Table Of ContentDIE
KRETINISCHE ENTARTUNG
NACH ANTHROPOLOGISCHER METHODE
BEARBEITET
VON
DR. ERNST FINKBEINER
PRAKT.ARZT
MIT EINEM GELEITWORT
VON
PROFESSOR DR. KARL WEGELIN
DIREKTOR DES PATHOLOGISCHEN INSTITUTS D&R UNIVERSITAT BERN
MIT 17 TEXTABBILDUNGEN UND
6 TAlcELN IN ZWEIFACIIER
AUSFihIRmw
BERLIN
VERLAG VON JULIUS SPRINGER
1923
ISBN-13: 978-3-642-89673-6 e-ISBN-13: 978-3-642-91530-7
DOl: 10.1007/978-3-642-91530-7
ALLE RECHTE, INSBESONDERE DAB DER VBERBETZUNG
IN FREMDE SPRACHEN, VORBEHALTEN.
COPYRIGHT 1923 BY JULIUS SPRUiGER IN BERLIN.
Vorwort.
Der Bitte des Verfassers, ein kurzes Geleitwort zu seinem Werke zu
schreiben, komme ich hiermit gerne nacho 1st doch in diesem Buche betracht
liches Material des Berner pathologischen Instituts verarbeitet, in dessen Tra
dition seit KLEBS' und L!NGHANS' Zeiten die Kretinenforschung liegt. Ich
mochte jedoch ausdriicklich bemerken, d'1B Herr Dr. FINKBEINER seine Arbeit
ganz aus eigenem Antrieb unternommen und vollig selbstandig durchgefiihrt hat.
Wer sich je einmal eingehender mit dem Problem des Kretinismus ab
gegeben hat, wird zu der Einsicht gekommen sein, daB sich die Frage nach
dem Wesen und der Atiologie dieses geistigen und korperlichen Entartungs
zustandes immer komplizierter gestaltet, je tiefer man in die Materie ein
dringt. Durchgeht man die reichhaltige Literatur des vorigen Jahrhunderts,
so hat man trotz der zahlreichen und zum Teil ausgezeichneten Beobach
tungen, die dort niedergelegt sind, das Gefiihl, daB man sich in einem Laby
rinth bewegt. Der Ausweg, der sich durch die Aufstellung der Hypothyreose
theorie zu eroffnen schien, hat leider auch nur eine kurze Strecke weit
gefiihrt, um dann vor neuen Hindernissen vorlaufig zu enden. Als friiherer
Verfechter dieser Theorie muB ich heute bekennen, daB mir ihre Formel zu
einfach erscheint und daB zum mindesten andere endokrine Driisen diesel be
Beachtung verdienen wie die Schilddriise. Leider liegt hier noch sehr wenig
genau verarbeitetes Material vor. Aber auch bei den iibrigen Organen der
Kretinen sind unsere Kenntnisse noch sehr riickstandig und mangel haft, ich
erinnere bloB daran, daB das Gehirn der Kretinen mit den neueren Methoden
der mikroskopischen Technik noch gar nicht erforscht ist und daB hier die
neurologischen Spezialinstitute eine dankbare Aufgabe zu erfiillen hatten.
