Table Of ContentRheinisch -Westfälische Akademie der Wissenschaften
Geisteswissenschaften Vorträge . G 190
Herausgegeben von der
Rheinisch-Westfälischen Akademie der Wissenschaften
HERBERT EINEM
VON
Die Medicimadonna Michelangelos
Westdeutscher Verlag . Opladen
184. Sitzung am 21. März 1973 in Düsseldorf
ISBN 978-3-322-98680-1 ISBN 978-3-322-98679-5 (eBook)
DOI 10.1007/978-3-322-98679-5
© 1973 by Westdeutscher Verlag GmbH, Opladen
Gesamtherstellung: Westdeutscher Verlag GmbH
Alldre Chaste! zum 60. Geburtstag
I.
Das Doppelgrab der Magnifici (des Lorenzo Magnifico und seines 1478
ermordeten Bruders Giuliano) in der Medicikapelle von S. Lorenzo in Flo
renz (Abb. 1) ist unvollendet geblieben. Die einzige eigenhändige Skulptur
Michelangelos (auch sie unvollendet) ist die sitzende Madonna mit Kind
1
(Abb. 2) zwischen den Mediciheiligen Cosmas und Damian, Arbeiten von
Giovanni Montorsoli und Raffaello da Montelupo nach Modellen Michel
angelos. Ihr allein soll unsere Betrachtung gewidmet werden.
Vasari hat die Gruppe beschrieben. Die Mutter Gottes "hat das linke Bein
über das rechte Knie gelegt, so daß Knie auf Knie ruht. Das Kind reitet auf
dem übergelegten Schenkel und wendet sich mit wundersamer Bewegung zur
Mutter, um zu trinken. Die Madonna, um ihm zu gewähren, hält es mit einer
Hand, während sie mit der anderen sich selber stützt. Die Statue ist nicht in
allen Teilen vollendet worden. Dennoch läßt sich in dem unvollkommenen,
nur angedeuteten Entwurf die vollkommene Meisterschaft des Werkes
erkennen"
2.
Die Medicikapelle trägt den Titel "Della Resurrezione deI Nostro
Signore" Durch eine Bulle vom 14. November 1532 verfügte Papst Cle
3.
mens VII., der eigentliche Auftraggeber, daß vier Kapläne (je zwei abwech
selnd) Tag und Nacht, mit Ausnahme der Meßzeit, Fürbittgebete für die
Lebenden und Toten des Hauses Medici sprechen, und daß außerdem an
jedem Morgen wenigstens vier Messen für die Verstorbenen gelesen werden
sollten. Mit der Weihe an die Auferstehung und der päpstlichen Bulle ist der
Charakter der Kapelle als christlicher Grabkapelle eindeutig bestimmt. "Re
quiem aeternam dona eis, Domine, et lux perpetua luceat eis." Diese Be-
1 Zur Literatur: Charles de Tolnay, Michelangelo, Bd. III, The Medici Chapel, Princeton
1948. - Ders., Le Madonne di Michelangelo, Roma, Accademia dei Lincei, 1968. - Leo
Steinberg, Michelangelo's Madonna Medici and related Works, Burlington Magazine
1971, S. 145 H.
2 Giorgio Vasari, La vita di Michelangelo, curata e commentata da Paola Barocchi, Bd. I,
Milano-Napoli 1962, S. 60 f.
S Vgl. zum folgenden Herbert v. Einem, Michelangelo, Stuttgart 1959, S. 92. - Ders.,
Michelangelo, Berlin 1973, Kap. VII.
8 Herbert von Einem
stimmung muß auch für das Programm im ganzen verpflichtend gewesen
sein. Es ist undenkbar, daß hier Ideen hätten vorgetragen werden können,
die mit den Anschauungen der Kirche entweder in Widerstreit standen, sie
ignorierten oder sie nur am Rande berührten. Auch die Einzelfiguren müssen
im Hinblick auf dieses Sinnganze aufgefaßt und gedeutet werden.
