Table Of ContentDIE FRAGMENTE
DER VORSOKRATIKER
GRIECHISCH UND DEUTSCH
VON
HERMANN DIELS
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NEUNTE AUFLAGE HERAUSGEGEBEN VON
WALTHER KRANZ
ERSTER BAND
1960
WEI DMANNSCHE VERLAGSBUCHHANDLUNG
Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdruckes,
der photomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten
Copyright 1952 by Weidmannsehe Verlagsbuchhandlung
Berlin·Charlottenburg 9 · Ehereschenallee 4-6
Printed in Germany 1960 hy August Raahe, Berlin-Neukölln
WILHELM DILTHEY
ZUGEEIGNET
1903
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1906
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1934 1951
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AUS DEN VORREDEN
ZUR ERSTEN AUFLAGE (1903)
Das vorliegende Buch ist zunächst bestimmt, Vorlesungen über griechische
Philosophie zugrunde gelegt zu werden. Zum eindringenden Verständnis der
Begriffe und Systeme ist es unerläßlich, an der Hand der Originalurkunden den
Entwicklungsprozeß des griechischen Denkens in atatu naacendi zu beobachten.
Wi!lkürliche Auswahl der Fragmente wird stets als Hemmung und Bevormundung
der Lehrenden und Lernenden empfunden werden. Darum strebt diese Samm·
lung Vollständigkeit der eigentlichen Fragmente und Mitteilung des wesent.
liehen biographischen und doxographischen Materials an. Dies letztere wurde
in der Disposition des grundlegenden Buches, Theophrasts <l>vo-tKwv S6~at, an·
geordnet: Prinzipien, Gott, Kosmos, Meteora, Psychologie, Physiologie. Der
Kreis der Philosophie ist im antiken Sinne möglichst weit gezogen, so daß auch
die exakten Wissenschaften, namentlich die Mathematik, berücksichtigt wurden.
Die Medizin, die eigentlich auch in den Rahmen gehört, habe ich mit Rücksicht
auf M. WELLMANNS Fragmentsammlung nur insoweit aufgenommen, als sie
direkt mit der alten Physiologie im Bunde steht. Die Anordnung des Ganzen
mußte die einzelnen Persönlichkeiten möglichst getrennt halten. Gegenüber
der pragmatischen Zusammenfassung der Schulen, wie sie für die eigentliche
Geschichtsschreibung nötig erscheint, hat es ein gewisses Interesse, nun auch
einmal die Individuen als solche zu beobachten, die wenigen Großen und die
unzähligen Kleinen, deren emsige Arbeit freilich nur in der Massenwirkung
zutage tritt, welche die unbegreiflich rasche Entfaltung der Philosophie im
sechsten und vor allem im fünften Jahrhundert zeigt. Es sind in diesem Bande
über vierhundert Namen vereinigt, von denen freilich die meisten für uns nur
Namen bleiben. Aber sie alle haben doch ihren Anteil an dem Blühen und Über
blühen des griechischen Geistesfrühlings.
Wo die alten Schulen in ununterbrochener Kontinuität bis ins vierte Jahr
hundert gedauert haben, ist auch diese nachsokratische Diadoche berücksichtigt
worden, was willkommen sein wird wie der "Anhang", der die alten Kosmologen,
Astrologen und Sophisten zufügt. Warum von dem unendlichen Wuste der
Orphiker und Pythagoreer nur das Altbezeugte gegeben worden ist, bedarf keiner
Motivierung.
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Was den Dialekt betrifft, habe ich an meinem Prinzip festgehalten, die zu
fällige Überlieferung der einzelnen Schriftsteller getreu wiederzugeben, da sonst
eine wissenschaftliche Verwertung der Fragmente zu dialektologischen Zwecken
unmöglich wäre1). Auch für die Scheidung des Echten und Unechten ist es
1) Nur in den Hippokratesstücken c. 12 C 1. 2 habe ich zur Probe meine
Dialektrezension durchgeführt.
