Table Of ContentARBEITSGEMEINSCHAFT FüR FORSCHUNG
DES LANDES NORDRHEIN-WESTFALEN
GEI STESWI S SEN SCHAFTEN
61. Sitzung
am 28. Ja nu a r 1959
in Düsseldorf
ARBEITSGEMEINSCHAFT FüR FORSCHUNG
DES LANDES NORDRHEIN-WESTFALEN
GEI STESWISSENSCHAFTEN
HEFT 84
Helmut Coing
Die juristischen Auslegungsmethoden
und die Lehren der allgemeinen Hermeneutik
SPRINGER FACH MEDIEN WIESBADEN GMBH
ISBN 978-3-322-98301-5 ISBN 978-3-322-99006-8 (eBook)
DOI 10.1007/978-3-322-99006-8
© 1959 Springer Fachmedien Wiesbaden
Ursprünglich erschienen bei Westdeutscher Verlag, Köln und Opladen in 1959
Die juristischen Auslegungsmethoden
und die Lehren der allgemeinen Hermeneutik
Von Professor Dr. Helmut Coing, Frankfurt
Ich darf zunächst meiner Freude darüber Ausdruck geben, daß ich in diesem
Kreise als Gast sprechen darf und dabei meinen besonderen Dank an Herrn
Staatssekretär Brandt richten.
Wenn heute von der Entwicklung der Wissenschaft die Rede ist, richten
sich die Gedanken in erster Linie auf die Naturwissenschaften, die schnelle
Entwicklung ihrer Ergebnisse und die Verfeinerung ihrer Methoden. Leicht
wird dabei vergessen, daß auch die Geisteswissenschaften im Laufe der
letzten 150 Jahre eine bedeutende Entwicklung durchgemacht haben, daß sie
nicht nur den Stand der hier zu erwerbenden Kenntnisse erweitert, sondern
sich auch in ihrer methodischen Grundlage verändert haben. Die Fragen
ihrer methodischen Grundlagen sind neu durchdacht, neue, sicherere For
schungsmethoden sind entwickelt worden. Für diese Situation ist kennzeich
nend, daß einer der bedeutendsten englischen Philosophen unserer Zeit,
Collingwood, die Entwicklung, und zwar gerade die Methodenentwicklung
der Geisteswissenschaften, überhaupt für das bedeutendste wissenschaftliche
Ereignis der letzten Generation gehalten hat. Daß trotzdem die Entwiddung
in den Geisteswissenschaften im allgemeinen Bewußtsein bei uns so zurück
tritt, ist um so erstaunlicher, als gerade deutsche Forscher einen hervorragen
den Anteil an dieser Entwicklung genommen haben. Ich brauche nur Namen
wie Dilthey und Simmel zu erwähnen, um das zu verdeutlichen.
Die Bedeutung dieser deutschen Forschungsarbeiten wird im Ausland stei
gend anerkannt. Ich darf an die Würdigung erinnern, die französische Histo
riker, wie Aron und Marrou, den Arbeiten Diltheys und Simmels haben zuteil
werden lassen. Ich darf ferner an die Arbeiten des großen italienischen
Juristen Betti erinnern, der diese Methode im Zusammenhang mit der Juris
prudenz ausgewertet hat. Um so merkwürdiger ist es, daß bei uns die
Namen der großen deutschen Forscher auf diesem Gebiet immer mehr zu
rückgetreten sind.
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Das Ziel meines heutigen Vortrages ist nun, Ihnen zu zeigen, welche
Bedeutung der allgemeinen Theorie der Geisteswissenschaften, in diesem Fall
der allgemeinen Theorie der Interpretation, für eine spezielle Disziplin aus
dem Bereich der Geisteswissenschaften, die jurisprudenz, zukommt. Ich
möchte dabei zeigen, wie weit es möglich ist, durch einen Rückgriff auf
die allgemeinen Methoden, die die Geisteswissenschaften entwickelt haben,
die Situation in einer bestimmten Wissenschaft zu klären und ihre Methoden
zu verbessern.
