Table Of ContentKurt Sier
Die Rede der Diotima
Beiträge zur Altertumskunde
Herausgegeben von
Ernst Heitsch, Ludwig Koenen,
Reinhold Merkelbach, Clemens Zintzen
Band 86
S
Β. G. Teubner Stuttgart und Leipzig
Die Rede der Diotima
Untersuchungen zum platonischen Symposion
Von
Kurt Sier
B. G. Teubner Stuttgart und Leipzig 1997
Gedruckt mit Unterstützung der Förderungs-
und Beihilfefonds Wissenschaft der VG Wort GmbH,
Goethestraße 49, 8000 München 2
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme
Sier, Kurt:
Die Rede der Diotima: Untersuchungen zum platonischen Symposion /
von Kurt Sier. - Stuttgart; Leipzig: Teubner, 1997
(Beiträge zur Altertumskunde; Bd. 86)
Zugl.: Saarbrücken, Univ., Habil.-Schr., 1995/96
ISBN 3-519-07635-7 Gb.
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt.
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© B. G. Teubner Stuttgart 1997
Printed in Germany
Druck und Bindung: Röck, Weinsberg
VORWORT
Die vorliegende Arbeit ist die geringfügig veränderte Fassung einer
Habilitationsschrift, die im Wintersemester 1995/96 von der Philosophischen
Fakultät der Universität des Saarlandes angenommen wurde. Sie bildet den
fundierenden Bezugspunkt eines in Vorbereitung befindlichen Kommentars
zum platonischen Symposion.
Ich danke meinem Lehrer Carl Werner Müller für seine nie versagte Hilfe
und den freundschaftlichen Beistand, mit dem er die Entstehung der Arbeit
und zumal ihren Abschluß begleitet hat. Für wertvolle Hinweise und Anregun-
gen danke ich Woldemar Görler, Kuno Lorenz, Bernd Manuwald (Köln) und
Peter Steinmetz, für bibliothekarische Unterstützung Frau Rosemarie Degen.
Mein Dank gilt ferner der Deutschen Forschungsgemeinschaft, die durch Ge-
währung eines zweijährigen Habilitationsstipendiums eine zügige Fertigstel-
lung der Arbeit ermöglichte, den Herausgebern der >Beiträge zur Altertums-
kunde<, besonders Ernst Heitsch und Clemens Zintzen, für die Aufnahme
der Schrift in diese Reihe, der VG Wort GmbH für einen namhaften Zuschuß
zu den Druckkosten und dem B.G. Teubner Verlag für die verständnisvolle
Zusammenarbeit.
Gewidmet sei das Buch meiner Frau und Jan Christopher, geboren am 11.
April 1991.
Saarbrücken, im September 1996 KS.
INHALTSVERZEICHNIS
Einleitung IX
1. Die Einführung Diotimas (201dl-e7) 1
Einzelerklärung 14
2. Das Wesen und die Beschaffenheit des Eros (201e8-204c6) .... 19
2.1 Die kognitive Struktur des Eros 21
2.2 Die vermittelnde Funktion des Eros 34
2.3 Diotimas >Theologie< 43
2.4 Die >Aitiologie< des Eros 50
Einzelerklärung 59
3. Das Wirken des Eros (204c7-212a7) 91
3.1 Diotimas Theorie 96
3.2 Die deskriptive Anwendung der Eros-Theorie 125
3.3 Die normative Anwendung der Eros-Theorie 145
3.3.1 Der Aufstieg zur Idee 147
3.3.2 Die Charakterisierung der Idee 172
3.3.3 Die Erkenntnis der Idee und das Ziel des Eros 182
Einzelerklärung 198
4. Epilog (212bl-c3) 291
Schlußbetrachtung
Philosophie und Teleologie — Zur Komposition der Diotima-Rede 293
Abkürzungen, Literaturverzeichnis 298
Stellenregister 306
EINLEITUNG
Piatons Symposion trägt in den mittelalterlichen Handschriften und im
Werkverzeichnis des Diogenes Laertios (3, 58) den wenig spezifischen .Unter-
titel Über das Gute. Er wirkt wie eine bibliographische Verlegenheitslösung,
um das Signum Über den Eros, das nach der >Thematik< des Dialogs zu er-
warten wäre1, für den nachfolgenden Phaidros aufzusparen. Indes ist die
Titelgebung, welche Erwägungen ihr auch zugrunde liegen mögen, nicht so
einfallslos, wie es zunächst den Anschein hat. Wenn Piaton sich in zwei Dia-
logen mit dem Eros-Phänomen beschäftigt und dazu im Lysis das benach-
barte φιλία-Thema diskutieren läßt, so legt dieses Interesse von selbst die
Frage nahe, was der Komplex des Begehrens und Liebens für das platonische
Philosophieren bedeutet, in dessen Mitte der Begriff des Guten steht. Die
zentrale Partie des Symposion hat eben diesen Aspekt, den Zusammenhang
von ερως und άγαθόν, zum Gegenstand, und περί άγαθοΟ als Auszeichnung
des Dialogs scheint von daher nicht unpassend; die vorliegende Arbeit wird
diese Bestimmung zu präzisieren suchen. Zur Einführung sei zunächst der
Hintérgrund skizziert, auf dem die Fragestellung Piatons sich verstehen läßt.