VI VORREDEN
unumgänglich nötig, die unkorrigierte Überlieferung in allen Vulgarismen,
Hyperionismen und Pseudodorismen festzuhalten. Unbedenklich dagegen er
schien es in den alten Stücken, die korrekte Orthographie 11Ei~at, olt<Tipetv,
Xl~wv u. dgl., die in der römischen Zeit grundsätzlich geändert wurde, herzu
stellen.
Auch von dem Prinzip, die Ordnung umfangreicher Fragmente, wo die
Überlieferung oder der Inhalt keine sichere Disposition an die Hand gab, in
der alphabetischen Reihenfolge der Autoren zu geben, glaubte ich nicht ab
gehen zu sollen. Was hilft es, in dem gewaltigen Haufen der Aphorismen Hera
klits oder Demokrits hier und da einen wirklichen oder vermeintlichen Zusammen
hang zu finden, wo man doch der weit überwiegenden Mehrzahl gegenüber ratlos
bleibt! Die äußerliche Ordnung nach den Autoren wahrt wenigstens das Recht
der Überlieferung, die für die Beurteilung der Fragmente und ihrer Form wesent
lich ins Gewicht fällt. Außerdem wird man bei der Gewohnheit unserer Antho
logien, im Original nahe zusammenstehende Stellen hintereinander zu bringen,
dem ursprünglichen Zusammenhang in vielen Fällen näher bleiben als durch
eine Zerteilung nach willkürlich gewählter eigener Disposition. Selbst für die
Wortkritik kann dies Prinzip unter Umständen wichtig werden, da die Exzerpte,
auch wenn sie aus verschiedenen Stellen stammen, doch häufig durch das Band
des Stichwortes zusammenhängen, nach dem alle Anthologien, die Urquellen
wie die späteren Exzerptoren, die einzelnen Stellen unter die Kapitel zu ver
teilen pflegen 1).
Die Übersetzung der Fragmente, die ich statt eines Kommentars nach dem
Muster meiner Sonderausgaben (Parmenidu, Berlin, G. Reimer, 1897 und Hera
kleitos, Berlin, Weidmann, 1901) zugefügt habe, beabsichtigt rasch in das
Verständnis der Texte, soweit es sich mir erschlossen hat, einzuführen. Dieses
Verständnis bietet nicht nur bei den Dichterphilosophen, sondern auch bei der
teils eigentümlichen, teils eigenwilligen alten Prosa erhebliche Schwierigkeiten.
Denn abgesehen von der beabsichtigten oder unbeabsichtigten Unklarheit der
Sprache, in der sich die aus der Tiefe zum ersten Male aufsteigenden Gedanken
nur mühsam durchringen, steht diese archaische Rede weit ab von der periodisch
gerundeten und semasiologisch abgeschlossenen Eleganz der Attiker des vierten
Jahrhunderts. Manche Wörter haben später ihren Geltungsbereich verengt.
Wie wir z. B. öfter den Sinn des altdeutschen Wortes "Mut" verkennen, so ver
standen Arietoteies und Eudemos die ihnen verkürzt im Gedächtnis haftende
Sentenz des Heraklit 6U11WI 11QxEcr6at X~lTOV" cht yap äv eu." •• lfiUXiiS WVEiTat
(12 B 85) vom Zorne, ohne zu beachten, daß durch ÖTt äv 6V.T)t (auch dies ar
chaisch gesagt) der weitere Begriff von 6w6s, der das tn't6UI1Eiv mit umfaßt,
indiziert ist. Der Sophist Antiphon verstand in seiner Paraphrase der Sentenz
80 B 58 das Wort 6u116s noch richtig. [Vgl. E. JACOBY de Antiph. BO'ph. (Berl.
1908) s. 50.]
