Table Of ContentTImo Borst
Die Praxis in der Priisentation
Sozialwissenschaft
~
TImo Borst
Die Praxis
in der Prasenlalion
Ein sequenzanalytisches Verfahren
zur Untersuchung von Bundestagsreden
Mit einem Geleitwort von HD Dr. Thomas Noetzel
Deutscher Universitiits-Yerlag
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme
Borst, Timo:
Die Praxis in der Prasentation : Ein sequenzanalytisches Verfahren zur
Untersuchung von Bundestagsreden/ Timo Borst. Mit einem Geleilw.
von Thomas Noetzel. - Wiesbaden : DUV, Dt. Univ.-Ver!., 1999
(DUV : Sozialwissenschaft)
lug!.: Marburg, Univ., Diss. 1999 u.d.T. Barst, Timo: Die
Praxis in der Prasentation ; Ein sequenzanalytisches Verfahren
zur Untersuchung von Bundestagsreden im AnschluB
an die Objektive Hermeneutik
ISBN-13:978-3-8244-4379-6 e-ISBN-13:978-3-322-81261-2
DOl: 10.1007/978-3-322-81261-2
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© Deutscher Universitats-Verlag GmbH, Wiesbaden, 1999
lektorat: Ute Wrasmann / Tatjana Rollnik-Manke
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ISBN-13:978-3-8244-4379-6
Geleitwort
Die Untersuchung parlamentarischer Praktiken gehOrt zu den traditionellen Feldern
politikwissenschaftlicher Forschung. So bestimmt die Debatte iiber die Bedeutung der
parlamentarischen Redehandlung seit langem die politische Philosophie. Dabei kann
zwischen zwei Paradigmen unterschieden werden. Der klassische Liberalismus verbin
det mit der parlamentarischen Rede die Vision einer kommunikativen Vernunft, wel
che sich iiber den Austausch von Argumenten und der Bereitschaft, sich dem besseren
Begriindungskontext anzuschlieBen, die Perspektive einer unendlichen Perfektibilitat
eroffnet. Demgegeniiber behauptet die klassische Liberalismuskritik, daB mit der zu
nehmenden Bedeutung von Verbanden und Parteien im politischen System entwickel
ter industrieller Formationen die Deliberation der Vernunft durch Verhandlungsprozes
se und Interessenkompromisse ersetzt worden sei. Im Parlament treffen danach nur
noch Reprasentanten gesellschaftlicher Machtfigurationen aufeinander, die nicht am
Austausch von Argumenten, sondern allein an der Optimierung ihrer Kalkulationen
interessiert seien. In dieser Analyse wird die beobachtbare parlamentarische Rede, wie
sie zum Alltag reprasentativ-demokratischer Systeme gehort, zur Verschleierung "ei
gentlicher", im Hintergrund ablaufender Entscheidungen.
Es gehort zu den Verdiensten der vorliegenden Studie, daB sie diese grobschlachtigen
Dichotomien vermeidet. Zwar weist Borst in seiner genauen Analyse der Geschafts
ordnung des Deutschen Bundestages auf die Differenz zwischen individueller und in
stitutioneller Sprechhandlung hin, aber diese Spannung kann nicht zu Ungunsten der
kommunikativen Potentiale parlamentarischen Debattierens aufgelost werden. Wenn
auch die Debattenteilnehmer in die Struktur der Geschaftsordnung des Deutschen
Bundestages eingebunden sind und als Sprecher ihrer jeweiligen Fraktionen aufireten,
so konnen sie diesen institutionellen Rahmen nur fUllen, wenn die parlamentarische
Debatte mehr ist als das gemeinsame Zuhoren hintereinander aufgefiihrter Monologe.