Mit seiner Bearbeitung der 03teologie der Kretinen, die schon von
LANGHANS, SCHOLZ, E. BIRCHER u. a. in Angriff genommen worden war, hat
sich nun der Verfasser unbestreitbar ein groBes Verdienst erworben, das urn
so hoher zu bewerten ist, als er die ganze zeitraubende und miihevolle Auf
gabe neb en einer ausgedehnten landarztlichen Praxis zu Ende gefiihrt und
sich fern von einer Universitatsstadt und ihren Hilfsmitteln die Lust und
die Energie zu wissenschaftlicher Arbeit bewahrt hat. Ein umfangreiches
Tatsachenmaterial, sorgfaltig nach den heute geltenden anthropologischen Me
thoden gemessen und berechnet, wird hier vorgelegt, und es ist begreiflich,
daB die Ergebnisse der Messungen, zusammen mit der vergleichenden Ergo
logie der Kretinen, den Verfasser dazugefiihrt haben, den Kretinismus in
IV
seinen wesentlichen Punkten als Rassenproblem aufzufassen, eine Ansicht, zu
der sich schon VIRCHOW bekannt hat. Ob nun freilich die Haufung primi
tiver Merkmale im Kretinenskelett geniigt, um im Sinne des Verfassers die
Kretinen mit gewissen PolarvOlkern, mit den neolithischen Pygmaen und
mittelbar mit der Neandertalrasse in Verbindung zu bringen und sie als
Riickschlage in den Typus einer UrbevOlkerung aufzufassen, muB die Zukunft
lehren. Es ware zunachst die Aufgabe der Anthropologen, sich zu dieser
Frage zu auBern und festzustellen, ob hier mehr als eine reine Konvergenz
erscheinung vorliegt. Vor aHem halte ich es fiir wichtig und notwendig, an
einem groBeren Material zu priifen, wie oft primitive Merkmale bei der nicht
kretinischen BevOlkerung des Endemiegebietes anzutreffen sind, denn erst,
wenn durch diese erganzende Untersuchung die Seltenheit primitiver Merk
male bei Nichtkretinen dargetan ware, wiirde die Theorie des Verfassers auf
einen ganz sicheren Boden gestellt. Ferner erscheint es mir unbedingt not
wendig, durch Familienforschung den hereditaren Verhaltnissen der Kretinen
in viel groBerem Umfange nachzugehen, als dies bisher geschehen ist.
Anerkennenswert ist es, daB der Verfasser nicht das Kind mit dem Bade
ausschiittet, sondern als Konditionalist neben der rassenmaBigen Entartung
auch der Hypothyreose einen EinfluB auf die Entstehung des Kretinismus ein
raumt. Den kritischen Auseinandersetzungen iiber das Kropfproblem, die
Herr Dr. FINKBEINER in seiner temperamentvollen Weise entwickelt, vermag
ich freilich in man chen Punkten nicht beizupflichten. Z. B. halte ich die
Schiilerstatistiken nicht fiir wertlos, und dann scheint mir der Ausspruch, daB
die Hauptmasse der endemischen Kropfe mit dem Geschlechtsleben in Zu
sammenhang stehe, trotz seiner Einfachheit nicht richtig.
1m iibrigen ist es dem Verfasser zweifellos gelungen, durch die Anwen
dung seiner reichen anthropologischen Kenntnisse auf die korperlichen und
geistigen Eigentiimlichkeiten der Kretinen die Lektiire seines Buches in vieler
Beziehung sehr interessant zu gestalten. Ich verweise hier namentlich auf
die Abschnitte iiber die Korperproportionen, die Osteologie und die Ergo
logie der Kretinen. In dem letztern Kapitel wird die kultureHe Stellung
der Kretinen und ihr EinfluB auf die Volkspsychologie geschildert, eine Unter
suchung, die der tragischen und komischen Ziige nicht entbehrt und wert
volle Streiflichter auf Volksmedizin und Aberglauben wirft.
So wiinsche ich dem Buche die Verbreitung, die es verdient, und spreche
namentlich die Hoffnung aus, daB es der Kretinenforschung nach mancher
Richtung einen neuen AnstoB geben wird. Auf aHe FaIle miissen wir dem
Verfasser dankbar sein, daB er uns den Kretinismus einmal in rassenbio
logischer Beleuchtung gezeigt hat.
Bern, im November 1922.
'Vegelin.
Inhaltsverzeichnis .
•
Einleitung.
ticitc
Die heute geltenden Anschaul1ngen iiber Kretinismus. 1
1. Trinkwassertheorie 2
2. Schilddriisentheorie 10
3. Infektionstheorien . 15
Rekapitulation. . . . 17
Erster Teil.