1) So ergibt sich der von NATOBP in der Vorrede S. V festgestellte Sinn von
Demokrit fr. 280 [184 N.], den MEINEKE verkannt hatte, aus dem Zusammen
hang. Vgl. fr. 279.
vn
VORREDEN
ZUR ZWEITEN AUFLAGE (1906)
Trotz den klaren Worten der ersten Vorrede muß ich, um einem vielfach
geäußerten Mißverständnis zu begegnen, noch einmal betonen, daß nur die
eigentlichen, unter B zusammengestellten Fragmente der Philosophen voll
ständig gegeben werden sollen, dagegen nicht die Lemmata der Fragmente
(was an sich möglich wäre, wie meine Poetae phiwsophi beweisen) und nicht
die unter A jedesmal vorgesetzten doxographischen Berichte oder die unter C
zusammengefaßten Imitationen, was überhaupt innerhalb des gegebenen Rahmen
unmöglich wäre.
Die getroffene Auswahl hat mich mehr Zeit und Mühe gekostet, als wenn
ich mein gesammeltes Material vollständig in die Druckerei gesandt hätte. Ich
glaube aber gerade durch diese Beschränkung auf das Wesentliche und Alte
den Anfängern, und nicht nur diesen, einen Dienst geleistet zu haben. Es war
meine Absicht, nur die Ähren in die Scheune zu fahren, das Stroh aber draußen
zu lassen, selbst auf die Gefahr hin, daß hier und da ein gutes Korn darin bliebe•
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ZUR VIERTEN AUFLAGE (1922)
Die Freude, die das notwendig gewordene Erscheinen einer neuen Auflage
der "Vorsokratiker" in mir erweckte, ist durch die Mitteilung des Verlegers,
daß wegen der unerschwinglich hohen Dru<>kkosten nur ein anastatischer Ab
druck der vorigen Auflage möglich sei, stark getrübt worden. Es hatten sich
in der Zwischenzeit so viele Berichtigungen und Bereicherungen zu den Texten
und Anmerkungen angesammelt, daß es mir eine Lust gewesen wäre, dieses
Werkam Ende meines Lebens so zu gestalten, wie es mir als Ideal vorsc:hwebte.
Ich hatte z. B. vor, die Ordnung der Kapitel der chronologischen Reihenfolge
entsprechend so umzustellen, daß die Theologen, Kosmologen und Gnomologen
des Arhangs an die Spitze träten und die Sophisten etwas vervollständigt den
Schluß bildeten. Auch würde sich die Ordnung der Fragmente in einzelnen Ka
piteln (Parmenides, Empedokles) etwas verschoben und das Demokritkapitel
würde eine übersichtlichere Form gewonnen haben.
Davon kann nun nicht die Rede sein. Der Text der be-iden ersten Bände
muß in der Form der dritten, der dritte (Registerband) in de-r der zweiten Auf
lage wieder ersc:heinen. Die Zusätze und Verbesserungen können nur als "Nach
träge" den einzelnen Bänden beigegeben werden, so daß der Leser die Mühe
hat, sich jedesmal um diese Berichtigungen zu kümmern oder sich ein für alle
mal sein Exe-mplar durchzukorrigieren. Daß es möglich sein wird, in einer e-twa
erscheinenden fünften Auflage das Werk in bequemerer und vollendetcrer Ge
stalt vorzulegen, wage ich kaum zu hoffen. Das Schicksal der Doxographi, die
vergriffen sind, aber die Neubearbeitung in kürzerer Form, die dringend nötig
gewesen wäre, nicht haben finden können, verpflichtet mich gegenüber dem
Verlage dieses vorliegenden Werkes, so wenig die Form der Neuauflage be
friedigt, zu dem herzlichsten Danke.
