Table Of ContentSOZIALWISSENSCHAFT
Uli Meyer
Die Kontroverse urn Neuronale Netze
Uli Meyer
Die Kontroverse
urn Neuronale Netze
Zur sozialen Aushandlung
der wissenschaftlichen Relevanz
eines Forschungsansatzes
Mit einem Geleitwort von Dr. Ingo Schulz-Schaeffer
Deutscher Universitats-Verlag
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek
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,. Auflage Februar 2004
Aile Rechte vorbehalten
© Deutscher Universitats-Verlag/GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2004
Lektorat: Ute Wrasmann / Ingrid Walther
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ISBN-13:978-3-8244-4555-4 e-ISBN-13:978-3-322-81323-7
001: 10.1007/978-3-322-81323-7
Geleitwort
1m Feld der Kiinstliche-Intelligenz-Forschung (KI) hat seit den Achtzigetjahren des
letzten Jahrhunderts neben dem zu diesem Zeitpunkt vorherrschenden Ansatz der
Symbolischen KI eine von diesem deutlich unterschiedene, namlich subsymbolische
Herangehensweise zunehmend an Bedeutung gewonnen: das Konzept der Neuronalen
Netze. DreiBig Jahre zuvor war dieses Konzept der computertechnischen Modellierung
intelligenter Prozesse schon einmal vorgeschlagen und umzusetzen versucht worden.
Damals aber wurde es nach einiger Zeit als nicht erfolgsversprechendes Forschungs
programm bewertet und innerhalb der KI-Forschung weitgehend eingestellt. Die Re
naissance der Neuronale-Netze-Forschung ware einfach zu erklaren, ware das neu er
wachte Interesse an ihr ein Resultat des wissenschaftlichen Forschritts. Nun ist es aber
offensichtlich nicht so, dass die Einwande, die die negative Einschatzung des Ansatzes
der Neuronalen Netze seinerzeit begriindeten, in der Zwischenzeit auf der Grundlage
veranderten wissenschaftIichen Wissens aus dem Weg geraumt werden konnten.
Vielmehr geIingt es der Neuronale-Netze-Forschung nun, sich gegen dieselben Ein
wande durchzusetzen, die zwanzig Jahre zuvor ihr Ende bedeuteten.
Diese Beobachtung lasst die wechselvolle Geschichte der Neuronalen-Netze
Forschung zu einem interessanten Beobachtungsgegenstand der sozialkonstruktivisti
schen Wissenschaftsforschung werden. Denn ihr Forschungsinteresse, das auch das
der vorliegenden Arbeit ist, besteht darin, hinter der scheinbar rein erkenntnisbezoge
nen Logik des wissenschaftlichen Fortschritts nach den sozialen Faktoren der Erzeu
gung wissenschaftlichen Wissens zu suchen. Dabei beschrankt sich der Anspruch der
Arbeit nicht darauf, die etabIierte sozialkonstruktivistische Analysemethode, wie sie
etwa in Gestalt des wissenschaftssoziologischen Forschungsprogramms von Harry
Collins vorIiegt, nur auf einen neuen Gegenstandsbereich anzuwenden. Besonders in
teressant wird die Arbeit vielmehr dadurch, dass UIi Meyer in Auseinandersetzung mit
dem von ihm untersuchten empirischen Fall drei konzeptuelle Erweiterungen des sozi
alkonstruktivistischen Ansatzes von Collins vorschlagt: (1) Eine erweiterte Betrach
tung der rhetorischen Mittel, die beim Prozess der SchlieBung einer wissenschaftlichen
Kontroverse zum Zuge kommen; (2) das Konzept des Regresses der Relevanz, das es
VI Geleitwort
ermoglicht, Auseinandersetzungen tiber die Zukunftstrachtigkeit von Forschungspro
grammen als wissenschaftliche Kontroversen im Sinne des sozialkonstruktivistischen
Ansatzes zu thematisieren, und (3) die Erweiterung des Ansatzes auf den Fall der
WiedererOffnung einer zuvor bereits geschlossenen wissenschaftlichen Kontroverse.
