Table Of ContentGERMANISTISCHE ABHANDLUNGEN
HARTMUT DEDERT
Die Erzählung itn
Sturtn und Drang
Studien zur Prosa des achtzehnten Jahrhunderts
J.B. METZLERSCHE VERLAGSBUCHHANDLUNG
STUTTGART
GERMANISTISCHE ABHANDLUNGEN 66
CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek
Dedert, Hartmut:
Die Erzählung im Sturm und Drang : Studien zur Prosa des
achtzehnten Jahrhunderts / Hartmut Dedert. - Stuttgart :
Metzler, 1990
(Germanistische Abbandlungen ; 66)
NE:GT
ISBN 978-3-476-00722-3
ISBN 978-3-476-03332-1 (eBook)
DOI 10.1007/978-3-476-03332-1
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© 1990 Springer-Verlag GmbH Deutschland
Ursprünglich erschienen bei J.B. Metzlersehe Verlagsbuchhandlung
und Carl Ernst Poeschel Verlag GmbH in Stuttgart 1990
INHALT
FoRSCHUNGSSTAND UND VoRGEHENSWEISE . . . . . . . . . . . . . ..
2 TRADITIONEN UND TENDENZEN . . . . . . . . 7
Erzählen im Sturm und Drang-ein tour d'horizon ..... 7
Mattbias Claudius: Wandsbecker Botschaften von nah und fern 13
johann Heinrich Jung ( Stilling): Erbauung im Zeichen der Providenz 17
Christian Friedrich Daniel Schubart: Aufkliirung und Parteinahme 20
johann Heinrich Merck: Zeit- und Sittenbilder aus dem deutschen Alltagsleben 24
Friedrich (Maler) Müller: Die Humanität der Icfylle . . . . . . . . . . . . 29
3 ]AKOB MICHAEL REINHOLD LENZ: KRITIK uND KoNSTRUKTION • . . . 36
Tief auf den kalten Nesseln meines Schicksals- Beobachtungen zu einem geniezeit-
liehen Emanzipationsversuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36
Zerbin oder die neuere Philosophie . 39
Literarisches Programm und Exposition 39 - Liebe zwischen Galanterie und Versor
gungsdenken 41 - Das Opfer einer so unredlichen Politik 43 - Der Leidensweg der
Heiligen Marie 46 - Vom Luftschloß in den Stadtgraben 50 - In Marmontels Manier,
aber nicht mit seinem Pinsel 55
Der Landprediger . . . . . 61
Johannes Mannheim-ein literarisches Wunschbild 61-Der Prediger als Populärphilo
soph 62 - Der Schüler der Neologie 63 - Der Intellektuelle als Musterbauer 65 -
Konfrontation mit dem städtischen Bürgertum 69 - Maßvoll regulierte Leidenschaft als
empfindsames Modell wirklicher Liebe 71 - Konfrontation mit dem Adel 74 - Haus
und Familie als Ort bürgerlicher Selbstverwirklichung 77 - Literaturkritik vom >Stand
punkt des Maßes und der Mitte< als Kritik an >Romanhaftigkeit< und mnnatürlicher
Empfindsamkeit< 79 - Dialektik des Totenkultes: Ritualisiertes Andenken und verlore
nes Gedächtnis - Negation von Gegenwart und Rückbesinnung auf verlorene Vergan
genheit 85 - Anmerkungen zur Praxis des Erzählens 90
VI Inhalt
4 ANTON MATTRIAS SPRICKMANN: DIE HExE LIEBE-
EIN THEMA MIT VARIATIONEN . 96
Vorüberlegungen zum Verfahren 96
Nachrichten aus Amerika ... 96
Der Held und seine Familie 96-Das Idealbild vom Kaufmann 101 -Liebe zwischen
platonischem Mythos und bürgerlichem Sexualtabu 105-Leidenschaft und Moral im
Konflikt zwischen Mutter und Sohn 111 - Die nachgeholte Vorgeschichte - Gründe
und Hintergründe der rätselhaften Ereignisse 116-Die Logik des Konfliktes und seiner
Lösung 120-Neue Welt, neue Gefühle, neue Zukunft-über die historische Aktualität
