Table Of ContentPoetik und Hermeneutik 111
Arbeitsergebnisse
einer Forschungsgruppe:
Hans Blumenberg
Clemens Heselhaus
Wolfgang Iser
Hans Robert Jauß
Herausgegeben von
Hans Robert Jauß
• •
• •
Wilhelm
Fink
Verlag
Dieser Band enthält
Beiträge von:
Pawel Beylin
Herbert Dieckmann
Bernhard Fabian
Manfred Fuhrmann
[Iemens Heselhaus
Max Imdahl
Wolfgang Iser
Hans Robert Jauß
Reinhart Koselleck
Siegfried Kracauer
Odo Marquard
Karl Maurer
[hristian Meier
Gerhard Müller
Wolfgang Peisendanz
Erwin Rotermund
Wolf-Dieter Stempel
Jacob Taubes
Dmitrii Tschizewskii
Jürgen Wißmann
Als Grenzphänomene
des Ästhetischen
werden behandelt:
das
Absurde
Abscheuliche
Anstößige
Böse
Ekelhafte
Grausige
Häßliche
Kitschige
Krankhafte
Langweilige
Lehrhafte
Niedrige
Obszöne
Politische
Schaurige
Schockierende
Sch reck Ii che
Unbewußte
POETIK UND HERMENEUTIK
Arbeitsergebnisse einer Forschungsgruppe 111:
Hans Blumenberg, Clemens Heselhaus, Wolfgang lser, Hans Robert Jauß
DIE
NICHT MEHR SCHONEN
KÜNSTE
GRENZPHÄNOMENE DES ÄSTHETISCHEN
Herausgegeben von
H. R.Jauß
1968
WILHELM FINK VERLAG MÜNCHEN
Redaktion: Heänz Suddemeier
Di~ ~utsch~ Biblioth~k - CIP-Einheitsaufnahm~
Die nicht mehr schönen Künste: Grenzphänomene des
Ästhetischen I hrsg. \"On H. R. Jauß. - 3., un,·er.tnd. !'jachdr. -
München: Fink, 1991
(Ponik und Hermeneutik;))
ISB:'IJ J-770!H:2l6-l
NE: Jauß, Hans Roben [Hrsg.); GT
ISBN 3-nDS-0236-1
~ 1968 Wllhelm Fink Vertag, München
Gesamtherstellung: Ferdlnand Sc:hönlngh. Paderbom
3 .. unveränderter Nachdruck 1991
IN MEMORIAM
SIEGFRIED KRACAUER
NACH KRACAUERS TOD
Keinen habe ich je gekannt, der so quer zum Altem stand wie SiegEried Kracauer.
Die Gegenwehr dessen, der, unter vielen Handicaps, schutzlos fast der Roheit
des Lebens preisgegeben war, verlieh ihm eine Kraft, die an Heroismus grenzte;
der Lebenswille wuchs mit jeglicher Bedrohung. Schließlich gewann er fast mythi
sche Züge. Sie drückten sich auch im Gesicht aus. Exterritorial wie aus dem
Femen Osten, nahm es etwas Steinernes an. DaB man sterben muß, schien er nicht
wahrhaben zu wollen; davon ging eine so starke Suggestion aus, daB sein Tod
unglaubhaft ist. Als ich einen Vortrag zu seinem fünfundsiebzigsten Geburtstag hielt,
bat er mich peremptorisch, das Jubiläum nicht zu erwähnen. Noch in unserem letzten
Gespräch, im Sommer 1966, sagte er mir, unverkennbar bewegt, wie sehr er jenen
Passagen aus dem >>Jargon der Eigentlichkeitcc zustimme, in denen ich den Versuch
kritisiert hatte, aus dem Tod, dem schlechthin Dinghaften, eben die Metaphysik zu
destillieren, der der Tod absolut entgegengesetzt ist und die ihr Wesen hat am Wider
stand gegen ihn. Zähe der Selbsterhaltung, wunderliches sich in sich selbst Festmachen
hielt Kracauer tatsächlich jung. Bis zuletzt war er zur schärfsten kritischen Einsicht
fähig; auch dazu, Gedankenzüge, die ihm, nach seiner späteren Entwicklung, entlegen
sein mußten, sogleich bis ins Zentrum hinein zu verstehen. Jüngst erst hat er, als
Mitglied eines hermeneutischen Arbeitskreises jüngerer deutscher Universitätslehrer,
seine Denkenergie bewährt, hat ohne institutionelle Deckung sachliche Autorität sich
erworben. Wagen konnte er, noch in hohem Alter das Buch in Angriff zu nehmen, das
er als sein eigentümlichstes und wichtigstes empfand, eine dicht im Material gear
beitete Geschichtsphilosophie. Schwerlich hat er sie jetzt zu Ende gebracht. Wenige
Tage vor der Katastrophe erhielt ich einen Brief, in dem er seine langsame Genesung
von einer Grippe rügte.
