Table Of ContentERGEBNISSE DER PHYSIOLOGIE
BIOLOGISCHEN CHEMIE UND
EXPERIMENTELLEN PHARMAKOLOGIE
HERAUSGEGEBEN VON
K.KRAMER O.KRAYER E.LEHNARTZ
GOTTINGEN BOSTON MONSTER jWESTF.
A. v. MURALT H. H. WEBER
BERN HEIDELBERG
BAND 54
OSCAR A.M. WYSS
DIE NERVaSE STEUERUNG DER ATMUNG
MIT 92 ABBILDUNGEN
SPRINGER-VERLAG
BERLIN . GOTTINGEN· HEIDELBERG
1964
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Inhaltsverzeichnis
Seite
Orientierende Übersicht
I. Die Autonomie der Atmung 3
11. Das Atmungszentrum 11
A. Über den Sitz des Atmungszentrums 12
B. Die der Erforschung der Funktionsweise des Atmungszentrums zugrunde
liegenden experimentellen Verfahren . . 17
1. Die Decerebrierungsversuche . . . . 17
2. Die zentralen Ausschaltungsversuche . 43
3. Die zentralen Reizversuche . 49
a) Elektrische Reizung. . . . . . . 49
b) Nicht-elektrische Reizung 66
4. Die zentralen Abkühlungs- und Anaesthesierungsversuche . 69
5. Die zentralen Ableitungsversuche 75
C. Die Automatie des Atmungszentrums 92
D. Die efferenten Mechanismen des Atmungszentrums . 105
1. Die paarig-bilaterale Anordnung des Atmungszentrums und seiner
motorischen Innervationsapparate . . . . . . 108
a) Die Medianspaltung der Medulla oblongata . 108
b) Die Eingriffe am Rückenmark . . . . . . 112
<X) Die halbseitige Querschnittsdurchtrennung (Hemisektion) 112
ß) Das "gekreuzte Phrenicusphänomen". . . . . . . . . 117
y) Die Querschnittsdurchtrennung zwischen Hals- und Brustmark 130
2. Die vom Atmungszentrum ausgehende motorische Innervation 132
a) Die inspiratorische Innervation . . . . . . . . . . . . . . .. 133
<X) Die Aktionsströme des Zwerchfells . . . . . . . . . . . .. 134
ß) Die Aktionsströme der inspiratorisch wirksamen Int ercostalmu skeln 1 38
y) Die Aktionsströme weiterer inspiratorisch wirksamer Muskeln 141
b) Die efferenten Aktionsströme des Nervus phrenicus. . . . . . . 142
e) Die efferenten Aktionsströme weiterer inspiratorisch aktiver Nerven 1 63
C) Die Aktionsströme inspiratorisch aktiver zentraler Substrate. 168
b) Die exspiratorische Innervation. . . . . . . . . . . . . .. 180
<X) Die Aktionsströme exspiratorisch wirksamer Muskeln. . .. 181
ß) Die Aktionsströme exspiratorisch aktiver motorischer Nerven 186
y) Die Aktionsströme exspiratorisch aktiver zentraler Substrate 187
Irr.