Bedeutung der Rasse f"lir Vorkommen l1nd Verbreitung (les Kretinismus.
PLINIUS, les Cagots; Affenmenschen (CARL VOGT); KLEBS, VIRCHOW, KUT-
SCHERA; Kretinismus bei Juden 18
I. Geschlecht der Kretinen 23
II. Heimat der Kretinen. . . . . 24
III. Alter der Kretinen . . . . . . 24
IV. Zeitliche (historische) Schwankungen im Auftreten deB Kretinismus 26
V. Raumliche Ausbreitung des Kretinismus . . . 27
1. Kretinismus in aUJ3ereuropaischen Liindern . 28
2. Kretinen in Europa . . 29
3. Kretinen in der Schweiz 36
VI. Kretinismus bei Tieren 44
Rekapitulation . . . . . . . 45
Zweiter Teil.
Erscheinungen l1nd Komplikationen des Kretinismus.
Versuch einer Anthropologie (ler Kretinen.
Definition des Kretinismus . 47
l!'ormen des Kretinismus . . . . . . . . . . 47
Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . 49
Erster Abschnitt.
Aullere Erscheinung der Kretinen. . . . . . 50
A. Korpermessungen; Wuchs und Wachstum 50
KorpergroJ3e . 50
Wachstum .............. . 51
Korpergewicht . . . . . . . . . . . . . 55
Proportionen des lebenden Kretinenkorpers . 55
Rumpf. Obere Extremitat. Untere Extremitat.
B. Zephalometrie . . 58
I. Gehirnschadel . 59
II. GesichtBschadel. 62
C. Integument. 69
I. Haut ...•. 69
II. Haare ..... 71
III. Geschlechtsteile. 72
Rekapitulation. . . . 72
Anhang: Verglcich mit Buschmanncrn und exotischen Pygmaen . 73
VI Inhaltsverzeichnis.
Zweiter Abschnitt. Scilc
Osteologie der Kretinen. 78
Einleitung 78
I. Aufgabe. 78
II. Methode. 79
III. Technik. 83
IV. Material. 85
A. Berner Kretinen. 85
B. Grazer Kretinen. 110
C. Athyreose .... 113
D. Chondrodystrophie 121
E. Rachitis . . 122
Schii<lel ...... . 125
A. GehirnBchadel. 127
I. Umfange und Bogen 127
II. DurchmesBer und Indizes 128
III. Kapazitat . . . 134
IV. Einzelne Partien 135
a) Stirnteil. 135
b) Parietale . . 135
c) Okziput ... 136
d) Schlafengegend. 137
e) Schadelbasis . 138
B. Gesichtsschadel . 138
I. als Ganzes. . . 138
II. einzelne Teile . 139
a) Augenregion . 139
b) Nasenregion . 140
c) Oberkiefer, Jochbein, Gaumen. 141
d) Unterkiefer und GebiI3 141
Rekapitulation. . . .. . . . . 143
Skelctt der oberell Extremitltt. 145
Klavikula . 145
i-lkapula. 147
Humerus 154
Ulna . 172
Radius 185
Hand. 198
Becken .. 201
I. DaB Becken als Ganzes 204
II. Das kleine Becken . . 210
III. Das Kreuzbein . . . . 214
IV. Die Lendenwirbelsaule 216
Rekapitulation. . . . . . . 219
Skelett der unteren Extremitiit 221
Femur .......... . 221
A. LangenmaBe und Diaphyse. 221
B. Die proximale Epipbyse . 229
C. Die distale Epipbyse 239
Tibia ..... . 248
A. LangenmaBe . 248
B. DickenmaBe . 252
C. Kriimmungen. 257
:Fibula 264
Patella 268
FuB .. 270
Inhaltsverzeichnis. VII
Seite
I. Das Sprungbein 270
II. Das Fersenbein 272
III. Der FuB als Ganzes 273
Die Korperproportionen beim Kretinismus. 275
A. Die Proportionen der oberen Extremitat 282
I. Mit Beziehung auf die KorpergroBe . 282
II. Mit Beziehung auf die Rumpflange . 284
III. Vc rhaltnis der Gliedabschnitte zueinander 284
