Table Of ContentHANS JOACHIM ALPERS
DIE GRAUE EMINENZ
Dritter Roman der Trilogie
DEUTSCHLAND IN DEN SCHATTEN
Zwölfter Band
des SHADOWRUN™-ZYKLUS
Originalausgabe
WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN
HEYNE SCIENCE FICTION & FANTASY
Band 06/5106
5. Auflage
Redaktion: Rainer Michael Rahn
Copyright © 1995 by Hans Joachim Alpers
Die Kapitelüberschriften sind Songtitel von
The Cream,
The Doors,
Bob Dylan,
Jimi Hendrix und
Velvet Underground.
Die Kapiteleinleitungen sind Zitate aus:
Michael Immig & Thomas Römer (Hrsg.)
Deutschland in den Schatten.
Copyright © 1992 by Fantasy Productions, Erkrath.
Die Verse im 9. Kapitel sind Zitate aus:
Johann Wolfgang Goethe:
Faust. Der Tragödie Erster Teil,
zitiert nach einer Ausgabe des Deutschen Taschenbuchverlags,
dtv klassik 2074, München 1977,
bzw. Johannes Praetorius: Blockes Berges Verrichtung,
Leipzig 1669,
Faksimile-Nachdruck Müller & Kiepenheuer,
Hanau 1968
Die Karten zeichnete Dietrich Limper
Printed in Germany 1999
Umschlagbild: FASA
Umschlaggestaltung: Atelier Ingrid Schütz, München
Technische Betreuung: M. Spinola
Satz: Schaber Satz- und Datentechnik, Wels
Druck und Bindung: Elsnerdruck, Berlin
ISBN 3-453-07971-X
Mitte des 21. Jahrhunderts: Nach der Rückkehr der
Magie in die Welt hat sich auch Europa
grundlegend verändert. Deutschland ist zu einen
losen Staatenbund zerfallen und Schauplatz
globaler Machtkämpfe von Konzernen. High-Tech-
Zentren beherrschen den Süden, anarchistische
Projekte dominieren Berlin und Hamburg, Slums
wie der riesige Rhein-Ruhr-Sprawl sind chaotische
Ballungszentren, daneben Ghettos aller Couleurs,
ein Kirchenstaat Westphalen und ein
Trollkönigreich im Schwarzwald.
Der Shadowrunner Pandur, alias Thor Walez, ist
vom Gejagten zum Jäger geworden. Im
anarchistischen Berlin gelingt es ihm endlich, den
Mächten auf die Spur zu kommen, die sein Leben
ruiniert haben. Konzerngardisten, Straßensamurais
und Yakuzakiller im Nacken, arbeiten sich Pandur
und seine Freunde an das Versteck der
geheimnisvollen Grauem Eminenz heran, aber ihr
Feind scheint jeden ihrer Züge bereits eingeplant
zu haben.
1. KAPITEL
›With God On Our Side‹
Berlin gilt – je nach Standpunkt – als funktionierende
Anarchie oder als abschreckendes Beispiel für die Folgen
einer Laisser-faire-Politik der verantwortlichen Staats- und
Konzernpolitiker. Wie man auch zum Konzept der Anarchie
stehen mag: Es ist festzustellen, daß das öffentliche Leben
Berlins erstaunlich gut funktioniert – wenn auch niemand so
genau weiß, warum.
Viele begreifen Anarchie als einen Zustand, der Macht
ausschließt. Zumindest für Berlin gilt dies nicht. Dabei sind
es nicht die Thesen der Neo-Anarchisten amerikanischer
Prägung, die als Grundlage des Berliner Machtgefüges
herhalten. Tatsächlich sind die Neo-Anarchisten in Berlin
nur eine Gruppe unter vielen. Hier tummeln sich politische
Interessengruppen, Poliklubs (immerhin gilt Berlin
zumindest unter Berlinern als die eigentliche Wiege der
Poliklubs), Gangs und natürlich Interessenvertreter der
Megakons. Alle haben Anteil an dem geheimnisvollen
Geflecht, das hier allgemein als ›Status F‹ (F für fluxus: lat.
fließend, wandelbar, schwankend) bekannt ist. Wer in
Berlin etwas – irgend etwas – zuwege bringen will, muß
sich die Launen des Status F und seiner Verfechter zunutze
machen. Daher gilt der Spruch ›Kontakte sind Macht‹ in
Berlin mehr als irgendwo sonst. Liegt anderswo das
Bestreben meistens darin, wenigstens den Status quo zu
zementieren, zielen die anarchistischen Gruppen Berlins
darauf ab, das Machtgefüge in stetiger Veränderung zu
halten.