Es versteht sich, daß die Nachträge dem Zwecke unseres Quellenwerkes
entsprechend sich nicht auf die Diekussion der prinzipiellen Punkte einlassen
VIII
VORREDEN
können, deren es leider auf diesem Gebiete nicht wenige gibt. Ich muß dies den
Monographien und Gesamtdarstellungen überlassen, wie solche in den letzten
Jahren bei uns in verschiedener Form und verschiedener Qualität zahlreich er
schienen sind. Neben dem groß angelegten Werke von JoEL (Geschichte der
antiken Philosophie I, Tübingen 1921) sind vor allem die Neubearbeitungen
des UEBERWEGschen Grundrisses I durch K. PRAECHTER (Berlin 1920) und des
ZELLERsehen Monumentalwerkes durch LORTZING und NESTLE (Die Philosophie
der Griechen in ihrer geschichtlichen Entwicklung I, Leipzig 1919) zu nennen.
In dem letzteren Werke ist die Auseinandersetzung über die Hauptprobleme
besonders ausgiebig erfolgt, so daß man hierauf ein für allemal verweisen darf.
[Es folgt eine ausführliche, durch neue Beweismittel gestützte Widerlegung
der von NESTLE a. 0. wieder aufgegriffenen Theorie ERWIN RoHDES, es habe
einen Philosophen Leukippos nicht gegeben.]
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ZUR FÜNFTEN AUFLAGE (1934-37)
Das Werk im Geiste von HERMANN DIELS nach dem Maße der eigenen Kraft
zu erneuern, war die Aufgabe, die dem Herausgeber gestellt war. Dazu gehörte,
daß das Alte so weit wie nur irgend möglich erhalten blieb, daß vor allem die
Grundabsicht des Verfassers nicht angetastet wurde. Es sollte ein Handbuch
sein, mehr nicht (vgl. den Auszug aus der Vorrede zur 1. Auflage). Darum mußte
der wie oft, so auch jetzt wieder ausgesprochene Wunsch unerfüllt bleiben, es
sollten immer und grundsätzlich alle Stellen, die einen wörtlich erhaltenen Aus
spruch eines der alten Denker zitieren (also die Lemmata der B-Stücke) oder
doch einen seiner Gedanken enthalten, und immer und grundsätzlich der voll
ständige kritische Apparat aufgenommen werden. DIELS selbst spricht sich
hierzu ja in der Vorrede zur 2. Auflage (s. unseren Auszug) deutlich aus. Ebenso
liegt es im Wesen dieses Buches, daß von der gewaltigen Literatur nur immer
ein Bruchteil erwähnt werden kann, als Fingerzeig für den weiter Arbeitenden
gedacht. Freilich, daß die Literatur über die althellenische Philosophie in den
letzten Jahrzehnten so weit und so tief vorgedrungen ist, darf man wohl als eine
Wirkung eben auch der "Vorsokratiker" bezeichnen.
Nicht nur in dieser hier noch einmal erwähnten Beschränkung liegt eine
Eigenart des Buches, die nicht verwischt werden darf, sondern auch in der merk
würdigen Begriffsbestimmung, die ihm zugrunde liegt. Zunächst sind ja "Vor
sokratiker" streng genommen Männer vor den Sokratikern, nicht, wie es doch
gemeint ist, vor Sokrates, sowie das später gebildete Wort "Nachsokratiker"
eigentlich nur die Nachfahren der Sokratiker bezeichnen kann: es liegt also hier
eine nicht ganz sprachgemäße Weiterbildung des Wortes "Vorsokratik" oder
"vorsokratisch" vor. Überdies aber erscheinen ja in diesem Werke auch viele
Zeitgenossen des Sokrates, ja mancher, der ihn weit überlebt hat. Und doch ist
daP Buch eine Einheit. Sie liegt darin beschlossen, daß hier eine Philosophie
spricht, die nicht durch die Gedankenschule des Sokrates (und des Platon) ge
gangen ist, also nicht sowohl die vorsokratische als die nichtsokratische alte
Philosophie. Möge man die weniger chronologisch als inhaltlich zutreffende
Bezeichnung auch für das Kapitel gelten lassen, das nun als das erste gezählt