Das Thema, das ich mir gesetzt habe: "Das Verhältnis der Auslegungs
methoden in der jurisprudenz zu den allgemeinen Methoden der Textinter
pretation in den Geisteswissenschaften" läßt sich verschieden anfassen. Es
wäre sicher reizvoll, die gegenseitigen Beziehungen zwischen jurisprudenz
und Hermeneutik, zwischen jurisprudenz und allgemeinen Lehren der Inter
pretation, historisch zu entwickeln und zu prüfen, wie diese beiden Diszi
plinen sich im Laufe einer jahrhundertelangen Entwicklung gegenseitig
beeinflußt haben. Aber dies würde nicht nur sehr viel mehr Zeit erfordern
als mir hier zur Verfügung steht, sondern uns auch vor Fragen stellen, auf die
die historische Forschung heute noch keine genügenden Antworten geben
kann. Ich möchte daher zunächst kurz die wesentlichen juristischen Interpre
tationsmethoden darstellen, dann demgegenüber die allgemeinen Regeln der
Hermeneutik erörtern und schließlich die Frage prüfen, welche Ergebnisse
sich hinsichtlich der Auslegungsmethode in der jurisprudenz aus jenen all
gemeinen Regeln der Hermeneutik ergeben. Ich folge mit diesem Beginnen
übrigens einem Weg - das möchte ich gleich am Beginn meiner Ausführungen
ausdrücklich hervorheben -, den von juristischer Seite schon der eben er
wähnte italienische Forscher Betti beschritten und in einer Reihe von bedeu
tenden Schriften behandelt hat.
I
Ich beginne mit einer kurzen Darstellung der juristischen Auslegungslehre.
Den überblick über die Methoden, die in der jurisprudenz angewendet
werden, um die vorhandenen Texte auszulegen, gewinnt man am leichtesten,
wenn man sich an ihre geschichtliche Entwicklung anlehnt, denn die heute
noch nebeneinander in der lebenden jurisprudenz angewendeten Methoden
sind geschichtlich nacheinander von aufeinander folgenden Generationen ge
schaffen. Dabei darf ich daran erinnern, daß unser geltendes Recht - in
Deutschland wie im kontinentalen Europa überhaupt - in einem großen
Die juristischen Auslegungsmethoden und die Lehren der allgemeinen Hermeneutik 7
Traditionszusammenhang steht, der über das mittelalterliche Recht auf die
Antike zurückgeht. Auch die juristische Methodenlehre teilt die Entwicklung
dieses Traditionszusammenhanges im ganzen. In den juristischen Auslegungs
methoden scheidet sich deutlich ein traditioneller Bestand, der in seinen
wesentlichen Grundzügen schon in der Antike entwickelt und in der zusam
menfassenden Kodifikation des Römischen Rechts, im Corpus iuris enthalten
ist und dann im Mittelalter weiter ausgeprägt wurde, von einer anderen
Gruppe von Methoden, die neueren Datums sind und erst seit dem 19. Jahr
hundert entwickelt wurden. Ich will diese beiden Gruppen von Auslegungs
gesichtspunkten nacheinander behandeln.
1. Für keine Disziplin gilt so wie für die Jurisprudenz der Satz: "Am An
fang war das Wort." Am Anfang der juristischen Auslegung steht - das gilt
für alle archaischen Rechte und das gilt auch für die Mutter der kontinentalen
Rechte, für das Römische Recht - eine strikte Wortauslegung. Das entspricht
archaischen Vorstellungen von der Wirkung gesprochenen Worts.
Weniger bekannt als diese Tatsache, daß juristische Auslegung mit strenger
Wortauslegung beginnt, ist der Umstand, daß die römischen Juristen der
ausgehenden Republik diese archaische Wortauslegung alsbald mit den in
zwischen entwickelten Wissenschaften der Grammatik und Etymologie
verbunden haben. Die Wortauslegung wurde von den römischen Juristen
weiterentwickelt zur grammatisch-philologischen Auslegung. Der strenge
Formalismus, unter dem das Römische Recht angetreten war, wurde auf
rechterhalten und zugleich verfeinert, indem die römischen Juristen die von
ihnen auszulegenden Vertragstexte oder Gesetzestexte nunmehr streng nach
den Regeln der Grammatik, die von ihnen verwendeten Begriffe mit Hilfe
der neu entwickelten Etymologie behandelten. Man muß sich dabei darüber
klar sein, daß sowohl die Grammatik wie die Etymologie damals verhält
nismäßig moderne Wissenschaften waren. Sie gehen zurück auf die wissen
schaftliche Arbeit der nacharistotelischen Philosophenschulen und wurden
von römischen Juristen etwa um 100 vor Christi aufgegriffen, also verhält
nismäßig schnell nach ihrer Entstehung.