Die erweiterte Betrachtung der rhetorischen Mittel in einer wissenschaftlichen Kon
troverse: Die im Konzept von Collins recht vage bleibende Rede von rhetorischen Mit
teln der SchlieBung einer wissenschaftlichen Kontroverse reichert Meyer durch kon
krete Konzepte der Beschreibung soIcher rhetorischen Mittel an. Er rekurriert dabei
auf das Guice'sche Konzept des Hypes, auf das von Krimsky et al. aufWissenschafts
rhetorik bezogene Konzept des Mythos sowie auf Fujimuras Konzept des scientific
bandwagon. Hierbei erweist sich das letztgenannte Konzept als geeignet, urn - besser
als dies im Konzept von Collins selbst der Fall ist - die Mobilisierung extemer Akteu
re flir die Position einer der an einer wissenschaftlichen Kontroverse beteiligten Par
teien zu erklaren.
Das Konzept des Regresses der Relevanz: Anders als bei den empirischen Fallen,
die die Grundlage des Collins'schen Forschungsprogramms bilden, ist die Kontroverse
urn die Neuronalen Netze keine, in der sich der Streit urn die wissenschaftliche Wahr
heit experimentell gewonnener Aussagen dreht, sondem eine Kontroverse, deren Ge
genstand die Frage ist, ob ein Forschungsprogramm vielversprechend in dem Sinne ist,
dass es sich lohnt es weiterzuverfolgen. Meyer zeigt, dass die grundlegende Problem
stellung nichtsdestotrotz analog ist. Er argumentiert, dass wie beim experimenters'
regress, der das Ausgangsproblem einer wissenschaftlichen Kontroverse urn Wahrheit
bildet, so auch der Kontroverse urn die Neuronalen Netze eine Situation der Unent
scheidbarkeit zu Grunde liegt, die sich nach innerwissenschaftlichen, kognitiven Krite
rien nicht aufiosen lasst. Dieses Problem bezeichnet Meyer als Regress der Relevanz.
Mit dieser konzeptuellen Innovation wird es moglich, den sozialkonstruktivistischen
Ansatz nun auch auf Kontroversen tiber das wissenschaftliche Potenzial von For
schungsprogrammen anzuwenden.
Die Erweiterung des sozialkonstruktivistischen Konzepts auf den Fall der Wieder
offuung einer bereits beendeten wissenschaftlichen Kontroverse: Bei der diesbezugli
chen Adaption des Collins'schen Ansatzes wahlt Meyer eine einfache, aber wirkungs
volle Uberlegung, indem er im Umkehrschluss aus den Kriterien, die Collins zufolge
Geleitwort VII
die Dominanz einer Partei in einer wissenschaftlichen Kontroverse begriinden, Krite
rien ableitet, die eine Destabilisierung der gefundenen Losung begiinstigen konnen.
Die Arbeit gliedert sich in vier Teile: Der erste Teil rekapituliert knapp und prazise
die Entstehungsgeschichte der Kl-Forschung und beschreibt in Grundziigen die beiden
Kontrahenten der untersuchten Kontroverse: den Ansatz der Symbolischen Kl und den
der Neuronalen Netze. 1m zweiten Teil wird Collins' Konzept der sozialkonstruktivis
tischen Analyse wissenschaftlicher Kontroversen vorgestellt und in der skizzierten
Weise erweitert. Von entscheidender Bedeutung ist es hier, dass es Meyer gelingt, die
zentrale Begrundung dafur, dass wissenschaftliche Kontroversen des von Collins beo
bachteten Typs nicht mit wissenschaftlichen Mitteln gelost werden konnen, sondem
sozialer Aushandlungsprozesse bediirfen, auf das ihn interessierende Problem einer
Kontroverse urn Forschungsprogramme zu iibertragen. Dies leistet das zur Figur des
experimenters' regress analog gebaute Konzept des Regresses der Relevanz.
