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lungbringen.DamitsindsiebesondersfürdieNutzungaufmodernenTablet-PCs
und eBook-Readern geeignet. In der Reihe erscheinen sowohl Originalarbeiten
wieauchaktualisierteundhinsichtlichderTextmengegenauestenskonzentrierte
BearbeitungenvonTexten, dieinmaßgeblichen, allerdingsauchwesentlichum-
fangreicherenWerkendesSpringerVerlagsanandererStelleerscheinen.DieLeser
bekommen „self-contained knowledge“ in destillierter Form: Die Essenz dessen,
worauf es als „State-of-the-Art“ in der Praxis und/oder aktueller Fachdiskussion
ankommt.
Rachid Ouaissa
Die Rolle der
Mittelschichten im
Arabischen Frühling
Ein Überblick
Prof.Dr.RachidOuaissa
Philipps-UniversitätMarburg
Deutschland
ISSN2197-6708 ISSN2197-6716(electronic)
ISBN978-3-658-04949-2 ISBN978-3-658-04950-8(eBook)
DOI10.1007/978-3-658-04950-8
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Vorwort
RevolutionenundRevoltensindoftunglücklicheundnichtimmervorhersehba-
reVerkettungenvongeschichtlichenZufällen. DerErfolgbzw. Misserfolgdieser
RevoltenundRevolutionenhängtvonderStabilitätbzw.Dauerhaftigkeitderspo-
radischentstandenenAllianzenzwischendentragendenGruppenundSchichten
ab.DieseAllianzenhängenwiederumvonderKollisionoderKonkordanzderoft
konfligierendenInteressenderinvolviertenAkteureab.
EinerdergewichtigstenAkteurevonRevoltensinddieMittelschichten.Indie-
semBeitragwerdendieGründederRevoltenvon2011inderarabischenWeltmit
demBlickaufdieMittelschichtenanalysiertundindenhistorischenRahmender
großenTransformationenderGesellschaftendesNahenOstensundNordafrikas
eingeordnet. Dabei werden auch die Chancen der Demokratisierung der Region
diskutiert.
DerBeitragwarursprünglichTeildesBuches„Arabellions“,herausgegebenvon
AnnetteJünemannundAnjaZorob, erschienen2013imVerlagSpringerVS.Er
wurdefürdieseVeröffentlichungaktualisiertundüberarbeitet.
Marburg,imJanuar2014 RachidOuaissa
V
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung ....................................................... 1
2 DieMittelschichtenalsanalytischeKategorie ....................... 3
3 DieMittelschichtenalstreibendeKraftderGeschichteder
arabischenWelt.................................................. 9
4 DieislamistischenBewegungenalsneueRentiers ................... 13
5 AufstiegeinerglobalkonsumierendenMittelschicht................. 17
6 Fazit ............................................................ 23
Literatur ............................................................ 25
VII
1
Einleitung
DieWellevonProtesten,diebreiteTeilederarabischenWelterfassthat,hatsowohl
politische Beobachter als auch Experten überrascht. Der sogenannte „arabische
Frühling“hatgroßeDiskussioneninpolitischenundinMedienkreisenausgelöst.
Dabeiwirdgernevergessen,dassRevoltenunterschiedlicherFormenundIntensi-
tät,gegendieherrschendeKlasse,zumAlltagderGesellschaftendesNahenOsten
seitAnfangdes19.Jahrhundertsgehören(KazemiundWaterbury1991;Zubaida
2008). MitderEingliederungdesOsmanischenReichsindieWeltwirtschaftden
Tanzimat-ReformenundderUmstrukturierungderAgrarwirtschaft,warendiese
RevoltenAusdruckdesKampfs,umdieRepositionierungundRe-Konfigurationen
unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen und Klassen im Produktionssystem
(Burkeet.al.1988;Burke1991,S.24–27).