Neben diese, schon wissenschaftlich weiterentwickelte Wortinterpretation
tritt in der Antike als weiterer Auslegungsgesichtspunkt der, daß nach der
inneren Absicht - der voluntas oder sententia - der Parteien oder des Ge
setzgebers ausgelegt werden muß. Dieser Gesichtspunkt der Auslegung, der
vom Wort zur Meinung des Urhebers des Wortes zurückgeht, ist entwickelt
von der griechischen Rhetorik, weitergebildet in der lateinischen Rhetorik
und sodann von den Juristen übernommen worden. Er wird in der spät-
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antiken Entwicklung des Römischen Rechts der leitende Auslegungsgesichts
punkt.
Ein dritter Gesichtspunkt tritt ebenfalls schon im Römischen Recht her
vor: es ist die Frage nach der ratio, nach dem objektiven Zweck des Gesetzes,
der nicht übereinstimmen muß mit dem Wortsinn, aber auch nicht mit dem
subjektiven Zweck des Gesetzgebers. Die klassische Jurisprudenz der Römer
hat allerdings gegenüber dieser Auslegung immer ein gewisses Mißtrauen
behalten. Nicht bei allen von den Vorfahren aufgestellten Regeln, sagt uns
das Corpus iuris, kann man den Zweck einsehen Der Hang der römischen
1.
Jurisprudenz, an der Wortauslegung festzuhalten, die ihr der sichere Boden
zu sein schien, bleibt, solange die römische Jurisprudenz sich fortentwickelt,
stets erkennbar.
Neben diese allgemeinen Gesichtspunkte treten nun ebenfalls schon in der
Antike gewisse Auslegungsregeln, die einerseits den Zweck haben, die Ein
heit der Rechtsordnung herzustellen, anderseits die Möglichkeit eröffnen
sollen, Lücken in der Rechtsordnung zu schließen. Zu den Sätzen, die Wider
sprüche in der Rechtsordnung ausschalten sollen, gehören solche wie die be
kannten: Lex specialis derogat generali oder Lex posterior derogat priori.
Zu den Sätzen, die die Ausfüllung von Lücken ermöglichen sollen, ge
hören ferner der Analogieschluß und das Argumentum e contrario, sowie das
Argurnenturn a fortiori. Diese Auslegungsregeln gehen zurück auf die Philo
sophie und zwar - wenn ich recht sehe - auf die Topik des Aristoteles.
Aristoteles entwickelt sie hier als eine Methode, Lösungen für Probleme zu
finden, welche nicht deduktiv aus den Prima principia gelöst werden kön
nen, sondern bei denen man so verfahren muß, daß man für wahrscheinlich
gehaltene Sätze, die für die Lösung dieser Probleme in Betracht kommen,
gegeneinander abwägt. Auf juristische Probleme sind sie schon von Cicero
angewendet worden, der seine Topik einem Juristen, Trebatius, gewidmet
hat. Sie sind dann vor allen Dingen in der mittelalterlichen Jurisprudenz,
in der mittelalterlichen Interpretation des Corpus iuris ausgearbeitet worden.
Heute sind sie, wie alle eben geschilderten traditionellen Gesichtspunkte der
juristischen Auslegung, Gemeinbesitz aller Juristen der zivilisierten Welt.
2. Zu diesem traditionellen Bestand juristischer Auslegungsmethoden sind
nun im Laufe der letzten 150 Jahre eine Reihe von neuen Gesichtspunkten
hinzugetreten, die, genauer betrachtet, sich nur als Verfeinerung, Akzentuie
rung bereits vorhandener Gesichtspunkte darstellen, die aber heute, jedenfalls
in der kontinentalen Rechtswissenschaft, vor allen Dingen in der französi-
1 D 1. 3. 20 (Julianus).
Die juristismen Auslegungsmethoden und die Lehren der allgemeinen Hermeneutik 9
schen, italienischen und deutschen Jurisprudenz, die methodische Diskussion
weitgehend beherrschen. Es sind die systematische, die historische, die sozio
logische und die soziologisch-ethische Interpretation oder-wenn Sie wollen
das ethische Ordnungsdenken.