Erst wenn eine Verschiebung des Machtgefüges
dahingehend droht, einen Status quo zu ermöglichen,
werden alle Gruppen emsig aktiv, um die Bedrohung zu
eliminieren. Ein Individuum oder eine Gruppe, die als
›BSF‹ (Bedrohung des Status F) erkannt wird, gerät sofort
ins Visier sämtlicher anderer Gruppen Berlins. Sich eine
wirkliche Machtposition zu erarbeiten, erfordert deshalb
eine geradezu geniale Manipulation der jeweils
herrschenden Verhältnisse – was um so schwieriger ist,
wenn man bedenkt, daß sich im Sinne der Erhaltung des
Status F Allianzen und Rivalitäten ständig verändern.
Das wesentliche Merkmal des Status F ist das
Mächtegleichgewicht der vielfältigen politischen und
sozialen Gruppen, die sich in der Berliner Politszene
tummeln. Es lebt aus den starken Ideologien- und
Interessenkonflikten dieser Gruppen, die einen ständigen
Kriegszustand bewirken. Nur wem es gelingt, in diesem
Krieg durch geschicktes Taktieren stets auf der Seite der
Sieger zu stehen, hat überhaupt eine Chance, seine
individuellen Interessen durchzusetzen.
Deshalb sind Koalitionen oftmals die wichtigsten Waffen
im Status F. Gleichzeitig sind diese Koalitionen allerdings
nicht sehr dauerhaft, da besonders die ideologischen
Verfechter der Anarchie ängstlich darauf bedacht sind, jede
Möglichkeit einer Machtkonzentration zu verhindern oder
zu bekämpfen, denn eine Koalition im Status F bedeutet die
Grundlage einer unvergleichlichen Machtposition.
Das einzige ordentliche politische Organ Berlins ist der
Berliner Rat, der sich aber entsprechend dem Letzten
Gesetz ausschließlich darauf beschränken muß, den
verschiedenen Gruppierungen einen offenen
Meinungsaustausch zu ermöglichen.
Damit aus dieser politischen Plattform keine neue
Regierung entstehen kann, werden auch im Rat
entsprechend den Grundsätzen der anarchistischen Lehre im
Abstand von sechs Monaten die Aufgaben umverteilt. Aus
anarchistischen Grundsätzen abgeleitet, darf der Rat nicht
die Struktur einer dauerhaften Organisation haben.
So gibt es auch keine öffentlichen Sicherheitsbeamten, die
das relativ kleine Verwaltungsgebäude oder die
angrenzende riesige Versammlungshalle, deren Architektur
an einen überdimensionalen Kuchenteller des 20.
Jahrhunderts mit einer darübergestülpten Spiegelhalbkugel
erinnert, bewachen. Auch den Mitgliedern des Rates steht
kein spezieller Sicherheitstrupp zur Verfügung.
Genaugenommen hat jedes Ratsmitglied das Recht, aus der
Berliner Kasse, der Geldquelle des Rates, Mittel zur
Finanzierung eines Bodyguards zu entnehmen. Da in Berlin
aber keine Einrichtung besteht, die für die Erhebung von
Steuern zuständig ist, werden Abgaben auf freiwilliger
Basis eingezahlt. Kein Wunder also, wenn nur in den
seltensten Fällen Mittel zur Verfügung stehen.
Außer dem Berliner Rat existiert nicht eine einzige
Organisation, die nicht in privater Hand ist. Allerdings
versuchen hin und wieder Poliklubs oder Megakons in aller
Stille, ein System von Organisatoren und ausführenden
Organen zu schaffen, das im geeigneten Moment innerhalb
von maximal zwei Tagen die Macht übernehmen und Berlin
erneut völlig umkrempeln soll.
Eine solche Aktion ist mehr als nur gefährlich, da
Informanten für gewöhnlich schnell für ein Bekanntwerden
dieser Bedrohung des Status F sorgen.