Table Of ContentInnovation und Gesellschaft
Herausgegeben von
R. John, Berlin, Deutschland
J. Aderhold, Berlin, Deutschland
H. Braun-Th ürmann, Berlin, Deutschland
I. Bormann, Berlin, Deutschland
Die Reihe „Innovation und Gesellschaft “ wird vom Institut für Sozialinnovation
e.V. (Berlin) verantwortet. Ziel ist es, Beiträge zu versammeln, die sich mit Inno-
vationen in der Gesellschaft auseinandersetzen und damit sozialen Wandel be-
obachten. Ausgangspunkt ist ein umfassendes Verständnis von Innovationen, das
diese als weitreichende strukturelle Veränderungen begreift . Dabei stehen die Be-
dingungen, das Zustandekommen, die Formen und Folgen sowie die planerischen
Möglichkeiten der Gestaltung von Innovation und gesellschaft lichem Wandel im
Mittelpunkt des Interesses.
Herausgegeben von
Dr. René John
Dr. Jens Aderhold
Dr. Holger Braun-Th ürmann
Institut für Sozialinnovation e.V., Berlin, Deutschland
Prof. Dr. Inka Bormann
Freie Universität Berlin, Deutschland
Alberto Cevolini (Hrsg.)
Die Ordnung des
Kontingenten
Beiträge zur zahlenmäßigen
Selbstbeschreibung der
modernen Gesellschaft
Herausgeber
Alberto Cevolini
Universität Modena/Reggio Emilia, Italien
Die Publikation wurde durch einen Kostenzuschuss der Alexander von Humboldt-Stif-
tung gefördert.
ISSN 2193-6625
ISBN 978-3-531-19234-5 ISBN 978-3-531-19235-2 (eBook)
DOI 10.1007/978-3-531-19235-2
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Springer VS
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Auch der Zufall ist nicht unergründlich. Er hat seine Regelmäßigkeit
(Novalis, Fragmente, Nr. 226)
Inhaltsverzeichnis
Alberto Cevolini
Zahlen, Zahlenverhältnisse, Zahlensucht .......................................................... 9
I. Sozialtheoretische und kulturwissenschaftliche Beobachtungen
Maren Lehmann
Komplexe Ereignisse und kontingente Mengen.
Anmerkungen zur Soziologie der Zahl ................................................... 41
Giancarlo Corsi
Die Ordnung der Zahlen und die Intrasparenz der Öffentlichkeit ........... 63
Rüdiger Campe
‘Unwahrscheinliche Wahrscheinlichkeit’.
Evidenz im 18. Jahrhundert ..................................................................... 83
Marcus Twellmann
Literatur und Statistik. Über das Verhältnis von alphabetischer
und numerischer Soziographie ............................................................... 107
II. Sozialwissenschaftliche und wirtschaftstheoretische Untersuchungen
Cristina Besio
Das Projekt als quantifiziertes Versprechen ......................................... 133
René John
Vage Evidenz der Innovation.
Zur politischen Konjunktur eines Begriffs ............................................. 153
Alberto Cevolini
Der Preis der Hoffnung ......................................................................... 177
8 Inhaltsverzeichnis
Cornelius Schubert
Zukunft sui generis? Computersimulationen als Instrumente
gesellschaftlicher Selbstfortschreibung ................................................. 209
Elena Esposito
Algorithmische Kontingenz.
Der Umgang mit Unsicherheit im Web ................................................ 233
Birger P. Priddat
Prognose als plausible Narratio ............................................................ 251
Werner Reichmann
Wie wissen wir Wirtschaft? Die Quantifizierung der Wirtschaft
als Mediatisierung & Wissenskultur ..................................................... 281
Leon Wansleben
Die Beobachtung makroökonomischer Zahlen
auf den Finanzmärkten .......................................................................... 301
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren ...................................................... 319
Zahlen, Zahlenverhältnisse, Zahlensucht
Alberto Cevolini
1 Einleitung
Das Interesse der Wissenssoziologie an der Erzeugung und Durchsetzung nume-
rischer Darstellungen sozialer Phänomene ist in jüngster Zeit sehr rege gewor-
den. Tatsächlich setzte es mit dem wohlbekannten Beitrag von Paul Lazarsfeld
(1961) ein, doch erst die Intensivierung der philosophisch-historischen For-
schung über Statistik und Wahrscheinlichkeitstheorie in den 1980er Jahren gab
ihm den entscheidenden Schub; von da an und vor allem im letzten Jahrzehnt hat
das Interesse an einer Reduzierung des Sozialen auf numerische Indikatoren
außergewöhnlich zugenommen – vielleicht auch deshalb, weil man sich inzwi-
schen daran gewöhnt hat, das Thema der Quantifizierung nicht quantitativ zu
behandeln.1
Es ist freilich nichts Neues, dass die Gesellschaft sich selber zählt. Bereits
die antiken Hochkulturen hatten aus fiskalischen oder militärischen Gründen auf
Quantifizierungen zugegriffen, indem sie arbeits- bzw. kriegsfähige Männer in
eine Steuer- bzw. Volkszählungsliste eintrugen. Die zahlenmäßige Selbstbe-
schreibung der Gesellschaft stellt in diesem Sinne, wie Ian Hacking gesagt hat,
ein ‘universal of human governance’ dar.2 Neu hingegen ist jene Entwicklung, in
deren Zug Daten und statistische Tabellen zu den vielfältigsten Aspekten des
Lebens (etwa zu Geburten- und Sterberaten) und der Moral (Ehescheidungen,
Verbrechen oder Selbstmord) produziert werden. Diese Entwicklung setzt gegen
Ende des 17. Jahrhunderts an und wächst in den 1820er Jahren geradezu explosi-
onsartig an. Neu ist auch die Tatsache, dass solche Informationen durch Zeitun-
gen und Fachjournale in Umlauf gebracht werden.