Die Selbststeuerung der Atmung . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 194
A. Die wesentlichen Etappen in der Entwicklung zum gegenwärtigen Stand der
Kenntnisse über die vagale Atmungssteuerung ............. 194
B. Die der Erforschung der Selbststeuerung der Atmung zugrunde liegenden
experimentellen Verfahren. 207
1. Die Vagusausschaltung . . . . . 207
a) Die Vagotomie . . . . . . . 207
b) :pie reizlose Vagus ausschaltung 213
c) Der partielle Vagusb lock. . . 21 9
d) Interpretation des reinen Vagusausschaltungseffektes 221
IY Inhaltsverzeichnis
Seite
2. Die afferente Vagusreizung . . . . . . . 226
a) Der Frequenzeffekt . . . . . . . . . 228
b) Die Beteiligung verschiedener Fasergruppen 231
c) Gleichstromreizung . . . . . . . . . . . 238
d) Die inspiratorische Nachwirkung . . . . . 242
e) Intermittierende Reizung nach Maßgabe der Atmungsphase 248
IX) Intermittierende Serienreizung . 251
ß) Intermittierende Einzelreize . . . . . . . . . . . . 255
f) Kombinierte Reizung beider Vagi . . . . . . . . . . . 261
g) Die Beurteilung des Vagusreizeffektes am Pneumogramm 265
IX) Der inspiratorische Effekt . 268
ß) Der exspiratorische Effekt 271
y) Mischeffekte . . . . . . . 274
3. Die Ableitung der Aktionsströme des afferenten Lungenvagus 280
a) Die Blähungsafferenzen . . . . . . . . . . . . . 281
b) Die Kollapsafferenzen . . . . . . . . . . . . . . 288
4. Die Auslösung vagaler Atmungsreflexe nach Maßgabe des Blähungs-
zustandes der Lungen . . . . . . . . . . . . . . . 293
a) Lungenblähungs- und -kollapsreflexe bei eröffnetem Thorax . 294
b) Lungenblähungs- und -entblähungsreflexe bei intaktem Thorax 307
oe) Atmung gegen Überdruck und Unterdruck 311
ß) Atmung bei Verschluß der Luftwege 316
y) Atmung bei Behinderung der Luftströmung 325
c) Die Vagusapnoe. . . . . . . . . . . . . . 329
5. Die Erforschung der vagal-respiratorischen Reflexzentren . 336
IV. Die proprioceptiven Atmungsreflexe extravagalen Ursprungs 344
Zusammenfassung 357
Literatur. . . . . 358
N amen verzeichnis 399
Sachverzeichnis. 413
Es ist viel mehr schon
entdeckt, als man glaubt
GOETHE
Die nervöse Steuerung der Atmung*
Von
OSCAR A. M. Wvss
Orientierende Übersicht
Als vegetativer, für den Warmblüter unmittelbar lebenserhaltender Vor
gang sind die Atmungsbewegungen primär autonomen Ursprungs. Diese
A tttonomie ist ungleich derjenigen des Herzschlages im Zentralnervensystem
verankert; denn die Effektoren der Atmungsbewegung gehören dem Skelet
muskelapparat an und sind damit dem somatischen bzw. animalen Nerven
system unterstellt. Die Lungen als das viscerale Erfolgsorgan besitzen außer
ihrer vegetativ-efferenten die Bronchomotorik betreffenden Innervation vor
allem die für die Atmungsbewegungen maßgebende sensible Innervation. Diese
ist nicht nur vegetat iv -afferen ter Natur; sie hat eine sekundäre Differenzierung
zum viscero-somatischen, die Tätigkeit der Atmungsmuskulatur weitgehend
beherrschenden afferenten System erfahren. Die geschlossene Funktion des
gesamten nervösen Atmungsapparates läßt sich jedoch nur dann richtig er
fassen, wenn die zentrale Autonomie in die primitiv-vegetativen Abschnitte
des Hirnstamms verlegt und die zusätzliche Annahme gemacht wird, daß
der primäre Anstoß zur Aktivierung der somato-motorischen Innervation der
Atmungsmuskulatur von diesem vegetativen Grundsubstrat ausgeht. Man
könnte vielleicht noch einen Schritt weiter gehen und dieses vegetative Grund
substrat mit dem sympathischen Nervensystem funktionell identifizieren, in
analoger Weise, wie dies für das Vasomotorenzentrum anerkanntermaßen
getan wird.
So ergibt sich für das Atmztngszentrum im weiteren Sinne vorerst eine
Gliederung in ein vegetatives Grundsubstrat mit ausgesprochen autonomer
Potenz und ein somatisches Innervationssubstrat, welches dem respiratorischen
Effektorensystem unmittelbar übergeordnet ist und dem Atmungszentrum im
engeren Sinne entspricht. Das vegetative Grundsubstrat wäre nach dieser hier
vertretenen Auffassung der Vermittler sowohl für die direkte humorale als auch
für die vegetativ-nervöse Beeinflussung der Atmungstätigkeit als Gesamt
funktion. Das somatische Innervationssubstrat würde demgegenüber als aus-
* Aus dem Physiologischen Institut der Universität Zürich.
Ergebnisse der Physiologie, Bd. 54
2 Orientierende Übersicht
führendes System die Entstehung und Koordination der Atmungsbewegungen
ermöglichen und wäre damit der Sitz der nervösen Steuerung der Atmung.
Die primäre Aufgabe des Atmungszentrums im engeren Sinne ist die Er
zeugung der inspiratorisch-motorischen Innervation. Diese ist apriori rein
tonischer Natur und wird erst sekundär zur phasischen, d. h. rhythmischen
Atmungsinnervation moduliert.