Nicht geringer als die vitale war Kracauers geistige Kraft. Nachdem versäumt ward,
ihn nach Deutschland zurückzuholen, wo der gegen Ideologien Gepanzerte nach dem
Krieg unendlich viel Gutes hätte wirken können, gelang es, trotz zahlreicher Neu
drucke und Publikationen, in Deutschland nicht, jene Kraft so sichtbar werden zu
lassen, wie es recht gewesen wäre. Man erwähnt ihn als Soziologen und Kultur
kritiker aus den zwanziger Jahren, wohl auch als einen Mann, der zu den damals
avancierten Intellektuellen zählte, doch ohne daB man den Inhalt seiner Arbeit einst
weilen voll absorbiert hätte.
Wenigstens auf zwei Errungenschaften sei verwiesen, die ohne Zweifel ihm zu
verdanken sind. Einmal hat er die Filmkritik in Deutschland überhaupt erst aufs
Niveau gebracht, indem er den Film als Chiffre gesellschaftlicher Tendenzen, von
Gedankenkontrolle und ideologischer Beherrschung las; ein Gesichtspunkt übrigens,
der in seinem zuletzt publizierten groBen Werk über die Theorie des Films, das durch
aus historisch-ästhetisch angelegt war, merkwürdig zurücktritt. Seine Art, den Film
zu betrachten, ist längst anonym geworden, die gleichsam selbstverständliche Vor
aussetzung aller Reflexion über das Medium. Sie verband sich mit einem zweiten,
soziologisch umfassenderen Motiv. In dem Buch über die Angestellten, das zum Glück
in Deutschland neu herauskam, hat er, als teilnehmender Beobachter der syntheti-
7
sehen und manipulierten Angestelltenkultur der frühen dreiBiger Jahre, gleichsam
die Ontologie jenes falschen Bewußtseins entworfen. Sie hat mittlerweile sich bestä
tigt als vorwegnehmende Physiognomik einer Kulturindustrie, die sich längst nicht
mehr auf die Angestellten beschränkt, sondern die Totalität der Gesellschaft erfaßt
und das ihre beiträgt zu dem Glauben, die Menschheit sei ein einig Volk des Mittel
standes geworden. DaS Kracauer solche Momente spontan an den Phänomenen
wahrnahm, in engster Tuchfühlung mit ihnen sie analysierte, anstatt von außen her,
durch Aufkleben sozialer Etiketten, munter sie zu erledigen, verleiht seinen Funden
ihr spezifisches Gewicht.
Geistig war er noch vor dem Ersten Weltkrieg geprägt worden durch Philo
sophen wie Simmel und Scheler, denen er auch persönlich nahestand. Er gehörte
der Generation an, die, philosophisch inspiriert und mit philosophischen Mitteln,
aus der damals herrschenden Philosophie, dem weithin formalen Idealismus, sich
herausarbeitete und erkannte, daß die sogenannten philosophischen Grundfragen
nicht in abstrakter Allgemeinheit, sondern nur sachhaltig, nur durch Versenkung ins
Seiende irgend angefaßt werden können. Mehr und mehr wurde ihm das Untere,
von der großen Philosophie Ausgeschlossene zum Schauplatz des Gedankens. Dem
kam Kracauers Naturell entgegen: eben seine erstaunliche Kraft der Selbsterhaltung.
Das spinozistische sese conservare war bei ihm der Nerv der Oberlegung. Alles, was
er schrieb, seitdem er einmal von den Vorbildern sich frei gemacht hatte und energisch
der eigenen Erfahrung folgte, kreiste um Selbstheit: das Unauflösliche, Besondere,
den blinden Fleck des Gedankens; um das, lieBe sich sagen, wogegen der Gedanke
dadurch bereits frevelt, daS er einer ist.