a) Die systematische Interpretation bedeutet die Auslegung des juristischen
Einzelsatzes aus einem wissenschaftlich ausgearbeiteten System übergeord
neter Allgemeinbegriffe. Man legt das positive, konkrete Gesetz aus, indem
man zurückgreift auf ein überpositives, von dem Einzelgesetz unabhängiges
allgemeines juristisches Begriffssystem. Diese Methode ist geschichtlich aus
einer ganz besonderen Situation hervorgegangen, nämlich aus dem übergang
vom Naturrecht der Aufklärungszeit, vom Naturrecht des 18. Jahrhunderts,
zur historischen Betrachtungsweise, und sie beruht auf einer Kombination
jenes Denkens der Naturrechtszeit mit der Hochschätzung des positiven
Gesetzes durch die historische Schule. Die Jurisprudenz der Naturrechtszeit,
anknüpfend übrigens an eine an sich schon länger bestehende Tendenz in der
europäischen Jurisprudenz, die mit den Glossatoren beginnt und in der
Renaissance ihre Fortbildung erfahren hat, die Naturrechts-Jurisprudenz
also hatte ein allgemeines System von Rechtsbegriffen ausgearbeitet. Aus
jener Zeit stammen die uns allen wohlvertrauten Figuren, wie Rechtsge
schäft, Vertrag, Delikt usw.
Die historische Schule, obwohl sie den Gedanken des rationalen Natur
rechts, wie er im 18. Jahrhundert entwickelt wurde, ablehnt, hat dennoch
in der praktischen Auslegung der Gesetze dieses von der Naturrechtsschule
erarbeitete Begriffssystem beibehalten. Wenn man das bedeutendste Lehr
buch des Römischen Rechts und damit des Zivilrechts der historischen Schule
liest - Savignys Darstellung des heutigen Römischen Rechts -, so sieht man,
daß der Aufbau dieses Buches in gar keiner Weise an den Aufbau der
römischen Quellen anknüpft, daß die inhaltlichen Gesichtspunkte, nach
denen der Stoff gruppiert ist, in den römischen Quellen gar keine Grundlage
haben, daß vielmehr das Schema, das System, das er zugrunde legt und das
die begriffliche Grundlage seiner ganzen Arbeit ist, das Naturrechtssystem
des 18. Jahrhunderts ist; in diesem Rahmen erst wird das positive Recht
dargestellt.
Diese geschichtliche Situation verdeutlicht den Sinn des Systems. Man
verbindet hier ein positives Recht mit einem übergreifenden System von
Allgemeinbegriffen. Es ist bekannt, daß diese Methode, weil sie versucht,
die Auslegung juristischer Sätze auf die reine Logik, auf die logische Deduk
tion vom Allgemeinbegriff zum konkreten Satz, zu beschränken, dann zur
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BegriJfsjurisprudenz erstarrt ist. Trotzdem wäre es vollkommen falsch, zu
glauben, daß dieser methodische Gesichtspunkt etwa in der deutschen Juris
prudenz heute seine Bedeutung verloren hätte.
b) Die zweite Interpretationsmethode, die der neueren Entwicklung an
gehört, ist die historische Methode. Sie ermittelt den Sinn der Rechtssätze und
der Rechtsbegriffe aus ihrer geschichtlichen Entwicklung. Im Ursprung liegt
dabei der historischen Jurisprudenz eine bestimmte Geschichtsauffassung
zugrunde, die der Hegels nicht fernsteht, eine Geschichtsauffassung, die die
Rechtsgeschichte betrachtet als die Selbst entfaltung, die selbsttätige Entfal
tung von rechtlichen Begriffen und rechtlichen Institutionen, und die infolge
dessen auch die Aufgabe der historischen Interpretation darin sieht, aus
dieser Selbstentfaltung der rechtlichen Begriffe und rechtlichen Institutionen
sozusagen den Entwicklungspunkt festzuhalten und festzustellen, in dem
dieser Begriff oder dieses Institut sich jetzt befindet - im Zeitpunkt der Aus
legung - und der damit im positiven Recht zur Geltung gebracht werden
muß. Es ist also eine historische Auslegung sehr besonderer Art, die von der
historischen Schule am Anfang des 19. Jahrhunderts proklamiert wurde, und
wir müssen uns darüber klar sein, daß das damit eingeführte Auslegungs
prinzip - Auslegung aus dem geschichtlichen Zusammenhang heraus - sehr
viel weitergreift als die besondere Form, die die historische Rechtsschule ihm
ursprünglich gegeben hat. Ich darf aber noch einmal den ursprünglichen An
satz in den Worten Savignys selbst zur Darstellung bringen. Savigny sagt:
"Ihr (der historismen Smule nämlim) Bestreben geht dahin, jeden gegebenen Stoff bis
zu seiner Wurzel zu verfolgen und so ein organismes Prinzip zu entdecken, wodurm sim
von selbst das, was nom Leben hat, von demjenigen absondern muß, was smon abgestor
ben ist."