Die besondere Fähigkeit zur periodischen Modulierung der primär tonischen
inspiratorischen Innervation und damit zur Erzeugung des Atmungsrhythmus
wird als Automatie des Atm~tngszentrttms bezeichnet. Der Atmungsrhythmus
ist nämlich im Gegensatz zum Herzrhythmus nicht ein elementarer Zellrhyth
mus, sondern ein komplexer interneuronaler Schaltvorgang, an welchem ver
schiedene intrazentrale und selbst reflektorische Steuermechanismen beteiligt
sind. So erst entsteht der alternierende Wechsel von Inspiration als primärem
Vorgang zu Exspiration als sekundärem Vorgang und umgekehrt von Exspira
tion zurück zu Inspiration.
Die Annahme einer Beteiligung von reflektorischen Schaltmechanismen am
Zustandekommen des Atmungsrhythmus ist im Prinzip gleichbedeutend mit
der älteren Auffassung einer Selbststeuerung der Atmung auf proprioceptiv
reflektorischer Grundlage. Es treffen sich hier zwei verschiedene Betrachtungs
weisen, von denen die erstere die Rolle der Lungenblähungsreceptoren als mit
verantwortlich für die Entstehung des Atmungsrhythmus, die letztere ihre
ausschlaggebende Rolle bei der Anpassung der Atmungsbewegungen an ver
änderte mechanische Verhältnisse und damit ihre Bedeutung für die sog.
physikalische Regulierung der Atmung in den Vordergrund stellt.
Diesen viscero-somatischen proprioceptiven Reflexen vagalen Ursprungs
gegenüber, die von entscheidendem Einfluß auf die Atmungsbewegung sind,
spielen somato-somatische Reflexe musculärer und articulärer Natur als pro
prioceptive Atmungsreflexe extravagalen Ursprungs im Bereiche der nervösen
Steuerung der Atmung keine spezifischere Rolle, als ihnen ganz allgemein im
Rahmen der proprioceptiven Kontrolle von Tonus und Bewegung innerhalb
des Skelet-Muskel-Systems zukommt.
Damit ist die nervöse Steuerung der Atmung in ihren Grundprinzipien
umrissen. Weitere nervöse Einflüsse, wie sie sowohl vom Atmungsapparat
selber als auch von den übrigen vegetativen und animalen Systemen ausgehen,
können nicht mehr zur Steuerung der Atmung gerechnet werden, sondern sind
als Fremdreflexe exteroceptiver, enteroceptiver oder nociceptiver Natur zu
bewerten. Die einzige Ausnahme machen vielleicht die von den spezifischen
Chemoreceptoren der sinualen und cardio-aortalen Kreislaufabschnitte aus
gehenden Atmungsreflexe, die aber in die chemische Steuerung der Atmung
eingebaut sind und im vorliegenden Zusammenhang nicht diskutiert werden.
Auch die nervösen Einflüsse aus der arbeitenden Skeletmuskulatur sowie
die Einwirkungen von seiten höherer Zentren des Hirnstamms und der Hirn-
Die Autonomie der Atmung 3
rinde fallen außerhalb des Rahmens der nervösen Steuerung der Atmung,
welche nur diejenigen nervösen Mechanismen umfaßt, die für das Zustande
kommen einer normalen Atmung unentbehrlich sind.
1. Die Autonomie der Atmung
Seit Mitte des vorigen Jahrhunderts hat sich die Erkenntnis, daß die
Atmung autonomen Ursprungs ist, nach und nach durchgesetzt. Dabei be
deutet autonom nichts anderes als spontan, aus innerer Ursache heraus. Bald
nach LEGALLOIs' (1812) epochemachender Entdeckung des Atmungszentrums
hatte FLOuRENs (1842, pp. 186-207) als erster den Begriff der Autonomie der
Atmung dadurch zum Ausdruck gebracht, daß er von seinem "point vital"
als vom "organe premier moteur" sprach, dem er die weiteren Attribute
"essentieI" , "primordial", "spontane" zuteilte. Diese Feststellung beansprucht
um so größeres Interesse, als schon zu jener Zeit immer wieder versucht worden
war, die Entstehung der Atmungsbewegungen auf äußere Ursachen zurückzu
führen, und nicht zuletzt auf solche äußeren Faktoren, die der Atmungs
tätigkeit selber entspringen (vgl. sub IU A, S.194ff.). Der forschende Geist
der damaligen Zeit konnte sich offenbar mit der unsichtbaren inneren Ursache
nicht abfinden und suchte nach dem alles erklärenden äußeren oder inneren
Reiz. So ist es auch verständlich, daß die Lehre von der Autonomie der Atmung
von Anfang an mit dem damals neu aufgekommenen Begriff des inneren che
mischen Reizes aufs engste verknüpft war, und daß RosENTHAL (1862), der als
erster die Autonomie der Atmung expressis verbis postulierte, dem Sauerstoff
mangel als zentralem Atmungsreiz eine ihm allerdings nicht gebührende Rolle
zuschrieb. Immerhin war mit der Annahme einer zentralen, später richtiger
weise der Kohlensäure zugeschriebenen chemischen Wirkung die Autonomie
auch insofern definiert, als sie das innere Milieu mit seinen verschiedenen
humoralen Faktoren zur Voraussetzung hat. Der chemische Reiz ist lediglich
Milieufaktor und keinesfalls auslösendes Agens; denn Sitz der Autonomie kann
nur lebendes und im vorliegenden Fall nervöses Substrat sein.
