Die Entwicklung des theoretisch-ästhetischen Denkens innerhalb der Berliner Musikkultur von den Anfängen der Aufklärung bis Reichardt

122 Pages·1978·51.865 MB·German

by  Ottenberg, Hans-Günter

Beiträge zur musikwissenschaftlichen
Forschung in der DDR
Herausgegeben vom Zentralinstitut für Musikforschung
im Verband der Komponisten und Musikwissenschaftler der DDR
Band 10
Hans-Günter Otte~b_erg
,/
/ Die Entwicklung .
des theoretisch-ästhetischen Denkens
innerhalb der Berliner Musikkultur
von den Anfängen der Aufklärung,,,
bis Reichardt
VEB Deutscher Verlag für Musik Leipzig
1. Auflage
© 1978 VEB Deutscher Verlag für Musik Leipzig
Lizenznummer: 418-515/A 9/78
LSV: 8392
Umschlagentwurf: Joachim Thamm, Leipzig
Printed in the German Democratic Republic
Gesamtherstellung: Volksdruckerei Zwickau
Bestellnummer: 518 2661
DDR 13.-M
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VORBEMERKUNG
Die vorliegende Arbeit entstand in den Jahren 1969 bis 1973 am Bereich Musikwissen
schaft der Humboldt-Universität Berlin. Für die Drucklegung wurde sie vom Verfas-
ser in einigen Abschnitten überarbeitet. Ihr Gegenstand ist die Entwicklung des theore
tisch-ästhetischen Denkens innerhalb der Berliner Musikkultur im 18. Jahrhundert.
Die Untersuchungen des ersten Hauptabschnittes - dem inhaltlichen Schwerpunkt - be
ziehen sich auf die Musikanschauung der Aufklärung und umfassen etwa den Zeit-
raum von 1 750 bis 1765. In einem zweiten Hauptabschnitt erläutert der Verfasser die
Grundpositionen des musikästhetischen Denkens in der Entwicklungsphase des Sturm
und Drang (1770-1775). Schließlich werden in einem dritten Hauptabschnitt - gleichsam
als Ausblick - die unterschiedlichen, parallellaufenden Strömungen der Geschichte der
Musikästhetik des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts knapp skizziert.
Die Forderung nach einer Geschichte der Musikästhetik aus der Sicht des dialektischen
und historischen Materialismus ist aus mehrfachen Gründen dringlich. Einschlägigen
Darstellungen der bürgerlichen Musikwissenschaft sind aufgrund ihrer idealistischen
Grundpositionen enge erkenntnistheoretische Grenzen gesetzt.1 Die marxistisch-leni
nistische Musikwissenschaft steht vor der Aufgabe, ein exaktes methodologisches Kon
zept einer Geschichte der Musikästhetik zu erarbeiten.2 Bislang wurden die Erörterungen
fast ausschließlich auf die Untersuchungen von theoretisch-ästhetischen Reflexionen gelegt,
wie sie sich etwa in den verschiedenen philosophischen Systemen oder in den vielfach prag
matisch orientierten Anschauungen von Komponisten und Musiktheoretikern widerspiegeln.
Für die Darstellung und Bewertung einer ästhetischen Theorie ist jedoch entscheidend, wie
sie in der Praxis einer sozialhistorischen Epoche wirksam wird. Deshalb ist es erforder
lich, die Dialektik von musikalischer Produktion und musikästhetischer Reflexion im Ge
samtzusammenhang der Musikgeschichte aufzuhellen. Ästhetische Anschauungen sind letzt
lich "Sublimate" des "materiellen, empirisch.konstatierbaren und an materielle Voraus
setzungen geknüpften Lebensprozesses" (MARX/ENGELS 1845f., 26) des Menschen.