B. Proportionen der unteren Extremitat . 287
I. Mit Beziehung auf die KorpergroBc. . . 287
II. Mit Beziehimg auf die Rumpflange . . . 289
III. Verhaltnis des Oberschenkels zum Unterschcnkel . 289
C. Beziehungen zwischen oberer und unterer Extremitat. 290
D. Vergleich der rechtseitigen Extremitiit mit der linkseitigen . 292
E. Proportionsfigur und Proportionsschema. 293
F. Berechnung der KorpergroBe. 295
Rekapitulation. . . . . . . . . . . . . . 297
Epikrise des osteologischen Teils . . . . . 298
Das allgemeine osteologische Bild des Kretinismus 298
Athyreose und Kretinismus. . . . . 300
Rachitis und Kretinismus. . . . . . 304
Chondrodystrophie und Kretinismus . 306
Vergleich mit:
Zwergrassen . 311
Wedda . 311
Lappen. 313
Mongolen 315
Pygmiien 315
Xeandertalmenschen 320
Dritter Abschnitt.
I<~rgologie tIer Kretinen . . 327
A. Personliche Verhaltnisse 328
Korperhaltung und Gang 328
Korperpflege 329
Schmuck. 330
Sexualismus 331
Sprache .. 333
Intelligenz . 335
Gehirn und Sinnesorgane 336
Leistungen . . . . . . . 336
Vergleich mit a) sekundaren Dementen . 338
b) Naturvolkern 339
Wissenschaft und Kunst. 340
Charakter .... 341
B. Materiellle Kultur. 343
Ernahrung ... 343
Kannibalismus 344
Kleidung ... . 345
Wohnung ... . 345
Schmuck, Waffen, Geratc :!46
C. Soziale Stellung. . . 346
Beschaftigung:
J agd und Handel . 346
Medizin, Kurpfuscherwcsen. 347
Religion ......... . 348
Rechtsverh1iltnisse der Kretincn 349
VIII Inhaltsverzeichnis.
Seite
Kriminalitiit der Kretinen . . . . . . . . 351
Militiirverhiiltnisse. . . . . . . . . . . . 352
Okonomisches; Wertschiitzung der Kretinen . 352
Anhang.
Ans Geschichte nIHl Sage . . 353
Riitische Alpensagen . . . . 353
Sagen aus dem Unterwallis . 354
Die Ureinwohner des skandinavischen Kordens. 356
Die Edda .......... . 358
Kinder- und Hausmiirchen . . . . . . . . . . 35!)
Zusammenfassung der Ergologie. . . . . . . . 360
Vicrter Abschnitt.
Krankheiten del' Kretinen. . . . . . 360
Sterbealter und mittlere Lebensdauer 361
Statistik der Todesursachen. 361
1. Der Kropf . . . . 363
2. Die Taubstummheit 365
Zusammenfassung . . 368
Dritter Teil.
'Vesen nntI Ursachen tIer kretinischell Entartllng llebst Bemerkungen
libel' Diiferentialtliagnostik nnd Prognose.
Wesen der Entartung. . . . 369
Variabilitiitskurve. . . . . 374
Ursachen der Entartung . . 375
Zur Diagnose des Kretinismus 387
Die Prognose des Kretinismus. 3!H
Viertel' Teil.
Be"trebllngen zlIr Ansrottnng tIes Krt'tillislllu;;;.
A. Behalldlung der kretinischen Individucn 3!l3
Anstaltsbehandlung . . . . . . . 396
B. Prophylaktische Ma13nahmen. . . 39!l
I. Erforschung dcs Kretinismus. 400
II. Kulturelle Verbesserungen . . 401
III. Prophylaxe beim Menschen seibst 402
a) Bestrcbungen fiir bessere Lebenshaltung 402
b) Bessere Korperpflege. . . . 402
c) Rassenhygiene und Eugenik. 403
Aufgaben der Gesetzgebung . . . . 407
Einflu13 der natiirlichen Entwicklung 409
Literaturverzeichllis. . 411
Erkliirung der Tafeln 431
Einleitung.