Der Grund dafur, dass die von Collins betrachteten wissenschaftlichen Kontroversen
nicht mit Mitteln wissenschaftlicher Methoden und Argumentation gelost werden kon
nen, besteht darin, dass in diesen Hillen nicht nur die wissenschaftlichen Ergebnisse
kontrovers sind, sondem bereits umstritten ist, was als kompetent durchgefuhrtes Ex
periment gelten darf. 1m Normalfall gilt das kompetent durchgefuhrte Experiment als
Beleg fur die Giiltigkeit der darauf aufbauend erzeugten wissenschaftlichen Aussagen
oder umgekehrt die Replikation des giiltigen Ergebnisses als Beleg dafur, dass ein Ex
periment kompetent durchgefuhrt wurde. In der wissenschaftlichen Kontroverse dage
gen entsteht die Situation, dass nur die Giiltigkeit des Ergebnisses Auskunft damber
geben konnte, ob das Experiment kompetent durchgefuhrt wurde. Da aber auch das
Ergebnis umstritten ist, entsteht ein innerwissenschaftlich nicht lOsbarer Regress, der
von Collins als experimenters' regress bezeichnet wird.
Meyer arbeitet heraus, dass in Kontroversen iiber Forschungsprogramme ein ahnli
cher Regress auftauchen kann, der Regress der Relevanz: "Entscheiden lasst sich die
Frage, ob ein Forschungsansatz vielversprechend und es wert ist, weiterverfolgt zu
werden, letztendlich nur dadurch, dass man betrachtet, ob er die erhofften Ergebnisse
liefem kann oder nicht. Urn das herauszufinden, muss man den Forschungsansatz je
doch weiterverfolgen. Da dies allerdings nur in dem Fall geschehen sollte, wenn er
vielversprechend ist und dies nur entschieden werden kann, wenn er weiterverfolgt
VIII Geleitwort
wird, befindet man sich auch an diesem Punkt wieder in einem infiniten Regress." (S.
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Der dritte Teil analysiert mit den Mitteln des erweiterten und adaptierten Konzepts
von Collins die Kontroverse urn die Neuronalen Netze in den Sechzigetjahren des letz
ten Jahrhunderts, die mit einem Sieg der Symbolischen Kl und einem nahezu volligen
Verschwinden des Ansatzes der Neuronalen Netze aus den Forschungen zur Kl endete.
Hierbei kann Meyer nachweisen, dass bestimmte Eigenschaften der Neuronalen Netze,
die von den Kritikern dieses Ansatzes als Argument gegen dessen Zukunftsfahigkeit
angeflihrt wurden, von seinen Verfechtern in genau umgekehrter Weise und nicht
minder plausibel zu dessen Gunsten ins Feld geflihrt werden konnten. Auf diese Weise
kann er belegen, dass ein Fall des Regresses der Relevanz vorliegt, der soziale Aus
handlungsprozesse erzwingt. Mit dem erweiterten Instrumentarium zur Beobachtung
rhetorischer Mittel legt Meyer eine sehr detaillierte Analyse dieses sozialen Aushand
lungsprozesses vor. Die Einbeziehung des Konzepts des scientific bandwagon erweist
sich dabei als fruchtbar urn zu zeigen, weshalb es der Symbolischen KI anders als dem
Ansatz der Neuronalen Netze gelang, externe Akteure - insbesondere Forschungsfor
derer - flir die eigene Herangehensweise zu gewinnen und damit dem konkurrierenden
Ansatz Unterstiitzung - und hier nicht zuletzt: finanzielle Unterstiitzung - zu entzie
hen. Der Sieg fiber den Ansatz der Neuronalen Netze erweist sich schlieBlich als so
umfassend, dass der Begriff der KI in den Siebzigetjahren zum Synonym flir 5mboli
sche KI wird.
Umso erklarungsbedfirftiger ist das Wiedererstarken des Ansatzes der Neuronalen
Netze seit den Achtzigetjahren des letzten Jahrhunderts, mit dem Ergebnis, dass die
Neuronalen Netze sich heute als anerkannte Forschungsrichtung innerhalb der Kl
Forschung neben dem symbolischen Ansatz etabliert hat. Der Erklarung dieses Pha
nomens der Wiederoffnung einer Kontroverse urn die Leistungsfahigkeit von For
schungsprogrammen ist der vierte Teil der Arbeit gewidmet. Meyer kann zeigen, dass
das Wiedererstarken des Ansatzes der Neuronalen Netze wiederum nicht mit innerwis
senschaftlichen, kognitiven Gesichtspunkten zu erklaren ist. Zwar ist es der Forschung
zu Neuronalen Netzen zwischenzeitlich gelungen, mit der Entwicklung des so genann
ten Backpropagation-Algorithmus eine zentrale Beschrankung der fiiiheren Bemfihun
gen zu tiberwinden. Aber diese Entdeckung wurde bereits in den fiiihen Siebzigetjah-
Geleitwort IX
ren gemacht und blieb in der KI-Forschung zunachst vollig ohne Resonanz. Sie fiihrt
zwar bei den wenigen verbliebenen Befiirwortern des Ansatzes zu einer positiveren
Bewertung seiner Leistungsfahigkeit. Die Kritiker, die die Definitionsmacht im For
schungsfeld der KI besaBen, sahen in dieser Entdeckung jedoch keinen Anlass, ihre
ablehnende Haltung zu revidieren.