Borst zeigt, daB der Riickgriff auf Beschreibungsformeln wie 'arguing' undloder 'bar
gaining' der parlamentarischen Interaktion nicht gerecht wird. Stattdessen muB jede
Untersuchung parlamentarischen Handelns an der re1ativen Offenheit der jeweiligen
Sprechhandlung ansetzen. Auch die fUr den unsensiblen Beobachter so einleuchtend
als schematisch, sklerotisiert, vorentschieden und pflichterfUllend zu beschreibende
v
Debatte ist das Ergebnis eines Interaktionsprozesses. Der Autor verfiigt nun uber ge
nug henneneutisches Geschick, urn nicht in die Falle der eingefahrenen - und eben
unsensiblen - Parlamentskritik zu tappen. Borsts Starke besteht in dem geduldigen Zu
Mren; das Verstehen anderer, die luzide Untersuchung der Intentionen und Interaktio
nen jeweiliger Akteure geMrt zu seinen groBen Flihigkeiten. Mit Hilfe des Instrumen
tariurns der objektiven Henneneutik wird in der vorliegenden Studie zum erstenmal der
politikwissenschaftliche Nachweis gefiibrt, daB die parlamentarische Debatte aIs offe
ne Interaktionssequenz gedeutet werden mull. In einer ausfiihrlichen Satz-fiir-Satz
Analyse zeigt der Autor genau, aus welchen moglichen Redealtemativen der Sprecher
auswiihlt und warum er das tut. Im Zuge seiner Analyse bestiitigt Borst dann auch die
operative Fruchtbarkeit der Unterscheidung von "latenten" und ,,manifesten" Sinnge
haIten. FOr die weitere politikwissenschaftliche Forschung ist von besonderem Ge
winn, daB die "Praxis in der Prlisentation" nun nicht bei der Bestiitigung der in anderen
sozialwissenschaftlichen Kontexten entwickelten objektiven Henneneutik stehen
bleibt. 1st die objektive Henneneutik ein probates MitteI zur Untersuchung von Sozia
Iisationsmustem, so mull eine politikwissenschaftliche Anwendung diese Individual
ebene verlassen, geht es doch nicht um die Analyse der Verbindung von individueller
Handlung und gesellschaftlicher Struktur in der personalen Identitiit des Abgeordneten,
sondem um die Erklarung institutioneller Logik. Diese Weiterentwicklung gelingt
Borst ausgezeichnet. Er bereichert damit die politikwissenschaftliche Henneneutik be
triichtlich. Dominierten bisher unter den Arbeiten, die sich mit dem Zusammenhang
von Sprache und Politik beschiiftigten, nonnative, ideologiekritische Ansiitze, ist jetzt
zu hoffen, daB der von Borst gesetzte Standard empirischer Theorie der Henneneutik
parlamentarischer Sprechbandlungen von nachfolgenden Studien erreicht wird.
HD Dr. Thomas Noetzel
VI
Vorwort
Bei der vorliegenden Arbeit handelt es sich urn die leicht Oberarbeitete und geldlrzte
Fassung der Dissertatio~ die dem Fachbereich Gesellschaftswissenschaften und Philo
sophie der Philipps-Universitlit Marburg im April vorgelegt wurde.
Mein Dank gilt den betreuenden Herren Dr. Thomas Noetzel-der den AnstoB gab -
und Pror. Dr. Hans-Joachim Giegel. Ferner m6chte ich Herrn Prof. Dr. Dirk Berg
Schlosser flIr seine bereitwillige UnterstOtzung sowie der Hessischen Graduiertentbr
derung flIr ihr Vertrauen danken.
FOr die hervorragende Lesearbeit und die Korrekturvorschliige danke ich meiner
Schwester und meinem Vater, flIr die Bereitstellung eines Arbeitsraurnes der Univer
sitlitsbibliothek der Gesamthochschule Kassel, flIr ihren Beistand Nina.
Der tiefste Dank schlieBlich geht an meine Eltern, ihnen ist diese Arbeit gewidmet.
T.B.
VII
Inhaltsverzeichnis
Einleitung ..................................................... .
I. Fraktionelle, textuelle und geschiiftsordnungsrechtliche Rahmen-
bedingungen der entscheidungsorientierten Bundestagsrede ••.••• 7
1.1 Der fraktionelle Hintergrund ................................... 7
1.2 Texte als AnlaB von Bundestagsreden - zur Eingrenzung des
Untersuchungsgegenstandes ................................... 9
1.3 Der Sitzungsverlaufnach den Regeln der Gesch!iftsordnung des
Deutschen Bundestages (GOBT) ............................... 14
11. Sprachpragmatische Uberlegungen zur Funktion und zum Typus
parlamentarischer Redehandlungen . . • • • . • . • . . • . . . . • . . . . • • . . . 21
H.I Zur Funktion der parlamentarischen Debatte und Rede:
"Kreation" oder ,,Legitimation" von Entscheidungen? 21
11.2 Parlamentarische Kommunikation als Inszenierung? -
Zur Ambivalenz von "priisentiertem" und "praktiziertem" Verfahren
(M. Edelman und W. Dieckmann) .......... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24
11.3 "Strategisches Argumentieren", 'arguing' undloder 'bargaining'-
zur Typologie parlamentarischer Redehandlungen . . . . . . . . . . . . . . . . 30
Ill. Sprach-und Argumentationsanalyse in bisherigen Untersuchungen
politisch-parlamentarischer Reden - Moglichkeiten und
Schwierigkeiten eines sprachpragmatischen Ansatzes • . . . . . . . . • . 39
HU Redekritische Ansiitze ................. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39
III.I.l Redekritik nach Kriterien der Alltagskommunikation (E. StraBner). 44