eines Traums 123
Variationen eines Themas- Sprickmanns übrige Liebesgeschichten . 131
Die Untreu aus Zärtlichkeit. Eine Konversation und ein Brief 132-Das Intelligenzblatt,
eine Erzählung 136-Das Neujahrsgeschenk. Eine Klosteranekdote 138-Das Wort zur
rechten Zeit. Eine Erzählung 140 - Mariens Reden bei ihrer Trauung. Ein Frag
ment 141
Notizen zur Form 143
Dramatischer Aufbau 143-Dialog und Szene 145-Analytisches Erzählen und Krimi
nalschema 152
5 FRIEDRICH ScHILLER: DIE GEFÄHRLICHEN WuNDEN DER VoRSEHUNG 157
In den Bahnen der Populäraufklärung 157
Der Spaziergang unter den Linden 159
Voraussetzungen und Figuren 159 - Philosophie des Todes in Natur und Ge
schichte 160 - Die Leistung komischer Szenen 165 - Vom Schicksal der Seele - der
psycho-physische Kompromiß und seine radikale Kritik 172 - Populärphilosophische
Selbstverteidigung und ihre Grenzen 180 - Auf der Suche nach Wahrheit oder die
Relativität menschlicher Erkenntnis 182-Verhindertes Lebensglück-eine philosophi
sche Bildergeschichte 183 - Aufgeklärtes Revoltieren gegen Gott 191 - Unversöhnter
Dualismus-die Kreisbewegung des Dialogs 195 -Der Spaziergang unter den Linden
ein geschichtsphilosophisches Denkmal exemplarischen Scheiterns 199
Eine großmütige Handlung, aus der neusten Geschichte . . . . . . 203
Literaturtheoretisches Proömium - Erzählen im Spannungsfeld von idealischer und
wirklicher Welt 203 - Der Kampf der Pflicht und Empfindung 204 - Leistung und
Grenzen des älteren Bruders 210-Der Märtyrersieg des jüngeren Bruders 215 -Die
Paradoxie der Schlußpointe und ihr geschichtlicher Sinn 220
ANMERKUNGEN 225
259
BIBLIOGRAPHIE
1 FoRSCHUNGSSTAND UND VoRGEHENSWEISE
Die Prosaerzählungen des Sturm und Drang reflektieren eine kurze, aber bedeut
same Phase der neueren deutschen Literaturgeschichte. Neben den dominanten
Ausdrucksformen der Zeit versuchen auch sie, ihren Widersprüchen und Problemen
mit utopischen Gegenentwürfen beizukommen, sie mit Zweifeln und kritischen
Fragen zu bedenken. Obwohl sie dabei im einzelnen höchst bemerkenswerte Bei
träge liefern und auch in ihrer Gesamtheit betrachtet ein überraschend buntes Bild
ergeben, haben sie ihren historischen Ort freilich eher in den Außenbezirken der
Bewegung. Einige der profihertesten Stürmer, fasziniert vor allem von der mimeti
schen Suggestivkraft des Theaters, sehen ganz davon ab, mit den Möglichkeiten der
kleinen Prosa zu experimentieren; andere widmen sich ihr allenfalls am Rande,
zuweilen erst nach Abschluß ihres (dramatischen) Hauptwerks; und unter jenen
Autoren, die sich ernsthaft um das Genre bemühen, lassen sich mehrere nur dem
weiteren Umkreis des Sturm und Drang zuordnen oder setzen sich bereits kritisch
mit seinen Positionen auseinander. Anders als die zentralen Gattungen der Genie
zeit, die einen radikalen Neuanfang begründen, müssen sich die Erzählungen zudem
in den meisten Fällen mit einem vergleichsweise schwachen Innovationspotential
begnügen: Anstatt mit der Tradition zu brechen, übernehmen sie vielfach die von
der Aufklärung bereitgestellten Modelle, um sie in einem Prozeß produktiver An
eignung mehr oder minder konsequent fortzuführen.