Zugleich betont Engels die relative Selbständigkeit der politisch~n und ideellen Faktoren
und ihre Rückwirkung auf die ökonomische Basi·s. Er stellt in diesem Zusammenhang
fest, daß ein "historisches Moment, sobald es einmal durch andre, schließlich ökono
mische Ursachen, in die Welt gesetzt (ist), nun auch reagiert, auf seine Umgebung und
selbst seine eignen Ursachen zurückwirken kann" (ENGELS 1893, 98), Von diesen wis
senschaftstheoretischen Prämissen ausgehend, bemüht sich der Verfasser um eine Neu
bestimmung der Musikästhetik in der Aufklärungsbewegung unter der besonderen Be
rücksichtigung Berlins. Eine dialektische Betrachtungsweise wird durch die Spezifik
der aufzubereitenden Quellen selbst diktiert. Ein Beispiel: Begriffe wie Natürlichkeit,
Schönheit, Vollkommenheit und andere Attribute eines Musikideals sind im 18. Jahr
hundert in aller Munde. Ihre Verwendung läßt jedoch keineswegs immer auf aufkläreri
sches Ideengut schließen. Es ist vielmehr erforderlich, solche Begriffe zu objektivie
ren, indem wir den jeweiligen Begriffsinhalt nicht nur in seinen subjektiven Aspekten,
d. h. in der von den Theoretikern oder Komponisten intendierten Absicht, sondern haupt
sächlich in seiner objektiven Determiniertheit, in seiner praktischen Wirksamkeit darzu
legen suchen. Insgesamt gesehen will die vorliegende Arbeit über die nähere Bestim-
-
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mung der Traditionslinien der klassischen deutschen Musikkultur hinaus zum besseren
Verständnis einer progressiven sozialhistorischen Epoche beitragen. ·
Für die wertvollen Anregungen und die freundliche Unterstützung möchte ich an dieser
Stelle den Herren Prof; Dr. Heinz Alfred Brockhaus, Berlin, Prof. Dr. Rudolf Eller,
Rostock, und Prof. Dr. Jürgen Mainka, Berlin, herzlich danken. Die Mitarbeiter der
Musikabteilung der Deutschen Staatsbibliothek Berlin haben meine Arbeit entgegen
kommend unterstützt und sämtliche notwendigen Quellen bereitwillig zur Verfügung ge
stellt. Anregende Denkimpulse erhielt ich in Diskussionen mit Dr. Christian Kaden und
Dr. Gerd Rienäcker vom Bereich Musikwissenschaft der Humboldt-Universität Berlin.
Ihnen gilt ebenfalls mein herzlicher Dank.
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1. DIE MUSIKÄSTHETISCHEN ANSCHAUUNGEN DER AUFKLÄRUNG
INNERHALB DER BERLINER MUSIKKULTUR (1750-1765)
1.1. Zur allgemeinen ästhetischen Problematik der Aufklärung in Berlin
Da vor 1750 in Berlin keine nennenswerten musiktheoretischen Abhandlungen entstan
den sind, kann man von "Aufklärung" in diesem Bereich erst seit der Mitte des Jahr
hunderts sprechen, im Gegensatz beispielsweise zu Hamburg, wo die aufklärerischen
Konzeptionen Matthesons aufgrund der günstigen sozialen Bedingungen in der Hanse
stadt bereits seit etwa 1710 wirksam werden können. Um nun die Komplexität des theo
retisch-ästhetischen Denkens innerhalb der Aufklärungsbewegung und seiner in Berlin
ausgeprägten Erscheinungsformen darzustellen, müssen der Analyse verschiedene
Blickwinkel zugrunde gelegt werden. Einerseits sind die allgemeinen sozialökonomischen
und kulturellen Voraussetzungen, welche die Aufklärungsproblematik in Berlin bestim
men, herauszuarbeiten. Das aufklärerische Wirken von Berliner Musiktheoretikern
äußert sich in den vielfachen Bestrebungen, das Wissensgebiet "Musik" unter Verwen-.