Eine gewisse Schwierigkeit in der Interpretation älterer und neuerer
Arbeiten ergibt sich aus dem Umstand, daß für das, was hier Autonomie
genannt wird, d. h. für die spontane Entstehung aus innerer Ursache heraus,
meistens die Bezeichnung "Automatie" verwendet wurde und z. T. auch heute
noch in diesem Sinne verwendet wird. Dies hängt damit zusammen, daß ur
sprünglich angenommen wurde, der primär autonome Vorgang sei der
Atmungsrhythmus als einheitlicher Grundprozeß. Da nach dieser Auffassung
der Rhythmus, d. h. die Automatie als solche apriori als autonom zu betrachten
war, lag kein Anlaß zu einer strengen begrifflichen Trennung zwischen
"Autonomie" und "Automatie" vor. Man sprach von "Automatie" in der
Absicht, die autonome Potenz der rhythmischen Tätigkeit zum Ausdruck zu
bringen.
1*
4 Die Autonomie der Atmung
Heute liegt die Situation anders. Allgemein physiologisch bedeutet "Auto
matie" repetierende bzw. rhythmische Erregungsbildung. Diese kann spontan
sein, wie z. B. in Schrittmacherzellen des Herzmuskels; dann ist sie autonom.
Sie kann aber auch provoziert sein, wie z. B. in einem Receptor, der auf einen
Reiz repetierend antwortet; dann ist sie nicht autonom. Schon hieraus ergibt
sich ohne weiteres, daß auf der Stufe der Zellphysiologie die Begriffe "Auto
nomie" und "Automatie" prinzipiell zu unterscheiden sind.
Bei der Entstehung des Atmungsrhythmus gestalten sich die Verhältnisse
wesentlich komplizierter. Hier handelt es sich nicht um einen elementaren
Zellrhythmus ; denn was hier als Automatie bezeichnet wird, ist das periodische
Auftreten von ganzen Erregungsfolgen. Wie weiter unten (sub II B, C) näher
ausgeführt wird, sind am Zustandekommen der Atmungsautomatie verschie
dene nervöse Aggregate beteiligt, und es erscheint nur schon deshalb sehr
problematisch, diesen allen in gleicher Weise autonome Potenzen zuschreiben
zu wollen. Die Entstehung des Atmungsrhythmus ist nach allem, was heute
darüber bekannt ist, ein viel zu komplexer Vorgang, als daß ihm als solchem
eine Eigenschaft zukommen könnte, welche für elementare Zellfunktionen reser
viert bleiben muß. Erst wenn der Atmungsrhythmus in seine verschiedenen
Komponenten zerlegt ist, wird man sich die Frage vorlegen können, welche
von diesen Komponenten als autonom tätig zu betrachten sind. Um es jetzt
schon vorwegzunehmen, ist dies die primäre inspiratorisch-motorische Inner
vation bzw. die Aktivität des ihr unmittelbar zugrunde liegenden vegetativ
nervösen Substrates. Die einheitlichen Nervenzellen dieses Substrates wären
dann gemäß der vorliegenden Annahme im zellphysiologischen Sinne zu auto
nomer Automatie befähigt und würden auf Grund dieser Fähigkeit die primär
tonische inspiratorische Innervation erzeugen, aus welcher erst sekundär auf
Grund interneuronaler Wechselbeziehungen die komplexere Atmungsauto
matie hervorgeht [vgl. WYSS 1954 (a), 1955]. Mit dieser kritischen Einstellung
wird man daher von nun an die Arbeiten früherer Autoren über die "Auto
matie" der Atmung interpretieren müssen.
