehnis
DieSpraeh- und Erkenntisformender Ratsel
Vorbemerkung S. 1
I.Einleitung S.
A.DerGegenstandund seinUmfeld S. 1
B.Herleitungdes Gegenstands
Das Denkender Ratselund die abendlandische
Rationalitat,
Ratselspracheund normalesSpreehen S. 3
C.Interesseder Arbeit:
Gibtes mehrals eine Rationalitat? S. 8
D.Sehwierigkeitender Bearbeitung S. 9
II.Hauptteil S.1O
A.Die RatselinGesehichteund Gegenwart.
Forsehungund Methode. S.1O
1.Die RatselalsSpraehformender miindliehen
und sehriftliehenTradition S.1O
a) Ratselsammlungenseit der Spatantike S.l1
b) RatselsammlungenimZusammenhangmitder
ChristianisierungZentraleuropas S. 12
e)Die Ratselinder germanisehenUberlieferung S.13
d) Die RatselimlateinisehenMittelalter S. 15
e) Die RatselimHumanismus S.19
f)DieRatselimZeitalterdes Baroekund der
Aufklarung S.20
g)DieRatselim 19.und 20.Jahrhundert S.21
h)Volksratselund Kunstratsel S.24
2.DieRatselalsGegenstandder Forsehung S.32
a) ErstewissensehaftlicheAuseinander
setzungenmitdenRatselnim 19.und
fruhen20.Jahrhundert S.33
b) Die "FinnischeSchule" S.38
c)AndreJolles:"EinfacheFormen"(1929) S.39
d) Die"AmerikanischeSchule" S.45
e) Neuereund neuesteArbeitenzur
Ratselforschung S.65
3.Umrissedes eigenenAnsatzes S.69
B.Analyseund InterpretationausgewahlterRatsel S.79
1.DarstellungderTextgrundlagen S.79
2.KriterienderAuswahlder einzelnenRatsel S.86
3.Weltaufbau-und 5.88
a) Die zweigliedrigen,antithetischenRatsel 5.91
b) Weltaufbau-und Gliederungsratselnach dem
Modell desRatselsvonder Kuh
DreigliedrigeRatsel 5.100
c)Vier- und mehrgliedrigeRatsel 5.114
4.RatseltiberZeit-und Entwicklungsprozesse 5.120
5.Ratseltiber Lebenund Tod 5.130
6.Kosmologienfederlos 5.138
7.Doppeldeutigeund obszoneRatsel 5.149
8.Restposten"KleineFormen" 5.159
III.SchluB 5.163
A.Die Ratsel:Auswertungund Zusammenfassung 5.163
1.FormalsInhalt S.163
2.FormenvonForm S.167
3.FormenvonInhalt S.170
4.Die Ratsel alssoziale Veranstaltungen S.172
5.Erkenntnisder Ratsel S.176
B.Ergebnisseund Fragen S.178
Anmerkungen S.180
Bibliographie S.198
DieSprach- und Erkenntisformender Ratsel
Vorbemerkung
Diese Arbeit ist entstanden aus einer langeren und umwegereichen Beschaftigung
mitdem Themader Ratsel.AmAnfangstand etwas,wasam Endenicht aufgehoben
ist,wasaberwohl auch nicht aufgehobenwerden kann; auf anderemNiveau driickt
JohanHuizingainder Vorredezuseinem"Homo ludens" davon etwas aus,wenn er
schreibt: "Wahrendichmein Buchder Offentlichkeitubergebe,beschleichtmichdie
Furcht, daBviele es trotz all der Arbeit, die darin steckt, flireine unzureichend be
legte Improvisation ansehen konnten, Es istaber nun einmal das Los eines Autors,
der Kulturprobleme behandelnwill,sichzuweilen auf manch ein Gebiet wagen zu
miissen, das er nicht geniigend beherrscht. Aile Wissensliicken erst noch auszufiil
len,war fur michausgeschlossen, und mitdem EinstehenftireinjedesDetail durch
ein Zitat habe ich es mir leicht gemacht. Es hieBfiirmich:jetztschreiben odergar
nicht schreiben. Schreiben tiber etwas, was mir am Herzen lag. Also habe ich ge
schrieben."!