Die heute geltenden Anschauungen fiber Kretinismus.
Die Entwicklung der Lehre vom Kretinismus ist auch heute noch eins der
instruktivsten Kapitel aus der Geschichte menschlicher Irrtiimer. Seit mehr
als 100 Jahren haben sich zahlreiche Autoren mit der Erforschung dieses Zu
standes beschaftigt und haben eine bald uniibersehbare Literatur hervor
gebracht, ohne aber auch nur iiber die Diagnose, noch viel weniger iiber die
Atiologie oder gar iiber die Behandlung sich einigen zu konnen; dies ist urn
so erstaunlicher, als cine Durchsicht der Literatur bald ergibt, daB in sehr
weitem Umfang ein Autor immer wieder die andern aus- und abgeschrieben
hat. KOLLE (l55) bemerkt mit Bezug auf unser Thema ganz richtig: "Zu in
tensives Studium der Geschichte medizinischer Probleme kann auch ver
wirrend und ablenkt:'Jl(1 wirkcn"; dt:'r Forscher lant sich beeinflussen und ver
licrt den Blick fUr das Wirkliche und fiir das Wesentliche. Es gab eine Zeit, wo
man sich fast ganz auf cine aIlt:'rdings sehr sorgfaltige Kasuistik beschrankte
(und das war nicht die schlechteste Periode!); dann begann aIle Welt Statistik
zu treiben und die geographischt:' Ausbreitung des Krctinismus zu studieren,
um wenn moglich irgend eine Abhangigkeit von der chcmischen oder geo
logischen Struktur des Endemiegebiete~ aufzufinden (Trinkwassertheorien
in allen nur denkbaren Schatticrungen). Hatte schon immer ein gewisser
Zusammenhang zwischen Kretinismus und Kropfendemie wahrscheinlich ge
schiencn, so nahm zeitweise diese Kombination die Geister dermaBen in Be
schlag, daB lange Jahre kein Forscher mehr imstande war, ein Buch iiber
den Kretinismus und wirklich nu'r dariiber zu schreiben: unter der Hand ent
stand allemal ein Bueh iiber den Kropf daraus1)! In neuerer Zeit kam dann
die Mode der sogenannten Trankversuehe: Man suchte (meistens bei Ratten)
experimentell Kropf zu erzeugen und schmeichelte sich, damit fiir die Er
klarung des Kretinismus beim )'1:enschen etwas gewonnen zu haben. Natiir
lich gibt es seit 40 Jahren auch cine ganze Reihe von Infektionstheorien; denn
wo findet sich eine Krankheit, welche man nicht schon als Infektion zu deuten
versucht hatte? - Und aIle diese voreiligen Erklarungsversuche erfoIgten zu
einer Zeit, als man iiber die Anatomic der Kretinen (mit Ausnahme von Schild
driise und Gehirn derselben) noch vollig im Dunkeln war. Man bemiihte sich
um die Dachkonstruktion eines Hauses als dessen Fundament noch kaum
abgesteckt und markiert, aber noch lange nicht ausgemauert war. Da ist es
nun gewiB nicht verwunderIich, daB auch heute noch alles kontrovers und
1) Urn nioht selbst in diesen Fehler zu verfallen, habe ioh einen griilleren Abschnitt
iiber Kropf (etwa von S. 16 hinweg) gestrichen; die darauf beziiglichen Teile des
Literaturverzeichnisses (A IX, R. 415ff.) sind belassen worden.