Solange die Sturm- und Drang-Forschung sich vor allem für die literaturrevolu
tionären Neuerungen der Zeit interessiert, kann sie die kleinepische Prosa weitge
hend vernachlässigen. Allenfalls einige monographische Studien berücksichtigen bei
der Würdigung der von ihnen vorgestellten Autoren in unterschiedlicher Ausführ
lichkeit ihr Schaffen auch im Bereich der Erzählung. [1] Schon die meisten Literatur
geschichten [2] jedoch übergehen den Gegenstand mit Stillschweigen; und auch ein
1978 veröffentlichtes >Studienbuch< mit dem Titel Sturm und Drang [3] erwähnt ihn
mit keinem Wort. Die ungleich geringere Zahl epochengeschichtlicher Darstellun
gen endlich, die sich ihm nicht umstandslos verschließen, begnügt sich zumeist
damit, ihren Überblick über den Roman mit der knappen Vorstellung einiger kürze
rer Texte zu ergänzen. [4]
Ebensowenig wie die epochenorientierte schenkt auch die gattungsgeschichtliche
Forschung dem Thema irgendein gezielteres Interesse. Im Banne eines normativen
Kunstideals über Jahrzehnte hin auf die zur Nobelerzählung stilisierte Novelle
fixiert, deren deutschen Ursprung sie ebenso effektvoll wie falsch bei Goethe glaubt
2 Forschungsstand und Vorgehensweise
entdecken zu können [5], neigt sie lange Zeit dazu, die gesamte vorklassische Klein
epik zumindest zu vernachlässigen, wenn nicht gar polemisch zu entstellen und
explizit auszugrenzen. Oskar Walzeis grundlegende Arbeit über Die Kunstform der
Novelle [6] gab dabei schon 1915 die Richtung an. Ohne weitere Begründung beginnt
Walzel seine knappe Darstellung des >geschichtlichen Weges< mit der Bemerkung:
»Und zwar setze ich mit der Wiedererweckung der Novelle ein, die sich in Goethes
Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten vollzieht.« [7] Ähnlich lakonisch verfahren in
der Folge etwa Johannes Klein (1936), Walter Silz (1952), Fritz Lockemann (1957)
und J osef Kunz (1971 ). [8]
Auch jene Gattungsgeschichten, die den reichen Bestand kleinepischer Aufklä
rungsprosa nicht einfach verschweigen wollen, pflegen ihn doch in den meisten
Fällen mit eher beiläufigen Bemerkungen abzutun. An einer differenzierteren Ana
lyse der Aufklärungstraditionen ebensowenig interessiert wie an der Rekonstruktion
ihrer einzelnen Entwicklungsetappen (weshalb auch der Sturm und Drang kaum je
gesondert in den Blick kommt), begnügen sie sich zumeist mit der Ausmusterung
der vorklassischen Erzählung und gehen dabei gelegentlich selbst so weit, daß sie
ihr mit der ästhetischen Qualität zugleich Identität und Geschichte absprechen. [9]
So schließt Bennett noch 1961 unbeschadet neuerer Spezialuntersuchungen alle
kleinepischen Versuche vor Goethe mit der Bemerkung aus: »It is not until they
attain to something approaching artistic form that it is possible to regard them as a
specific poetical genre, and to trace the modifications and development ofthat genre
in successive examples thereof.« [10]
Auch die ohnehin spärlichen Studien, die sich gezielt der Erzählung des achtzehn
ten Jahrhunderts zuwenden, konzentrieren sich vornehmlich auf die Diskussion der
Novellenproblematik. Im Banne der Klassik können sie sich dabei lange Zeit damit
zufriedengeben, den Werken einen Platz in der >Vorgeschichte< der Gattung zu
erobern. Sogar wenn sie grundsätzlich bereit sind, die große Typenvielfalt zur
Kenntnis zu nehmen, neigen sie dazu, sie analog zu den Gattungsgeschichten an der
Norm eines an Goethe ausgerichteten Kunstideals zu messen und mit dem Hinweis
auf ihre ästhetischen Mängel abzuwerten. Entsprechend beginnt schon Rudolf Fürst
seine 1897 vorgelegte Untersuchung Die Vorläufer der modernen Novelle [11] mit der
geradezu programmatischen Eröffnung: »Die Geschichte der kleinen Prosaerzäh
lung des 18. Jahrhunderts ist die Vorgeschichte unserer modernen Novelle. Man hat
Goethe den Schöpfer der modernen Novelle genannt und dabei übersehen, daß eine