Wichtiger scheint zunachst, wie Meyer betont, dass die Verdrangung der Neuronale
Netze-Forscher aus der KI dazu gefiihrt hat, dass sie in Nischen anderer Disziplinen
auswichen (Mathematik, Physik, Psychologie, Biowissenschaften), mit dem Effekt,
dass die Kritiker aus der Mainstream-KI nun nicht mehr in der Lage waren, sie von
Forschungsressourcen und Wahrnehmungs- und Reputationschancen komplett abzu
schneiden. Andere Faktoren, die zu einer veranderten Ausgangslage gegeniiber der
Kontroverse in den Sechzigerjahren fiihren, bestehen in einer deutlichen Verringerung
der Forschungskosten (Computer werden billiger), die es in diesem Feld nun erlaubt,
auch mit geringen Forschungsmitteln einschlagige Forschung zu betreiben, sowie der
Umstand, dass die Syrnbolische KI weit hinter den Erwartungen zuruckgeblieben war,
die sie zuvor geweckt hatte. Zusammengenommen bieten diese Faktoren die Erklarung
dafiir, warum die erneute Kontroverse urn die Neuronalen Netze, die nicht mit wesent
lich anderen Argumenten ausgetragen wird, als zuvor, dennoch zu einem anderen Er
gebnis fiihrt: Die Ressourcen und Einflussmoglichkeiten der involvierten Parteien ha
ben sich zu Gunsten der Verfechter des Ansatzes der Neuronalen Netze verandert und
dies wird von ihnen erfolgreich ausgenutzt, urn sich einen Platz in der KI-Forschung
neben dem Symbolischen Ansatz zu erobern.
Es ist keineswegs die Aussage des sozialkonstruktivistischen Ansatzes in der Wis
senschaftssoziologie, dass Fragen wissenschaftlicher Wahrheit zu jedem Zeitpunkt
beliebig sozial aushandelbar waren. Selbstverstandlich wird ganz im Gegenteil aner
kannt, dass wissenschaftliche Bewertungen und Schlussfolgerungen in den meisten
Situationen auf der Grundlage des bereits als gesichert geltenden Wissens erfolgen.
Wissenschaftliche Kontroversen, die iiber soziale Prozesse der Aushandlung entschie
den werden miissen, lassen sich aus diesem Grund nur in jenen Bereichen der Grund
lagenforschung beobachten, in denen das als gesichert geltende wissenschaftliche Wis
sen nicht ausreicht, urn eine Entscheidung iiber konkurrierende Interpretationen eines
erklarungsbediirftigen Phanomens herbeifiihren zu konnen. Die Arbeit von Uli Meyer
x Geleitwort
lenkt den Blick auf eine Klasse ahnlich gelagerter Falle: Falle, in denen die Frage da
nach, ob ein Forschungsansatz wird einlosen konnen, was er verspricht, die auf der
Grundlage des gegenwartig als gesichert geltenden Wissens nicht entschieden werden
kann und doch entschieden werden muss. Damit erweitert die Arbeit nicht nur das Un
tersuchungsfeld des sozialkonstruktivistischen Ansatzes, eine Erweiterung, von der
man, nachdem sie nun voriiegt, sagen muss, dass sie langst fallig war. Sie liefert
zugleich einen Ausgangspunkt fUr die weitergehende Frage, in welchen anderen Hin
sichten - neben dem gemeinsamen das Merkmal der sozialen Aushandlung angesichts
von Unentscheidbarkeit nach den Regeln der wissenschaftlichen Methode - sich die
beiden Fallgruppen ahneln oder unterscheiden.
Ingo Schulz-Schaeffer