Auch bei meinerArbeit an den Ratselnwaren die beiden Empfindungen, die Hui
zinga hier beschreibt, standige Begleiter: das Geflihl des "nicht genugend Beherr
schens"auf der einen Seite und das andere, dennoch den Versuch"wagen zu mus
sen",wei!dasThemaeinennicht!osHiBt,wei!eseineswar,was"miram Herzenlag".
I.Einleitung
A.DerGegenstandund seinUmfeld
EssoliindieserArbeiturneine sprachlicheForm gehen, die esbereitsseit Hunder
tenvonJahrengibt, die sichaber einertieferreichendenUntersuchungihrerInhalte
und Funktionen,vorallem aberihres Gehaltsbisher weitgehendwidersetzthat: urn
die Ratsel, Dabeistellen sichgleichzweigrundsatzlicheSchwierigkeiten: einerseits,
tiber Formen sprechen zu sollen, die sich typologisch nicht leicht festlegen lassen
und zunachsteinmalnur sehr unscharfals"Ratsel"bezeichnetsind und die sichan
dererseits in verschiedener Hinsicht dagegen sperren, Gegenstande akadernisch
wissenschaftlicherBearbeitungzusein. Sielassen sich,vor aller genaueren Bestim
mung,wesentlich dadurchcharakterisieren, daBsie Gegenfiguren sind gegen die
wissenschaftliche Rationalitat, gegen deren Geschichte, Gesetze, Zwiinge. Ratsel
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sind,sokonntevorabalsHypotheseformuliertwerden,Formen einer Erkenntis,die
wederwissenschaftlichnoch religiosnoch asthetisch-kunstlerischistund dennoch
undzwarprononciert-Erkenntnis zuseinbeansprucht.
VonwelcherArt dieseErkenntis istoder seinkann,welcher Impulssieantreibtund
welcher Formen siesichbedient,inwelchemRahmen siefunktioniert undwassie
leistet,sindFragen,denendieseArbeit nachgehen mochte.
Was aber die Riitselsind, muBvorab, wenn auch in einer vorlaufigen Weise, be
stimmt werden. Unter den Ratseln sollen in diesem Zusammenhang sprachliche
Formen verstanden werden, die traditionell miindlichausgebildet und weitergege
ben wurden, in denen ein Gegenstand der menschlichen Erfahrung in einer eigen
tiimlichen Weise beschrieben, verschliisseltwird und einem Einzelnen oder einer
Gruppe zumRaten,zumEntschliisselnaufgegebenwird.
Diese Ratsel weisen, bei einer groBenVielfaltigkeit der iiuBerenFormen,wieder
kehrende und bestimmende Gemeinsamkeiten in ihrer Bauweise auf, ebenso wie
die Gegenstande, die zu erraten sind, weitgehend innerhalb eines festlegbaren
Spektrums bleiben. Wesentlicher aber noch scheint zu sein, daBder Impuls, aus
dem heraus die Ratsel entstanden und benutzt worden sind, bis in die Gegenwart
hineinlebendiggeblieben ist.DaswirdspiirbarindembesonderenReiz-oder dem
Widerstand -,den die Ratsel, die zum Raten aufgegeben werden, beim Befragten
auslosen.Bisheute findenwir,daBdieRatsel -beispielsweiseeinsobekannteswie
"Hatsieben Haut', beiBtaile Leut."-sofortund richtigempfunden werden alsFra
gen, die mit einer deutlichen Dringlichkeit eine Antwort fordern und dabei doch
weder dem Bereich der iiblichen Wissensfragen angehoren noch bloBes Spiel,
Scherz,Unterhaltungsind.