Ungeachtet des inneren Mechanismus der Atmungsautomatie (vgl. sub
II C, S. 92ff.) ist vorerst festzuhalten, daß ROSENTHAL und die ihm folgenden
Autoren bestrebt waren, den experimentellen Beweis zu erbringen, daß die
Atmung auch nach Ausschaltung sämtlicher irgendwie in Frage kommenden
Afferenzen aus der Peripherie, sowie nach Eliminierung der zentralen Ein
flüsse aus höheren Hirnabschnitten weiter fortbesteht. Dabei war die seit
HALL (1837) speziell von VOLKMANN (1841), VIERORDT (1844), SCHIFF (1858/59;
1873, p. 318), RACH (1863) und WITTICH (1866) vertretene Ansicht, die Atmung
werde nur durch periphere Reize vornehmlich chemischer Natur unterhalten,
als die hergebrachte Meinung in erster Linie zu widerlegen. Nicht daß etwa
namhafte Autoren der damaligen Zeit nicht auch schon an eine primär zentrale
Ursache der Atmungsbewegungen gedacht hätten; denn im Anschluß an die
Die Autonomie der Atmung 5
ersten diesbezüglichen Angaben von LEGALLOIS (1812) hatten schon MÜLLER
(1837, pp. 66-80) und nach ihm FLOuRENs (1842, pp. 186-207), VALENTIN
(1844, p. 800; 1848, p. 543), ECKHARD (1854, p. 97ff.), FUNKE (1858, p.474)
und LUDWIG (1858, p.211) solche anhaltenden rhythmischen Bewegungen
mit zunehmender Klarheit als das Produkt einer Selbsterregung bestimmter
Stellen im Gehirn, speziell im verlängerten Mark erkannt. Es fehlte aber immer
noch die entscheidende experimentelle Beweisführung, die erst in neuerer Zeit
dank verbesserter technischer Hilfsmittel ermöglicht wurde. Obschon seit
Beginn dieses jahrhunderts die Autonomie der Atmung mit aller für die da
maligen Verhältnisse nur wünschbaren Genauigkeit und Zuverlässigkeit nach
gewiesen werden konnte, fand die gegenteilige Ansicht, daß nämlich die Atmung
primär ein Reflexphänomen sei, seit den sechziger jahren bis weit ins zwan
zigste jahrhundert hinein immer wieder ernsthafte Vertreter [SCHIFF 1873;
1894, pp. 42-51 ; LANGENDORFF 1878 ; HERzEN 1887; SCHIPILOFF 1890; MEL TZER
1890 (a); HERING 1893; BETHE 1903, p. 403; HYDE 1906; BAGLIONI 1907;
DESOMER 1923, 1924 (c); SHARPEy-SCHAFER 1932; GESELL und MOYER
1935 (d); vgl. aber auch BRECKENRIDGE und HOFF 1954; GARdA RAMOS
1959]. Dies zeigt nur die nachhaltende Wirkung der ursprünglich auf dem
reinen Auslöseprinzip aufgebauten Reflexvorstellung, sowie die noch lange
nicht überwundene Abneigung gegen die Annahme, daß etwas von sich aus
entstehen soll. Nachdem aber heute die Erkenntnis, daß auch das einfache
Reflexgeschehen an einem zentral vorhandenen und in letzter Instanz doch
wieder autonomen Erregungszustand sich abspielt, ziemlich allgemein durch
gedrungen ist, kann es sich bei der Atmung wohl nur mehr um die Frage
handeln, welchen zentralen Substraten der höchste Grad von Autonomie zu
kommt. Es ist daher auch nicht mehr angezeigt, etwa von der "Autonomie
des Atmungszentrums" zu sprechen, da an dessen Automatie, d. h. dem rhyth
muserzeugenden Mechanismus außer den primär vorhandenen autonomen
Potenzen sowohl intrazentrale Schaltvorgänge als auch echte Reflexe beteiligt
sind (vgl. sub 11 C, S. 102). Wenn also hier die "Autonomie der Atmung"
zur Diskussion steht, so bezieht sich dieser Begriff auf das Vorhandensein
autonomer Potenzen innerhalb des viel komplexeren Systems des Atmungs
zentrums. Der Nachweis der Autonomie der Atmung wurde denn auch weit
gehend unabhängig von den Untersuchungen über die Automatie des Atmungs
zentrums erbracht, indem es in erster Linie darauf ankam, ihre Unabhängig
keit von Afferenzen aus der Peripherie unter Beweis zu stellen. In zweiter
Linie erst wurde auch daran gedacht, daß das seit LE GALLOIS (1812) in die
Medulla oblongata zu verlegende Atmungszentrum auch von höheren Zentren
aus beeinflußt werden kann, und daß auch diese Einflüsse ausgeschaltet werden
müssen, um den Beweis der Autonomie zu erbringen.