Der vor wenigen Jahren neu erschienene Roman Ginster hat zum- autobiographi
schen - Helden einen Menschen, der selber nichts anderes ist als solch ein blinder
Fleck. Das Selbst-Sein, das Kracauer verzweifelt sich errang und hütete, war ihm
eins mit dem nicht Durchdringlichen. Wo immer sein Denken auf Rettung abzielte,
galt es diesem Opaken, den begriffslosen Dingen nicht anders als dem Individuum
dort, wo es zufällig, idiosynkratisch, ohnmächtig dünkt. Er hat damit auf den Punkt hin
gedrängt, dem heute die zentrale philosophische Besinnung gelten muß. Seine Position
allerdings fühlte sich der emphatischen Theorie oder, wie er zu nennen es liebte, dem
hundertprozentigen Denken konträr. DaS er in der Mitte seines Lebens einen Roman
schrieb, ist so wenig zufällig wie der Obergang zu Deskriptionen und zum Erzählen
den in vielen seiner späteren wissenschaftlichen Arbeiten. Seine Philosophie lockte es,
in Empirie zu verschwinden. Sein Empirismus war hintersinnig.
Bis zuletzt war zu hoffen, daS alle die Fragen, die sein denkendes Verhalten auf
warf, in der lebendigsten Diskussion mit ihm weitergetrieben werden könnten, so
wie er in der Jugend ein dialogisch Philosophierender gewesen war. Das einzige, was
dies denkende Leben nicht in sich reflektierte, wahrhaft sein blinder Fleck, war der
Tod. Daß der ihn nun ereilte, macht zum Endgültigen, was der eigenen Intention nach
dagegen, gegen alles Abschlußhafte, sich sträubte. Nun läßt er die Freunde in fas
sungsloser Trauer zurück. Daß er sterben mußte, dies Allerindividuellste, verklagt
das Allgemeinste.
THEODOR W. ADORNO
INHALT
NACH KRACAUERS TOD 6
LISTE DER TEILNEHMER 10
VORWORT .. 11
I. VORLAGEN
GERHARD MOLLE.R:
BEMERKUNGEN ZUR ROLLE DES HÄSSUOfEN IN POESIE UND POETIK
DES KLASSISCHEN GRIECHENTUMS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13
MANFRED FUHRMANN:
DIE FUNKTION GRAUSIGER UND EKELHAFTER MOTIVE IN DER LATEI-
NISCHEN DICHTUNG . . . . . . . . . . . . . . . . . 23
BERNHARD fABIAN:
DAS LEHRGEDICHT ALS PROBLEM DER POETIK 67
CHRISTIAN MEIER:
BEOBACHTUNGEN AN HERODOT
ZUM PROBLEM DER DECKUNGSLOCKEN IM HAUSHALT HISTORISCHER
ZUSAMMENHÄNGE . . . . . . . . . . . . . . . . . 91
5IECFRIED KRACAUER:
GENERAL HISTORY AND THE AESTHETIC APPROACH 111
REINHART Kosnucx:
DER ZUFALL ALS MOTIVATIONSREST IN DER GESCHICHTSSCHREIBUNG 129
HANs RoBERT )Auss:
DIE KLASSISCHE UND DIE CHRISTLICHE RECHTFERTIGUNG DES HÄSS
LICHEN IN MITTELALTERLICHER LITERATUR . . . . . . . . . . . . . . 143
)ACOB TAUBES:
DIE RECHTFERTIGUNG DES HÄSSLICHEN IN URCHRISTIICHER TRADI-
TION .................................. 169
WoLF-Du.TER STEMPEL:
MITTELALTERLICHE OBSZÖNITÄT ALS LITERARÄSTHETISCHES PROBLEM 187
DMITIUJ TscmiEWRIJ:
AUSSERHALB DER SCHÖNHEIT
AUSSERÄSTHETISOfE ELEMENTE IN DER SLA VISCHEN BAROCKDICH-
TU'NG ............. 207
I. I
ERWIN RoTERMUND:
DER AFFEKT ALS LITERARISCHER GEGENSTAND: ZUR THEORIE UND
DARSTELLUNG DER PASSIONES IM 17. JAHRHUNDERT . . . . . . 239
HERBERT DrEcKMANN:
DAS ABSCHEULIOfE UND SCHRECKLICHE IN DER KUNSTTHEORIE DES
18. JAHRHUNDERTS . . . . . 271
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KARL MAURER:
ÄSTHETISCHE ENTGRENZUNG UND AUFLÖSUNG DES GAT TUNGSGEFO-
GES IN DER EUROPÄISCHEN ROMANTIK UND VORROMANTIK .. 319
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