Die Ratsel sind hier Gegenstand des Interesses alsbesondere sprachliche Formen,
innerhalb deren Menschen sichmit Erfahrung auseinandersetzen und miteinander
ilber Erfahrung verstandigen konnen und so einer Erkenntnis teilhaftig werden
konnen,dieihnenandersnichtangstfreizuganglichist.
AnstoBzu dieser Arbeit war eine Beobachtung: stellt man einer Reihe von ver
schiedenen Personen Ratsel, solassensich,schematisierend, drei sehr unterschied
liche Weisen der Reaktion beobachten: einmal gibt es Personen, die nach einem
kurzen Nachdenken, oft einem Nach-Sagen der Ratselfrage, einem nicht sichtlich
geregelten Nachspiiren, eine richtige Antwort zu geben vermogen, wohingegen es
aufder anderenSeite Menschengibt,dieeine MengeKraft und Konzentration auf
bieten, Vermutungen auBern,Zusatzfragen stellen,den Wortlaut der Fragestellung
zuklaren versuchen,unddennochderAntwortnichtnaherkommen,ja, nichteinmal
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eigentlich die Frage richtigverstehen; eine dritte Gruppe schlieBlichlaBtsiehaus
machen, deren Reaktion bereits vor der Alternative einer riehtigen oder falschen
Antwort gleiehsamwiegebannt verharrt:siewehren sichgegendas Befragtwerden,
gegenden Gestus deseinen,der befragtund dabei dochbereits weiB,der alsonieht
fragt,weiler wirklichetwaserfahren will,waser nichtweiB, sondern der fragt,urn
den anderen spiiren zu lassen,daBeben der eine weiB und der andere nieht weiB.
Dagegenstraubt siehinnichtwenigenetwaszutiefstundbeharrlich. Hierankniipfte
sichdieFrage, obdiesesiehhaufigwiederholendeBeobachtung,an dersichnahele
gende auBerlicheErklarungen ganz abglitten, vielleicht einerseits mit einer beson
deren Beschaffenheit unseres Denkens und Erkennens undandererseits mitspezifi
schenFormen desDenkensundErkennensderRatselzutunhaben konnte,
B.HerleitungdesGegenstands
DasDenken der Ratselunddieabendlandische Rationalitat
RatselspracheundnormalesSprechen
Ratsel nennt mangewohnlichdas,wasmanniehtversteht, Phanomene,Zusammen
hange, AuBerungen, ftir die man keine Erklarung weiB, deren Sinn einem unzu
ganglichbleibt, die sieh mit unserem Brkenntnisvermogen nieht durchdringen las
sen. In einem engeren Sinn sind Ratsel diejenigen einfachen, gebundenen, volks
tiimlichen Sprachformen, die siehprogrammatisch dagegen sperren, klar zu reden
und umstandslos und direkt erkannt zuwerden;genauer, die ihren Sinnvieldeutig
oder verhiillt ingebundenerRede aufzulosen-und dasheiBt:zuerkennen -aufge
ben. Von dieser Spannung sindsiewesentlichbestimmt:siehnieht zuerkennen zu
geben,sichzuverbergenundzuverstellen undandererseitsErkenntiszusuchen,zu
fordern, zu transportieren. Davon ist ihre Form gespannt,die nur wenigVerande
rungen duldet. Obwohldie Ratsel,wie Marchen und Fabeln etwa, der miindlichen
Traditionangehorenund damit,sodenkt man,sichineinem FluBbestandigerUm
formung befinden, besitzen sie ein hoheres MaBan Fixiertheit, an Institutionali
siertheit.