III.1.2 Redekritik unter funktionalistischen Gesichtspunkten (l Volmert). 53
III.1.3 Redekritik als Ideologiekritik (G. Kleining) .................... 61
111.2 Argumentationsanalytische Ansiitze 70
IX
III.2.1 Argumentationsanalyse unter systemischen
Gesichtspunkten (B. Fux) .................................. 71
III.2.2 Argumentationsanalyse dialogischer Sequenzen (H. Buri) ........ 88
III.3 Zusarnmenfassung und erste ScblWlfoIgerungen fUr ein
sequenzanalytisches Verfahren ................................ 96
IV. Die Methodologie eines sequenzanalytischen Verfahrens zur
Untersuchung parlamentarischer Redehandlungen • • • • • • • • • • • • • 105
IV.I Die Objektive Henneneutik als MethodoIogie zur Untersuchung von
Interaktionsprotokollen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II0
IV.I.l Die HerIeitung des Konzepts der objektiven und der Iatenten
Sinnstruktur aus dem Grundbegriff der sozialen Interaktion . . . . . . III
IV.l.2 Oer Text als materielle Grundlage einer Sequenzanalyse . . . . . . . . 113
IV.1.3 Die metbodoIogischen Prlimissen der Sequenzanalyse . . . . . . . . . . 115
IV.1.4 Oas Verfahren der sequentiellen Feinanalyse .................. 120
IV.2 Zur Adaptierung der Objektiven Henneneutik fUr eine Sequenzanalyse
parIamentarischer RedehandIungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125
Exkurs: Oas sequenzanalytische Verfahren als Realisierung einer
politikwissenschaftIichen Topik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156
V. Das Verfahren der sequentieUen Feinanaiyse 169
VI. "Ihre eigene Koozeptionslosigkeit" - beispielhafte Sequenzanalyse
zweier Bundestagsreden im Rahmen einer Debatte zu MaBnahmen
zur Bekimpfung der Arbeitslosigkeit vom 5. Juni 1997 •• • • • • • • • • 195
VU Sequenzanalyse der Rede von Ottmar Schreiner (SPO) ............. 196
VI.2 Sequenzanalyse der Gegenrede von Helmut Heiderich (COU/CSU) .. 215
VI.3 Ausblick ................................................... 238
Literaturverzeichnis 241
Anbang
x
Einleitung
Seitdem der Parlamentarismus als Regierungssystem konzipiert wurde und sich in den
westlichen Verfassungsdemokratien auch durchgesetzt hat, ist das Debatten-und Rede
verhalten der Delegierten zum Thema nicht nur einer politisch interessierten Offent
lichkeit und Publizistik" sondern auch der Wissenschaft geworden. Im Zeichen von
Parlamentarismustheorie und -kritik wurden Beobachtungen gemacht und Uberlegun
gen zu Sinn und Funktion der parlamentarischen Beratung angestellt, die sich zunlichst
grob in das Raster "Utopie und Kritik" einordnen lassen. Trauten noch die englischen
Vertreter des ReprlIsentativsystems wie J. St. Mill oder W. Bagehot dem Parlament ne
ben der Regierungsbildung die Funktion eines Kontroll-und Diskussionsforums zu. in
dem sich Offentliche Meinung und politischer Wille ungehindert artikulieren kOnnen,
so herrscht in der jilngeren, vor allem deutschen Parlamentarismuskritik in Zusammen
hang mit verfassungs- und politiktheoretischen Erwilgungen eine tiefe Skepsis bezUg
lich der Ungezwungenheit und Transparenz der Offentlichen Beratung vor.l c. Schmitt
und J. Habermas etwa diagnostizierten einen Funktionswandel weg von einem ,,Dis
kussions-" hin zu einem "Schaufensterparlamentarismus'.z und entwarfen damit ein Bild,
das zumindest hierzulande die Auffassung Uber die parlamentarische Verhandlung
nachhaltig pcilgte. Demnach kOnne von einer unbefangenen Meinungs- und Willens
bildung, gar einem deliberativen Entscheidungsproze6 angesichts bereits feststehender
BeschlUsse und festgelegtem Abstimmungsverhalten keine Rede sein; die Abgeordne
ten handelten im Auftrag ihrer Fraktionen sowie einer auBerparlamentarischen Klien
tel, so daB sich die den Debatten ursprUnglich zugedachte Funktion eines Offentlichen
Interessenausgleichs wesentlich gewandelt hat hin zu einer mediengerechten Darstel
lung oder Inszenierung der ,,hinter verschlossenen TUren" getroffenen Entscheidungen.
Relativ unberUhrt von diesen Einschiltzungen hat sich im Zuge der Etablierung
neuerer wissenschaftlicher Disziplinen wie der Linguistik, der Kommunikationsfor
schung und der Argumentationsanalyse aber auch eine stllrker gegenstandsbezogene -
und damit zwangslilufig differenziertere - Betrachtungsweise der parlamentarischen
Verhandlung eingestellt. Die Debatten seien doch "sehr viel besser als ihr Ruf,3, es
I Vgl. W. Jann: "Parlamentarismus", in: A. G6rlitzlR. Priitorius (Hg.): Handbuch Politikwissenschaft.
Grundlagen - Forschungsstand - Perspektiven, Hamburg 1987, S. 352-360 (354f.).
2 Vg l. A. Burkhardt: Zwischen Diskussions-und Schaufensterparlamentarismus. Zur Diagnose und
Kritik parlamentarischer Kommunikation - am Beispiel von Zwischenfragen und Kurzdialogen, in:
OOmerNogt (1995), S. 73-106.
3 E. Czerwick: Debattenordnung und Debattenstil. Oberlegungen zur Reform des Deutschen Bundes
tages, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 24125,1985, S. 17-31 (19).