Gegenstand der Quantifizierung sind üblicherweise Individuen, aber auch
ihr Verhalten (zum Beispiel hygienische oder Nahrungsgewohnheiten, Lesezeit
oder Konsum, Intelligenz oder individuelle Meinungen) und die Leistungen von
formalen Organisationen, wie etwa von Banken, Unternehmen, aber auch von
Hochschulen und Universitäten. Das Ergebnis ist die Herstellung von routinisier-
1 Vgl. nur Mennicken/Vollmer (2007) und Heintz (2010; 2012).
2 Hacking (1992: 140); vgl. ferner Engel (1862: 27); beide beziehen sich auf das 4. Buch des
Alten Testaments.
A. Cevolini (Hrsg.), Die Ordnung des Kontingenten, Innovation und Gesellschaft,
DOI 10.1007/978-3-531-19235-2_1, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2014
10 Alberto Cevolini
ten Messverfahren, die Qualitäten in Quantitäten umwandeln und ein shared
metric für hochselektive Bewertungen (rating- bzw. ranking-assessment) einrich-
ten.3 Die Anwendung von derartigen Indikatoren ist jetzt schon allgegenwärtig
geworden (vgl. Gigerenzer et al. 1998: 257; Porter 1995: viii; 2011: 33) und
überschüttet sogar das Wissenschaftssystem, das damit die Möglichkeit erhält,
die Reputation von Wissenschaftlern, Fachzeitschriften und Forschungsinstituten
– wenn auch in sehr umstrittener Weise – zu quantifizieren.4
Die gegenwärtige Gesellschaft scheint also von einer Zahlensucht erdrückt,
deren erste Symptome auf den von der bahnbrechenden englischen Erfahrung
inspirierten leibnizschen Vorschlag zurückreichen, eine zentralisierte statistische
Registratur für die Verwaltung des Preußischen Staates einzurichten. Von da an
hat sich die Praxis der Quantifizierung so ausgebreitet, dass sie nun den Einzel-
nen durch sein gesamtes irdisches Dasein begleitet: von der Geburt bis zur Tau-
fe, von der Impfung bis zur Schulzeit, von der Arbeitszeit bis zur Rente und
durch Krankheiten hindurch bis hin zum Tode.5 Was inzwischen wie eine
Selbstverständlichkeit aussieht, sollte von der Soziologie kontraintuitiv als hoch-
unwahrscheinliches Ergebnis von Evolution betrachtet werden. Bereits an den
ersten Reaktionen der Zeitgenossen lassen sich deutliche Anzeichen für ein sol-
ches Unwahrscheinlichkeitsbewusstseins aufspüren.
John Graunt war sich dessen bewusst, dass es sich recht seltsam ausnehmen
würde, Zufälligkeiten (Casualities) zu zählen, er war aber zugleich der Meinung,
dass eine solche Operation von ihrem Ziel aus, nämlich von der Möglichkeit, den
Wohlfahrtscharakter des Staates zu demonstrieren und die Kunst des Regierens
(the Art of Governing) zu unterstützen, gerechtfertigt werden konnte.6 Um die
neu aufkommende political Arithmetick zu fördern, behauptete William Petty
([1690]1899: 244) seinerseits, dass »the Method I take to do this, is not yet very
usual«, da statt »only comparative and superlative Words, and intellectual Ar-
guments« zu benutzen, »I have taken the course [...] to express my self in terms
of Numbers, Weight, or Measure [...] leaving those [arguments] that depend upon
the mutable Minds, Opinions, Appetites, and Passions of particular Men, to the
consideration of others« – indem er dadurch zum ersten Mal eine deutliche Un-
3 Espeland/Sauder (2007: 16ff.) sprechen von commensuration.
4 Man spricht in diesem Zusammenhang von Szientometrie; vgl. Gigerenzer et al. (1998: 274f.).
5 So Engel (1862: 25f.), der dem leibniz’schen Projekt gemäß die Statistik nicht für eine selb-
ständige Wissenschaft, sondern für eine unentbehrliche Grundlage der Staatswissenschaften hielt und
sie eben deshalb als ein Zeichen des Culturfortschritts begriff.
6 »Nor is it obvious to every body, why the Accompt of Casualities [...] is made. The reason [...]
is, that the state of health in the City may at all times appear. [...] It may be now asked, to what
purpose tends all this laborious bustling and groping?«, und seine Antwort lautet, dass es darum geht,
durch die politische Verwaltung »the Subject in Peace and Plenty« (Graunt [1662]1676: 18, 96,
98/1899, II: 347, 394, 395) zu erhalten.