Dasistvorandereminihrer besonderenFunktion begriindet. Ratsel gibteswohlin
allen Kulturen der Erde,siesindiiberliefert ausZeiten,in denen die Schriftunbe
kannt oder Privileg war. Aber wahrend vergleiehbare Formen wie Heldenlieder,
Epen und rituelle Formeln aus dem gewohnlichen Gebrauch verschwunden sind,
haben sichdie Ratsel erhaltenund leben weiter. Das hat seinen Grund womoglich
darin, daB es in den Ratseln nicht darum geht, Kunde zu geben vom Ruhm und
SchieksalEinzelner oder ganzer Sippen, auch nieht urn den Ausdruck von Glau-
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bensgehaltenbestimmterhistorischer und sozialer Gemeinschaften.Wasdie Ratsel
hat uberleben lassen, ist ihre Erkenntnisfunktion,ihr Vermogen, gelebte menschli
che Erfahrung auszudriicken, weiterzugeben, zu klaren und Erkenntnis aus ihr zu
schopfen,einen Rat ausihrzugewinnen.Das rucktsieindie Nahe der anderenan
gefiihrten Formen wie Heldenlieder, Epen oder Marchen - auch diese suchen auf
ihre Weise und neben anderem Erkenntnis ., aber es nickt sie ebenso von diesen
Formenab:furdie Ratsel istdie Erkenntnisfunktion die bestimmende, die aile lib
rigen rnoglichen Funktionen relativiert. Oberall,woRatsel gebraucht werden, geht
esurnErkenntis. undurndiesegeht esdem Menschen,seiter der Sprache machtig
ist,wo und wie immer er lebt. Von diesem Impuls des Menschen nach Erkenntnis
beziehen die Ratsel tiber die Jahrhunderte hinwegihre Kraft, sich zu erhalten, le
bendigzubleiben, reizvoll,provozierend, verwirrend.
Diese besondereund hervorragende Funktion der Ratsel bestimmt ihresprachliche
Form.Ratsel sind anders als normalesSprechen.Siesind Sprachformen, in denen
sich Wahrnehmungen und Erfahrungen, Fragen und Unsicherheiten ausdnicken
undmitteilenlassen,indenen Erkenntnisgewonnenwerden kann aufnochunsiche
rem Terrain, verhullt, tastend, gemeinsam mit anderen sich eines Fragilen oder
auch eines Bedrohlichen versichernd. Die Ratsel sind die einzigen Formen der
Sprache, die nicht der Verpflichtung zum Klarreden unterliegen:sie diirfen etwas
sagen,was unverstandlich und dunkel ist und sind dennoch sprachlich und gesell
schaftlichgeduldetundanerkannt.
DieSprache der Ratsel istanders alsdie normale Sprache, weilsienicht kommuni
kativ ist wie diese: die Ratsel wollen sich nicht verstandlich machen, wollen nicht
klarund deutlich sagen,wassie meinen, wollennicht unmilsverstandlich,nicht ein
deutig sein. Normales Sprechen dagegen willsichverstandlich machen; ihm ist es
darum zutun,eine Informationzuubermittelnundsiemoglichstgetreu zuubermit
teln,wobeidas MaBdieser TreuedasMitsichselbstgleichseindes Gesagtenist.Rat
sel dagegen transportieren keine Informationen. Sie sind getragen von Erfah
rung und was sie iibermitteln wollen, ist etwas, das sie noch gar nicht besitzen;
Mitsichselbstgleichheit ware fur die Ratsel Sinnlosigkeit. Mit anderen Worten be
deutetdas, daBftirdie Ratsel das Gebotder Identitatnicht gilt,das ansonsten das
bestirnmende GebotabendlandischerVernunft undSprache ist.RatselsindFormen
nichtidentischen Denkens und Sprechens, die dennoch nicht nur nicht verriickt,
sondern Formen vonErkenntniszuseinbehaupten.
Noch einmal: was die Ratsel sagen, "stimmt"nicht, istwiderspriichlich, unmoglich.
Wiesieselbst inihrer Form mitsichnicht identisch sind,spielen siemitder Identi-
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