Finkbei ner, Entartung. 1
2 Einleitung.
problematisch ist; aHes kann man aus der Kretinenliteratur beweisen, und
auch ebenso von aHem das Gegenteil. lch weiB wohl, daB sich auch iiber andere
Krankheiten, es sei nur an die Tuberkulose, an die Neurosen, an die Wund
behandlung usw. erinnert, die wissenschaftlichen Anschauungen im Laufe
der Jahrzente wandeln und verbessern; aber gar so schlimm, wie beim Kreti
nismus ist die Verwirrung doch eigentlich nirgends. Schon urn die Mitte des
vorigen Jahrhunderts konnte ST. LAGER (38) mehr als 40 Kretinentheorien
zusammensteHen und widerlegen; wie viele mogen es bis heute sein 1 Jeder
Autor hat seine eigne Theorie, und die allermeisten sind immer wieder in den
Fehler verfallen, einen einzelnen Umstand, den sie zufallig zu beobachten
Gelegenheit hatten, nicht etwa als den wichtigsten, sondern geradezu als den
einzig iiberhaupt maBgebenden anzusehen. Es war das die altere materia
listische Richtung in der Medizin und in der Naturforschung, die sich aIle
natiirlichen Beziehungen und aIle Naturgesetze viel zu einfach und schema
tisch vorsteIlte. Wahrend noch ST. LAGER behauptete: »la doctrine des causes
multiples n'explique rien«, so wissen wir heute im Gegenteil, daB kein noch so
simpler Vorgang des aHtaglichenLebens auf eine einzige Ursache zuriickzufiihren
ist, sondern immer haben wir es mit »causes multiples«, mit einer ganzen Kon
steHation von unzahligen und im Einzelfall gar nicht zu iiberblickenden Um
standen zu tun; warum soll te es allein beim Kretinismus anders sein 1
lch muB mich mit diesen Andeutungen begniigen; ein weiteres Eingehen
auf die Kretinenliteratur verbietet sich einmal mit Riicksicht auf Zweck und
Umfang dieser Arbeit, ist aber auch darum unnotig, weil es keinen Nutzen
verspricht und weil jeder, der sich dafiir interessiert, in folgenden Werken
ausgezeichnete Referate findet: ST. LAGER (38) bringt sehr ausfiihrlich die
alteren Autoren; eine vorziigliche, obschon subjektiv gefarbte Dbersicht findet
sich bei BAYON (3); und aUes irgendwie Bemerkenswerte aus der gesamten
Literatur hat SCHOLZ (39) zusammengetragen. lch kann mich hier darauf
beschranken, jene (wie mir scheint: irrtiimlichen) Ansichten zu referieren und
als unbefriedigend darzusteHen, welche heute noch einigermaBen Geltung und
Anhanger haben, namlich die Trinkwassertheorie, die Hypothyreosetheorie
und die Lehre von der Kontaktinfektion. An eine erschopfende Darstellung
ist auch bei dieser Beschrankung nicht zu denken, sondern ich will in erster
Linie die neuere Literatur beriicksichtigen.
1. Die Birchersche Trinkwassertheorie (119) erfreute sich lange Zeit wohl
nicht zum mindesten dank der eifrigen Propaganda von EWALD (11) einer
groBen Verbreitung und ist auch heute noch von ihren Urhebern nicht auf
gegeben. Es verlohnt sich wohl, des naheren darauf einzugehen, schon darum,
weil dabei auf allerlei methodische Fehler hingewiesen werden kann; und zwar auf
Fehler, welche sehr weit verbreitet und noch lange nicht als solche erkannt sind.
Die Grundlagen der BIRCHERschen Theorie sind erstens statistische Er
hebungen iiber das Vorkommen des Kropfes und zweitens geologische Studien.
Dabei ist es fiir den Autor von vornherein ausgemacht, daB sich die Idioten
mitten im Kropfgebiet finden, dort wo die Endemie am starksten. Man muG
sich dariiber klar sein, daB diese Annahme schon von den meisten Autoren
vor BIRCHER als richtig anerkannt war; es handelt sieh aber hier mehr urn eine