Die Mahnung zur Selbsterkenntnis, die die Inschrift am Apollontempel von
Delphi, das γνώθι σαυτόν, formulierte, ist bekanntlich keine Aufforderung
zur Introspektion, sondern eine Grenzziehung und meint, der Mensch solle
sich in seiner Sterblichkeit und der Distanz zum Gott erkennen. Selbster-
kenntnis als Selbstbescheidung ist auch die Grundlage des sokratischen Philo-
sophierens. Aber die >menschliche Weisheit< des Sokrates, die das delphische
Orakel beglaubigt (Piaton Ap. 20 d; 23 a b), nimmt die Einsicht in die Unzu-
länglichkeit menschlichen Wissens zum Anlaß einer >Sorge um die Seele* (ib.
29 d-30 b), die den Mangel, sokratisch verstanden, zum Geschenk werden
läßt, da der Mensch erst im reflektierenden Rückgang auf sich selbst zu dem
werden kann, was er ist. Der Wendung nach >innen< korrespondiert dabei in
sokratischer Auffassung notwendig ein Weltbezug, der der Selbstreflexion
einen Inhalt gibt, wie das Bewußtsein des Nichtwissens seinen Sinn darin
erfüllt, daß es der Suche nach Erkenntnis den Boden bereitet. Nach dieser
1 Das älteste explizite Zitat, eine Stelle in der aristotelischen Politik (2, 4. 1262 b 11-
13), führt das Symposion als >die Reden / Gespräche über den Eros< an (καθάπερ έν TOÎÇ
έρωτικοΐ; Àóyoij ΐσμεν λέγοντα τον Άριστοφάνην κτλ.; vgl. Symp. 172 b 2). Ob der Titel
des aristotelischen Symposion, das περί μεθη$ handelte (p. 8ff. Ross), vom platonischen
Dialog angeregt war, ist zweifelhaft; die Politik-Stelle spricht jedoch nicht dagegen.
χ Einleitung
Seite ist der sokratische Ansatz jedenfalls bei Piaton ausgelegt, für den die
Frage nach dem Verhältnis von innen und außen, Selbstbesinnung und Welt-
erkenntnis, zentrale Bedeutung hat. Im Charmides etwa zeichnet sich in der
aporetischen Dialogführung der Gedanke ab, daß eine als Wissen des Wissens
verstandene Selbsterkenntnis nur in der Form möglich sei, daß die reflexive
Episteme sich auf ein objektbezogenes Wissen richte, dessen Gegenstände sie
mitintendiert und unter dem Aspekt des Guten beurteilt (172 c-175 a). Am
Anfang desselben Dialogs erscheint Sokrates als der ερωτικός, der von der
Schönheit des jungen Charmides fasziniert und verwirrt ist (154 b c; 155 c d),
doch hat Piaton darauf verzichtet, den sokratischen Eros zum Problem der
Selbsterkenntnis in Beziehung zu setzen. Andere Werke machen deutlich,
daß hier in der Tat eine Verbindung besteht: Sokrates ist als der archetypi-
sche Philosoph auch >Erotiker< κατ' εξοχήν, und der Eros figuriert bei Piaton
immer wieder als Chiffre für Philosophie.
Was in dieser Konzeption mitgegeben ist, wird im folgenden am Symposion
genauer erläutert werden; hier sei nur ihre Sinnrichtung vorläufig bezeichnet.
Man pflegt das Wort è'pcoç mit >Liebe< zu übersetzen, doch kann dieser Begriff,
vieldeutig wie er ist, irreführende Assoziationen wecken. Der gängige Wort-
gebrauch wird von Dover (S. 1) gut beschrieben: »This word, which can denote
any very strong desire (e.g. for victory) and is used also by Homer (in the form
ερος) to denote appetite for food and drink, usually means >love< in the sense
which that word bears in our expressions >be in love (with...)< [...] and >fall in
love (with...)< [...]: that is, intense desire for a particular individual as a sexual
partner. The word is not used, except rhetorically or humorously, of the rela-
tions between parents and children, brothers and sisters, masters and ser-
vants or rulers and subjects«. Im folgenden ist als Übersetzung statt >Liebe<
eher »Begehren, Verlangen, Streben< gewählt. Gerade für die Bedeutung des
personalen Eros ist nicht unwichtig, daß es sich um eine Liebe oder Verliebt-
heit handelt, die auf der asymmetrischen Struktur des Begehrens beruht. Die
Rollenverteilung zwischen Liebhaber (εραστής) und Geliebtem (έρώμευος)
entspricht der Relation des Begehrenden zum Begehrten und setzt voraus,
daß dieser etwas hat oder ist, dessen jener bedarf2; ein reziprokes Verhältnis
der Partner hängt davon ab, daß auch der έρώμενος (in anderer Hinsicht) auf
den εραστής angewiesen ist, d.h. selbst zum εραστής wird, und beide in der
komplementären Doppelung von Mangel und Vermögen zusammentreffen.
Im Phaidros wird dies aus platonischer Sicht näher beleuchtet: der Erast
2 Piaton bindet auch das allgemeine Wort für >Liebe<, φιλία, öfter an den Begriff des
Begehrens, wie er unter >Philo-sophie< die Sehnsucht nach einem Entzogenen versteht. Vgl.
unten den Kommentar zu Symp. 204 a 1-2. — Eine etwas andere Einschätzung gibt sich
Leg. 837 a 6-9 zu erkennen.