Der kirchliche Charakter der Kapelle wird aus dem Gesamtschmuck sofort
deutlich. Ober den Gräbern der Magnifici, dem Altar gegenüber, nimmt das
Kultbild der Madonnengruppe den bevorzugten Platz ein. Sie ist der Mittel
punkt. Der Priester, nach altchristlicher Sitte hinter dem Altar, zwischen den
Leuchtern mit dem Pelikan als Symbol des Opfers Christi und dem Phönix
als Symbol der Auferstehung, blickt auf sie. Die sitzenden Herzöge über den
Gräbern an den Seitenwänden sind ihr zugekehrt, Giuliano an der linken
Wand mit der Wendung seines Hauptes, der tiefsinnende Lorenzo an der
rechten Wand mit der Wendung seines Körpers. Die Beziehung durch den
Raum hin schafft eine der früheren Kunst ganz unbekannte Raumspannung,
und man geht wohl kaum fehl, wenn man Bewegung und Gegenbewegung
auch der Madonnengruppe durch diese Raumspannung bedingt sieht. Der
richtige Platz für den Betrachter ist hinter dem Altar.
Die Madonna mit ihrem Sohn ist die lux perpetua, die den Verstorbenen
leuchten soll. Ihr zu seiten die Schutzheiligen des Hauses Medici. Ober ihr in
der Lünette war die Darstellung der Auferstehung Christi geplant. An der
Eingangswand über den Gräbern der Magnifici wäre also bei vollendeter
Ausführung die Weihe der Kapelle zu stärkstem Ausdruck gekommen.
Die ikonographische Bestimmung der Madonnengruppe im Rahmen des
Gesamtschmuckes vermag freilich das Rätsel ihrer künstlerischen Form allein
nicht zu erhellen. Das geht schon aus der Tatsache hervor, daß Michelangelo
die endgültige Gestalt erst in langsamem Arbeitsprozeß gefunden hat. Wie
ist Michelangelo gerade zu seiner Umprägung gekommen?
11.
Es hat lange gedauert, bis der neueren Kunstliteratur nach Vasaris und
anderer Zeitgenossen Lobpreisung der Zugang zu diesem Werk gelang. Im
"Cicerone" ist nur Verlegenheit zu spüren. Durch einen Fehler des Marmors
oder ein "Verhauen" des Künstlers hatte - so sagt Jacob Burckhardt - "das
übrige mit zu leiden und wurde deshalb nur andeutungsweise und dürftig
vollendet" Er sagt weiter: "Ein unruhigeres Kind hat ... die ganze Kunst
4.
4 Jacob Burckhardt, Der Cicerone, Neudruck der Urausgabe, Leipzig 1925, S. 637 f.
Die Medicimadonna Michelangelos 9
nicht gebildet, als dieser kleine Christus ist." Carl Justi nennt die Gruppe
5
"das Bedenklichste unter Michelangelos Marmorgebilden". Die Aufgabe der
plastischen Gruppe sei (ein negatives Urteil in Justis Munde) "im Sinne eines
energischen Naturalismus gelöst, aber auf Kosten der Würde der heiligen
Personen und ohne feineren Takt der Empfindung". In Justis wie auch in
Burckhardts Bewertung wirkt deutlich genug die Lehre des Decorum nach,
die seit dem Ende des 16. Jhs. das ästhetische Denken beherrschte und noch
für den Klassizismus eine Grundmaxime war In Winckelmanns Abhand
6.
lung "Von der Fähigkeit der Empfindung des Schönen" heißt es: "Die
Kunst, als eine Nachahmerin der Natur, soll zur Bildung der Schönheit alle
zeit das Natürliche suchen, und alles Gewaltsame, so viel möglich ist, ver
meiden ... Wider diesen Satz haben große Künstler gehandelt, deren Haupt
hier Michael Angelo ist, welcher, um sich gelehrt zu zeigen, in den Figuren
der Großherzoglichen Gräber, so gar die Unanständigkeit derselben über
sehen hat."
7
Justi verbindet seine negative Bewertung (wie so oft) mit einer Polemik
gegen die "jüngsten Auslassungen", d. h. hier insbesondere gegen Adolf v.
Hildebrands "Problem der Form", in dem sich eine frühe positive Würdi
gung findet "Daß eine Gestalt" - so eifert Justi - "am heiligen Ort, wo
8.