Hier sehen Sie sehr deutlich diese Blickrichtung auf eine Selbstentfaltung,
eine organische Entfaltung von Instituten, wie sie für die historische Be
trachtungsweise Savignys so charakteristisch ist. Aber der Gesichtspunkt,
den die historische Schule in die juristische Auslegungslehre hineingebracht
hat, greift natürlich sehr viel weiter, und wir werden sehen, daß schon der
nächste Gesichtspunkt, den das 19. Jahrhundert uns für die juristische Aus
legung an die Hand gegeben hat, auch eine historische Interpretation zuläßt.
Ich meine die soziologische Methode.
c) Die soziologische Methode geht auf die Grundanschauung zurück, daß
das Recht hervorgehe aus überindividuellen, gesellschaftlichen, weitgehend
ökonomisch determinierten Prozessen. Im einzelnen ist dieser Gesichtspunkt
in der soziologischen Auslegungsmethode sehr verschieden ausgeprägt. So
Die juristischen Auslegungsmethoden und die Lehren der allgemeinen Hermeneutik 11
sieht zum Beispiel die Interessenjurisprudenz, die in Deutschland entwickelt
ist, die Rechtsnorm als die Resultante eines Interessenkonfliktes an. Zwei in
der Gesellschaft vorhandene Interessen stoßen aufeinander, und ihr relatives
Kräfteverhältnis bestimmt den Inhalt der Norm. Die Autoren, die die
Interessenjurisprudenz bei uns begründet haben, wie etwa Heck, haben das
an den parlamentarischen Verhandlungen um ein Gesetz dargelegt; entweder
kommt es zu einem Komprorniß zwischen den Interessen, oder es setzt sich
ein Interesse durch; jedenfalls ist die Norm, die dann herauskommt, die
Resultante des Aufeinanderstoßens sozialer Interessen.
Zur Auslegung der Gesetze kann dieser Gesichtspunkt nutzbar gemacht
werden, wenn man der Auslegung die Aufgabe stellt, die Norm immer im
Blick auf den damit entschiedenen Interessenkonflikt zu sehen, den Ausgang
jenes Konfliktes in dem historischen Gesetzgebungsakt im Auge zu behalten
und die Norm auch in ihrer weiteren Anwendung immer so zu interpretie
ren, wie sie eben als Resultante aus dem Kräfteverhältnis der sozialen Inter
essen hervorgegangen ist.
Dieser Grundansatz läßt im einzelnen sehr verschiedene methodische Ge
sichtspunkte zu. Er kann, wie ich eben schon bemerkte, zu einer historischen
Interpretation führen. Dann muß man - und das hat der eben schon er
wähnte "Führer" der Interessenjurisprudenz in Deutschland, Heck, immer
wieder getan - bei jeder einzelnen Norm fragen, aus welchem Interessenkon
flikt sie historisch entstanden ist. Wenn diese historische Frage geklärt, ist
damit der geschichtliche Sinn der Norm festgelegt, und eine feste Grundlage
für die Auslegung gewonnen. Man weiß dann, die Norm wollte diesen oder
jenen Interessenkonflikt, den man historisch fixieren kann, in einem be
stimmten Sinne lösen.
Die soziologische Methode kann aber auch anders gehandhabt werden. Man
kann versuchen - das tut eine andere Richtung in Deutschland -, typische
Interessenkonflikte herauszuarbeiten, die in der Gesellschaft sich immer wie
der ergeben und den Sinn der zu interpretierenden Norm auf dem Hinter
grund dieser typischen Interessenkonflikte feststellen, also fragen, welche
typischen Interessenkonflikte die Norm lösen wollte. - Zu einer ganz an
deren Form soziologischer Auslegung führt es, wenn man den Gedanken
einer gesetzlich sich vollziehenden Entwidelung der gesellschaftlichen Kräfte
einführt (wozu die französische Jurisprudenz im Augenblick sehr stark
neigt). Man kann sagen: Die Gesellschaft bewegt sich in einer bestimmten,
uns bekannten Richtung vorwärts, und die juristische Interpretation muß
in der Interpretation der Gesetze diesem Bewegungsprozeß der Gesellschaft