ROSENTHAL (1862) bezeichnete unter Bezugnahme auf MÜLLER (1844,
p. 66) die Atmungsbewegungen als "automatische", d. h. als solche, "welche
6 Die Autonomie der Atmung
aus natürlichen, in den Zentralorganen liegenden Ursachen erfolgen", und
hatte damit von Anfang an die Autonomie der Atmung als Begriff definiert.
Während längerer Zeit war er auch der einzige aktive Vertreter dieser An
schauung und suchte sie durch experimentelle Tatsachen zu begründen. So
wurde, speziell den anderslautenden Erfahrungen von RACH (1863) gegenüber
bewiesen, daß die Atmung auch dann noch weiter besteht, wenn sämtliche
dorsalen 'Wurzeln des Halsmarks, dessen Übergang zum Brustmark, die beiden
Nervi vagi sowie der Hirustamm im Bereiche der Vierhügel durchschnitten
sind (ROSENTHAL 1865). Diese erstmals klare Versuchssituation wurde grund
legend für die weitere Forschung, wobei einerseits der Beschaffenheit des
Blutes eine entscheidende Bedeutung für die autonome Tätigkeit zugeschrieben
wurde, andererseits der Begriff der Autonomie (immer noch als "Automatie"
bezeichnet) allgemein auf die Nervenzentren ausgedehnt wurde [ROSENTHAL
1875; ROSENBACH 1877 (a, b); BURKART 1878; LUCIANI 1879]. Auch FRE
DERICQ (1879) entschied sich für die "automatische" und gegen die reflexogene
Natur der Atmungstätigkeit und konnte durch lokale Abkühlung an der frei
gelegten Medulla oblongata die Atmung verlangsamen oder gar aufheben
(FREDERICQ 1883). Allerdings waren weder diese ersten reversiblen Aus
schaltungsversuche noch die gelegentlich angeführten zentralen Reizversuche
von KRoNEcKER und MARCKWALD (1879) als Beweise für die Autonomie der
Atmung zu verwerten; denn es hätte ja auch der von FLOURENS (1851, 1862)
für Warmblüter und Kaltblüter von neuem bestätigt gefundene "noeud vital"
ebensogut als reflektorisches wie als autonomes Atmungszentrum ange
sprochen werden können. Sicher war für FLOURENS der Begriff des "noeud
vital" mit demjenigen der Autonomie der Atmung aufs engste verknüpft;
doch haben sich diese beiden Begriffe in der Folgezeit weitgehend unabhängig
voneinander entwickelt.
Mit Beginn der achtziger Jahre folgte eine Periode, während welcher die
der Atmung zugrunde liegenden autonomen Potenzen einem dem Schritt
macher des Herzens analogen "automatischen" Zentrum zugeschrieben wurden
[KNOLL 1886 (b, cl], Erwähnenswert ist im Hinblick auf die heutige Auf
fassung, daß GAD (1886,1893) es vorgezogen hätte, "autochthon" statt
"automatisch" zu sagen, und daß er diese Eigenschaft ausschließlich für das
Inspirationszentrum reservierte und dem Exspirationszentrum lediglich reflek
torische Bedeutung beimaß. Damit war aber insofern schon ein weiterer
Schritt getan, als mit der differenzierteren Analyse des Atmungszentrums die
heute als Automatie bezeichnete Funktionsweise dieses Zentrums ins Blick
feld gerückt wurde. Um es in der hier vorgeschlagenen Terminologie auszu
drücken, war GAD offensichtlich zur Erkenntnis gelangt, daß nur gewisse
Anteile, und zwar nur die Nervenzellen des inspiratorischen Zentrums die dem
Atmungszentrum zukommende Autonomie besitzen. Gleichzeitig mit diesem
tieferen Eindringen in die Funktionsweise des Atmungszentrums bekam auch