Stille herrscht, in eine wirbelartige Drehung versetzt wird, daß die seligste
Jungfrau die Knechtsgestalt einer Tagelöhnerin, die Gnadenreiche die har
ten, leeren Züge einer Maske annimmt, daß Anmut mit Gewaltsamkeit, edler
Anstand mit Nachlässigkeit und Unschicklichkeit vertauscht wird, finden
wir in der Ordnung« - wir, d. h. die Modernen, gegen die sich Justi wendet
(er spricht sogar mit einer Anspielung auf Nietzsche von der Umwertung der
Werte). In Herman Grimms großem Kapitel über die Medicikapelle wird
9
auf eine Würdigung der Madonna überhaupt verzichtet. Erst Heinrich
Wölfflin gelang es, nunmehr im Rückgriff auf Hildebrands "Problem der
5 Carl Justi, Michelangelo. Neue Beiträge zur Erklärung seiner Werke, Berlin 1909,
S. 262 H. - Vg!. auch Carl Justi, Michelangelo. Beiträge zur Erklärung der Werke und
des Menschen, 2. Auf!., Berlin 1922: im Schluß kapitel "Bildnerische Gepflogenheiten",
S. 374 H., heißt es über die Madonna: "die Beine (gegen den kirchlichen Anstand) über
einandergeschlagen".
6 Vg!. hierzu Julius v. Schlosser, Die Kunstliteratur, Wien 1924, S. 378 H. und 399 H. Vg!.
ferner Trattati d'Arte del Cinquecento fra Manierismo e Controriforma. A cura di Paola
Barocchi, Bari 1961. - Vg!. auch E. H. Gombrich, Symbolic Images, Phaidon 1972,
S. 7 H.
7 Kleine Schriften, Vorreden, Entwürfe. Hrsg. von Walther Rehm, Berlin 1968, S. 232.
8 Adolf v. Hildebrand, Das Problem der Form. - Ders., über Michelangelos späte
Plastik. In: Adolf v. Hildebrand, Gesammelte Schriften zur Kunst. Bearbeitet von
Henning Bock, Köln und Opladen 1969, S. 265 und S. 415 H.
o Herman Grimm, Leben Michelangelos, Bd. 2, Berlin 1890, Kap. 11.
10 Herbert von Einem
Form", zu einer historisch zutreffenden positiven Formanalyse zu kom
men Wir sehen hier, wie das historische Kunstverständnis vom zeitge
10.
nössischen Kunstverständnis abhängt. "Die Gruppe" - so schließt Wölfflin
seine Beschreibung - "erscheint einfach, weil sie klar ist und mit einem Blick
sich fassen läßt, und sie wirkt ruhig, weil der ganze Inhalt zu einer kompak
ten Gesamtform sich einigt". Freilich ist bei Wölfflin die Tendenz deutlich,
die Gruppe noch der "klassischen Kunst" zuzurechnen. Spätere Forscher
haben dagegen in ihr (wiederum durch zeitgenössische Erlebnisse bedingt)
das "erste Zeugnis der manieristischen Skulptur in Italien" sehen wollen.
11
Ihre schlanken Formen sind - so sagt Walter Friedländer - "die typischen
Ausdrucksformen der manieristischen Seite von Michelangelos Kunst"
12.
IH.
Michelangelo hat an der Gruppe lange gearbeitet 1521 war sie (als erste
13.
Skulptur der Kapelle) bereits begonnen worden. 1534, als der Künstler
Florenz verließ und seine Arbeit im Stich ließ, war sie noch unvollendet.
Noch 1549 stand sie in seinem Florentiner Werkraum
14.
Michelangelo ist, wie die Entwürfe lehren, von dem Gedanken der Brügger
Madonna ausgegangen. Ein früher eigenhändiger Entwurf für das Dop
15
pelgrab der Magnifici (London, British Museum) (Abb. 3) zeigt die Mutter
16
Gottes zwischen zwei stehenden Heiligen. Maria ist streng frontal gegeben,
die Knie parallel nebeneinander. Ob sie das Kind (was wahrscheinlich ist)
auf dem Schoß hält, oder ob das Kind zwischen den Knien stehen soll, ist
nicht mit Sicherheit anzugeben. Dem Gedankengehalt des Kapellenganzen
würde diese frühe Konzeption vollkommen Genüge getan haben. Der Schritt
von ihr zu der endgültigen Lösung kann also nicht aus dem Programm ge-
10 Heinrich WölffIin, Die klassische Kunst, 7. Aufl., München 1924, S. 193.
11 Harald Keller, Michelangelo, Königstein 1966, S. 13.
12 Walter Friedländer, Die Entstehung des antiklassismen Stiles, Repertorium für Kunst
wissensmaft 1925, S. 55 H. - Vgl. ferner die Obersimt bei Paola Barocmi (vgl. Anm. 2),
Bd. III, S. 961 H.