Welt wohl aus dem Chaos, nicht aber aus dem Nichts entstehen kann. So konnte
auch Goethe nur die chaotischen Stoffe und Motive seiner Vorgänger ordnen und
prägen und die Versuche und Ansätze der früheren Zeit zur Kunstform erhe
ben.« [12] Ganz ähnliche Vorstellungen vertritt noch über 50 Jahre später Ursula
Borchmeyer, die es sich in ihrer 1955 vorgelegten Dissertation Die deutschen Prosaer
zählungen des achtzehnten Jahrhunderts [13] zur Aufgabe macht, »die wesentlichen Typen
der deutschen Zeitschriftenerzählung aus den beiden führenden Organen des acht
zehnten Jahrhunderts, dem >Deutschen Merkur< und dem >Deutschen Museum<,
herauszuarbeiten« [14] und mit »Goethes Novellenschaffen« zu vergleichen, um auf
diesem Weg »die überragende Bedeutung Goethes als des geistigen und formalen
Forschungsstand und Vorgehensweise 3
Neuschöpfers deutscher Sprache und Dichtung in ganz neuer, ( ... ) bisher noch
nicht beachteter Sicht (zu) beleuchten.« [15)
Neben dem Versuch, die kleinepische Produktion der Aufklärung als Vorläufer
späterer Erzählkunst zu berücksichtigen, machen sich in jüngster Zeit Bestrebungen
geltend, den Beitrag Goethes zur Entwicklung der deutschen Novelle zu relativie
ren und schon einige frühere Werke der Gattungsgeschichte zuzuschlagen. Wie
Halina Bialek bereits in dem 1976 publizierten Aufsatz Novellistische Erzählungen zu
Ende des achtzehnten Jahrhunderts zu »beweisen« unternimmt, »daß es noch vor Goethe
einfachere Novellen gab« [16] (ohne ihnen jedoch »hohe künstlerische Qualität« [17]
beizumessen), so widmet Hildburg G. Herbst ihre 1979 (in redigierter Fassung 1985
auch gedruckt) erschienene Dissertation Frühe Formen der deutschen Novelle im
18. Jahrhundert [18] vor allem dem Ziel, »die Geschichte der deutschen Novelle ( ...)
um etwa drei Jahrzehnte in das 18. Jahrhundert zurück auszudehnen ( ... )«. [19)
Anders als Fürst und Borchmeyer, die bei allen normativ geprägten Vorbehalten
doch ein relativ breites Typenspektrum einbeziehen konnten, beschränken sich die
neueren Studien auf jene Erzählungen, die im Rahmen ihres genrespezifischen Be
weisganges exemplarische Belegfunktion übernehmen können.
Ihr Gattungsverständnis gewinnen sie dabei auf durchaus problematischem Wege.
Während Bialek sich damit zufriedengibt, einige Versatzstücke der höchst wider
sprüchlichen Forschungsdiskussion zu einer nicht weiter ausgewiesenen Checkliste
zusammenzustellen, versucht Herbst zwar, ihren Novellenbegriff - grundsätzlich
sehr legitim - aus dem zeitgenössischen Gattungsdiskurs zu entwickeln; da sie
jedoch immer wieder auch auf zeitlich spätere Beiträge zurückgreifen muß, setzt sie
sich dem Verdacht aus, die normative Typologie ihrer Vorgängertrotz ihrer zweifel
los größeren Toleranz insgeheim doch weiterhin zu unterstützen.
Unabhängig davon schließlich, ob sie die Erzählungen des 18. Jahrhunderts aus
der Sicht der Klassik degradieren oder einzelnen von ihnen Aufnahme in die Ge
schichte der Novelle selber verschaffen, laufen die bislang vorgestellten Arbeiten
allesamt Gefahr, die Wirklichkeit der historischen Entwicklung, ihre konkrete
Widersprüchlichkeit und Komplexität nur verstellt oder zumindest doch verkürzt
wahrzunehmen: Im Banne der Gattungsproblematik neigen sie dazu, die hochdiffe
renzierten Vermittlungszusammenhänge der kleinepischen Aufklärungstraditionen
zur zielgerichteten Teleologie eines einzelnen Typus zu stilisieren, zu einem pseudo
organischen Wachstumsprozeß, der erst in der Novelle eigentlich zu sich selber
kommt. [20] Da sie dem historischen Aussagewert des Formalen dabei kaum Beach
tung schenken, beschränken sie seine Reflexion zudem allein auf den gleichsam
handwerklichen Aspekt. Anstatt die Gestalt der epischen Gebilde als konkreten
Ausdruck literarisch verarbeiteter Erfahrung zu deuten, begnügen sie sich damit, sie
an mehr oder minder explizit formulierten Mustern zu messen.