Auch die jüngsten Revolten und Aufstände in der arabischen Welt sind Aus-
druckvonschichtenbezogenenKontraktionenbzw.alsKampfbestimmterKlassen
derGesellschaft, umderenPositionzustabilisierenbzw. zuverbessern, ansehen.
Diese Klasse wird hier als, die in ihrem Aufstieg blockierte Mittelschicht iden-
tifiziert. Zwar waren auf dem Tahrir-Platz in Kairo sowie in anderen arabischen
HauptstädtenMitgliederausallenBevölkerungsschichtenandenDemonstrationen
beteiligt,jedochgiltesalsunumstritten,dassdieAngehörigenderMittelschichten
dietragendeKraftderRevoltenwaren(Maher2011).IndiesemBeitragwerdendie
GründederAufständeimJahre2011mitdemBlickaufdieaufsteigendenMittel-
schichtenanalysiertundindenhistorischenRahmendergroßenTransformationen
derGesellschaftendesNahenOstensundNordafrikaseingeordnet.Dabeiwerden
auchdieChancenderDemokratisierungderRegiondiskutiert.
R.Ouaissa,DieRollederMittelschichtenimArabischenFrühling,essentials, 1
DOI10.1007/978-3-658-04950-8_1,©SpringerFachmedienWiesbaden2014
2
Die Mittelschichten als analytische
Kategorie
Die Klassendiskussion in Bezug auf die Staaten und Gesellschaften des Nahen
und Mittleren Ostens ist eine alte Diskussion, die bis zur vorkolonialen Zeit
reicht (Beinin und Lockmann 1987; Lockman 1994) und die wissenschaftlichen
Debatten der postkolonialen Phase im Rahmen der Entwicklungsdebatten do-
miniert (Turner 1984; Amin 1976; Batatu 1978). Zusammengefasst kann man
drei Debattenstränge identifizieren. Eine erste Gruppe von Autoren sieht auf-
grunddernichtetabliertenkapitalistischenStrukturen,fehlenderIndustrialisierung
und der Dominanz ethnischer, religiöser und tribaler Mobilisierungsmechanis-
mendieKlassenanalysealsnichtergiebigfürdieGesellschaftenderMENA-Region
(Turner1984,S.1–66).FürdiezweiteGruppegiltdieAnwendungdermarxistisch-
weberianischenKlassenanalysealsgegeben(Turner1984).SamirAminsprichtvon
Klasseninprä-kapitalistischenUmständen.ZwarformierensichKlassennurunter
Industrialisierungsbedingungen,jedochistAminderMeinung,dassdurchdieim-
perialistischenZügeEuropassichembryonäreKlassenformierthaben(Amin1976).
DiedritteGruppebündeltdiebeidenAnalyseraster,nämlichdieÜberlappungdes
Klassencharakters und der tribalen und kulturellen Strukturen (Halpern 1963).
Für die Vertreter dieser Gruppe führt zwar die Anbindung der wirtschaftlichen
StrukturenderRegionandieWeltwirtschaftzurEntstehungvonklassenähnlichen
Strukturen, jedoch dienen weiterhin Ethnie, Glaube und Familie als Mobilisie-
rungskanalundwenigerdieKlassenzugehörigkeit.DerRückgriffaufdiefamiliären
und tribalen Sippensolidaritäten als Antwort auf lokale und globale wirtschaftli-
cheVeränderungenistnötig,weileinKlassenbewusstseinnichtvorhandenist.Die
Verzahnungzwischentribal-familiär-religiösenStrukturenundKlassenstrukturen
hatBatatufürdenIrakundSyrienbeschrieben(Batatu1978,1999).