13 Vgl. v. Einem (vgl. Anm. 3), S. 92.
14 Vgl. Brief des ,Antonio Francesco Doni an Alberto Lollio vom 17. August 1549. Vgl.
dazu Henry Thode, Mimelangelo, Kritisme Untersuchungen, Berlin 1908, Bd. I, S. 507,
und Charles de Tolnay, Mimelangelo, Bd. III (vgl. Anm. 1), S. 145. - Vgl. aum Barocmi
(vgl. Anm. 2), Bd. III, S. 953.
15 Vgl. v. Einem (v gl. Anm. 3), Abb. 6.
16 Johannes Wilde, Mimelangelo and his Drawings, London 1953, Nr. 28r, Plate LI, und
Luitpold Dussler, Die Zeichnungen des Michelangelo, Berlin 1959, Nr. 153, Abb. 61.
Die Medicimadonna Mimelangelos 11
deutet werden. Für ihn müssen wir nadt persönlidten Gründen fragen. Dabei
spielt nat ürlidt (wie immer bei Midtelangelo) die Vertiefung des Ausdrucks
gehaltes als treibendes Element der formalen Umgestaltung eine entsdtei
dende Rolle.
Um den sdtöpferisdten Prozeß der Gestaltwerdung zu durdtleudtten, dür
fen wir uns aber nidtt allein auf das Madonnenthema besdtränken - hat dodt
Midtelangelo aus thematisdt ganz versdtiedenen Formkomplexen Anregun
gen sdtöpfen können. Oft beobadtten wir, daß Midtelangelo in späten
Schöpfungen auf längst Zurückliegendes im eigenen Werk griff, bzw. daß
schon in der Konzeption seiner Frühwerke Motive, die er erst später ver
wirklichen sollte, kühn vorweggenommen werden
17.
Wie die in dem Londoner Entwurf nur undeutlich erkennbare Madonnen
gruppe anfänglich gedacht war, ersehen wir aus einem nur von Schülerhand
überlieferten Entwurf, von dem sidt Exemplare in Paris, Berlin, Florenz
(Abb. 4), München, Oxford und Wien erhalten haben Auch hier ist der
18.
Ausgangspunkt der Brügger Madonna erkennbar. Aber die Frontalität ist
nicht mehr Voraussetzung, sondern gleichsam Ergebnis des Formzusammen
hanges. Maria hält das Buch nidtt, wie in Brügge, mit der Rechten im Schoß,
sondern über den Körper nach rechts ausgreifend in die Höhe. Der Bewegung
nadt rechts antwortet die Gegenbewegung ihres Hauptes nach links. Der
Jesusknabe, wie in Brügge zwischen den Knien der Mutter stehend, wendet
sich nadt redtts und langt nach dem Budt. Bereidterung der Bewegung, aber
dodt Beibehaltung der Frontalität. - Wenn es sidt hier audt um Schülerzeich
nungen handelt, darf doch als sicher angenommen werden, daß die Madon
nengruppe eine originale Konzeption Michelangelos widerspiegelt. Sie wird
an den Anfang der Arbeit an den Grabmälern - also in die frühen 20er Jahre
gehören
19.
Da es weiter keine Zeichnungen gibt, in denen wir die Formentwicklung
der Madonnengruppe bis zur Endfassung ablesen können tun wir gut,
20,
uns Michelangelos Mariendarstellungen in der Folge ihrer Entstehung kurz
vor Augen zu stellen. Hat doch das Marienthema den Künstler seit seiner
Frühzeit immer wieder beschäftigt, wobei deutlich wird, daß er von Beginn
an darum ringt, die Mutter Gottes in ihrer Hoheit wie in ihrem Wissen um
die Passion darzustellen.
17 So aum überzeugend Dussler (vgl. Anm. 16), S. 288.
18 Vgl. Dussler (vgl. Anm. 16), Nr. 375, 490, 591, 619, 673, 674a, 699. - Vgl. ferner Tolnay,
Bd.1II (vgl. Anm. 1), S. 146, Abb. 219-221.
19 So aum überzeugend Dussler (vgl. anm. 16), S. 288.
20 Zu den Ton- und Wamsmodellen, auf die hier nimt eingegangen zu werden braumt, vgl.
Thode (vgl. Anm. 14), I, S. 490, II!, Nr. 578 und 596, und Tolnay (vgl. Anm. 1), !II,
S.155.