Eine gewisse Öffnung der literaturwissenschaftliehen Perspektive, eine Locke
rung der ästhetischen und gattungstypologischen Fixierung bezeugen schließlich
jene (freilich noch recht seltenen) Publikationen, die sich den Erzählungen des
achtzehnten Jahrhunderts jenseits von Klassikanspruch und Novellendiskussion vor
allem deshalb zuwenden, um sie als historische Zeugnisse ihrer eigenen Zeit zu
4 Forschungsstand und Vorgehensweise
verstehen. Begünstigt durch das in den letzten zwanzig Jahren wiedererwachte
Interesse an der deutschen Aufklärung, das mit gutem Grund zu einer beachtlichen
Auf- und Neubewertung der Epoche geführt hat, können sie sich etwa der gezielten
Interpretation einzelner Prosawerke widmen [21 ], können aber ebenso textübergrei
fende Themen behandeln (wie die Verbrechensdarstellung im Spiegel der morali
schen Erzählung oder die Funktion der Zeitschrift für die Entwicklung der deut
schen Kleinepik). [22] Darüber hinaus kommt es vereinzelt sogar zu Versuchen, den
Reichtum und die Vielfalt der kürzeren Aufklärungsprosa auch umfassender zu
dokumentieren. So legt der DDR-Germanist Dieter Pilling etwa einen Band Erzäh
lungen Von Schubart bis Hebel[23] vor und begleitet seine Auswahl mit einer Einfüh
rung, die das jeweilige Werk nicht nur mit einer knappen Einzelwürdigung bedenkt,
sondern auch in den zumindest ansatzweise skizzierten Gesamtzusammenhang sei
ner Entstehungszeit zu rücken sucht. Und Jürgen Jacobs kann sich im 1981 erschie
nenen Handbuch der deutschen Erzählung [24] an einen kursorischen Überblick über
Die deutsche Erzählung im Zeitalter der Aufklärung [25] wagen, der nicht zuletzt aus
Mangel an fundierten Vorarbeiten zwar noch erhebliche Lücken aufweist, einige der
wichtigsten Entwicklungsstränge der aufklärerischen Tradition (vor allem in den
späteren Dezennien) aber immerhin skizziert.
Auch die Arbeiten jedoch, die sich gezielt der Erzählung des achtzehnten Jahr
hunderts zuwenden, sehen davon ab, dem Sturm und Drang besondere Aufmerk
samkeit zu schenken. Weit davon entfernt, seinen Beitrag zur Gattungsgeschichte
etwa systematisch erfassen und würdigen zu wollen, berücksichtigen sie ihn allen
falls punktuell. Während sie manche Autoren wie Schubart, Claudius und Jung
Stilling kaum oder gar nicht zur Kenntnis nehmen, beziehen sie andere zumeist nur
mit einzelnen Werken ein. In Betracht kommen dabei neben Schiller vor allem noch
Lenz und Merck. Vielfach auf Kurzcharakteristiken beschränkt, deren Umfang zwi
schen wenigen Zeilen und ein bis zwei Seiten liegt, können die Besprechungen
bestenfalls den Inhalt und eine grobe Wertung andeuten, komplexeren Fragestellun
gen können sie indessen kaum nachgehen.
Angesichts der beträchtlichen Lücke zwischen defizitärem Forschungsstand und
vielschichtigem Forschungsgegenstand wird sich die hier vorgelegte Studie zur
Erzählung im Sturm und Drang mit einer vorläufigen Annäherung bescheiden
müssen und versuchen, das Dunkel in dieser literaturgeschichtlichen Schattenzone
wenigstens durch einige Schlaglichter zu erhellen. Will sie dabei nicht Gefahr laufen,
sich den Zugang zum Eigentümlichen des Themas von vornherein zu verstellen,
empfiehlt sich - das hat der Überblick über die Sekundärliteratur wohl deutlich
gemacht - eine möglichst große Offenheit der Vorgehensweise. Die Suche nach
idealtypischer Normerfüllung ist ebenso zu vermeiden wie die Reduktion des histo
rischen Materials auf eine einsinnig-zielgerichtete Entwicklungslinie. Statt durch
systematisierende Konstruktionen voreilig Geschlossenheit zu suggerieren, kann es
zunächst nur darum gehen, die Qualität der geniezeitliehen Erzählung in ihrer
Mannigfaltigkeit und Komplexität überhaupt einmal zur Kenntnis zu nehmen.
Mit Blick auf die großzügige Praxis der Epoche, die ihr Gattungsverständnis nur
zögernd präzisiert, unter Berücksichtigung aber auch der Forschungssituation er-