DerBegriffMittelschichtbzw.„middleclass“istnichteinfachempirischzuer-
fassen (Savage et al. 1992). In der Literatur wird zwischen „alten“ und „neuen“
Mittelschichten unterschieden (Liaghat 1980). Während mit den alten Mittel-
schichten urbane Händler und selbständig Beschäftigte (self employed) gemeint
R.Ouaissa,DieRollederMittelschichtenimArabischenFrühling,essentials, 3
DOI10.1007/978-3-658-04950-8_2,©SpringerFachmedienWiesbaden2014
4 2 DieMittelschichtenalsanalytischeKategorie
sind,werdendietechnischenBerufe,AngestellteinBürokratie,BildungundDienst-
leistungssektor mit dem Begriff neue Mittelschichten bzw. „professional middle
class“zusammengefasst(Robinson1993).IndermarxistischenTerminologiewer-
dendieBegriffe„petitbourgeoisie“,„coordinatingclass“sowie„managerialclass“
und„professionalclass“gebraucht(Savageetal.1992,S.194).InEuropahatsich
diese Klasse im Zuge der Industrialisierung ab 1760 formiert (Hobsbawm 1995;
Wahrman1995). DieExpansiondesKapitalsimZugederIndustrialisierunghat
denAufstiegneuerGruppen(Ingenieure,SoldatenTechniker,Wissenschaftleretc.)
ermöglicht.DieseSchichtwurdeimmerbreiterundfordertePartizipationsrechte.
Hobsbawm bezeichnet dies als Selbstentmachtung der Aristokratie (Hobsbawm
1989).DieMittelschichtistdeswegenschwerzuerfassen,weildasobereopportu-
nistische Segment, das dazu neigt, mit der Bourgeoisie in Allianz zu gehen, und
das„ängstliche“untereSegment, dasnichtsmehralsdensozialenAbstiegfürch-
tet, unterschiedlicheZielehaben. DiefehlendegemeinsameStrategiedrücktsich
auchineinermangelndenkollektivenIdentität,Kampfgeistunddementsprechend
fehlendengemeinsamenpolitischenZieleaus(James2006).
InderSprachevonBourdieuhandeltessichumeine„wahrscheinliche“Klas-
seundeine„quasi“Klasse, dienurdurchähnlichenHabituszuidentifizierenist
(Bourdieu1982, 1998, S.24). FürBourdieudefinierensichdiegesellschaftlichen
Schichten und damit auch die Mittelschichten, durch deren Potential, bestimm-
teKapitalsorten(kulturelles, symbolischesundökonomisches)zuakkumulieren.
DurchdieStrukturdesangeeignetenKapitalsdefiniertsichdiePositionderAk-
teureimSozialraum.DieDispositionderKapitalsortendeterminiertdenHabitus
und damit werden auch das kulturelle und Alltagsverhalten der Mittelschichten
identifiziert.
InihrerStudiezudenenglischenMittelschichteninderÄraMargretThatchers
sprechen Savage et al. anlehnend an Wright, von bestimmten „assets“, die die
MitgliederdieserSchichtbesitzen:„Wehavenowspecifiedthreeassetswhichaffect
theactualprocessesofclassformation.Thesearepropertyassets,organizationassets
andculturalassets.Butthesemustbeseeninrealisttermsassocialentities,rather
thanasdescriptiveclassificatorydevices“(Savageetal.1992,S.17).DieMitglieder
dieser Schicht besitzen bestimmte Fertigkeiten bzw. Begabungen und Skills, wie
Fremdsprache,Organisations-undKreativitätstalent,Unternehmungslustetc.,die
sieinihremSozialaufstiegeinsetzenkönnen.(Savageetal.1992,S.18ff.)
DieseKlassewirdzwarvonderArbeiterklasseundderBourgeoisieunterschie-
den,jedochalseineKlasseohneeigenenCharakterwahrgenommen.EineKlasse,
derenAufstiegnichtdirektdasErgebnisdesKampfeszwischenArbeitundKapital
ist, sondernderenMitgliedereheralsNutznießerdiesesKampfeszusehensind.
DerAufstiegdieserKlassehängtvorallemvonRegulierungsmechanismendesStaa-
tesbzw.derherrschendenKlasseab.DieMittelschichtensinddurcheinegewisse