dung von Gedankengut der französischen Aufklärung zu systematisieren. Weiterhin ist
der Stellenwert der musikästhetischen Thesen im Konnex der philosophischen Strömun
gen zu fixieren, da die Musikanschauung wesentlich durch die Methoden und Terminolo
gien der jeweils herrschenden Philosophie geprägt wird. Das an der Akademie in Ber
lin vor allem unter Einfluß von Christian Wolff geschaffene ·rationalistische Lehrsystem
bleibt auch für die Musiktheorie und -anschauung bis weit in die zweite Hälfte des
18. Jahrhunderts hinein die bestimmende philosophische Richtung. Schließlich ergibt
sich als ein letzter Gesichtspunkt der in diesem Hauptabschnitt vorgenommenen Ana
·lyse die Erläuterung der dialektischen Bezüge zwischen der Musikanschauung und der
musikalischen Praxis. Die Tatsache, daß die Berliner Theoretiker Marpurg, Krause,
Nichelmann, Quantz, Agricola u. a. zugleich auch kompositorisch tätig sind, erhellt
die enge Verflechtung beide_r Bereiche.
1.1.1. Der Aufklärungsgedanke im Wirken der Berliner Musiktheoretiker
und seine sozialökonomische Fundierung
Aus dem Jahre 1 753 datiert eine der ersten größeren musiktheoretischen Untersuchun
gen innerhalb des Berliner Musiklebens; der Verfasser ist Friedrich Wilhelm Marpurg,
der Titel lautet: "Abhandlung von der Fuge nach den Grundsätzen und Exempeln der
besten deutschen und ausländischen Meister". Im Vorbericht findet sich jener aufkläre
rische Standpunkt, der in Begleitung solcher Begriffe wie "Weltbürger"; "aufgeklärte
Zeiten" immer wieder in den theoretischen.Schriften anzutreffen ist:
"Genung, wenn ein jeder das seinige so viel übet, als es ihm seine natürlichen Kräfte
erlauben, wenn der übrigen Welt nur einigermassen ein Vortheil daraus erwächst ... "
(MARPURG 1753f. ,1, Vorbericht, X).
Dieser Aufklärungsoptimismus Marpurgs, der auch fUr die anderen Musiktheoretiker
symptomatisch ist, gründet sich auf die Vorstellung, daß die Künste im 18. Jahrhundert
ihren bisherigen Höhepunkt erreicht haben:
"Es ist mein ganzer Ernst, daß die heutige Musik besser ist, als die alte"
(MARPURG 1760ff. ,I,461).
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Jedoch stellt sich hier die Entwicklung der Musik und ihrer Komponenten als Bestand
teil eines evolutionär aufgefaßten Geschichtsprozesses dar. Mechanistisch formuliert
Marpurg, indem er musikgeschichtliche Leistungen der Vergangenheit ausschließlich
aus der Sicht der zeitgenössischen Musikpraxis beurteilt:
"Die Musik (Marpurg bezieht sich hier auf einige weltliche Lieder von Orlando di
Lasso u. a.; der Verf.) ist, wie sie im sechszehnten Jahrhundert überall war, .. ·
im Satze noch nicht gefeilt gnug" (MARPURG l 760ff. ,II, 202).
Das in diesen Äußerungen ablesbare Fortschrittsdenken wird zum überaus produktiven
Stimulus der musikalischen Entwicklung. Es findet seinen unmittelbaren Ausdruck in
dem um die Jahrhundertmitte und besonders in Berlin weitverbreiteten Musikschrift
tum. Inhalt, Methode und Wirksamkeit der Lehrwerke, Wochenschriften, sogenannten
"Schreiben an ... " ordnen sich den aufklärerischen Zielstellungen der Autoren unter·
Der Typ einer universalen Musikzeitschrift ist vorherrschend. Marpurgs "Historisch
kritische Beiträge zur Aufnahme der Musik" wollen über alle neu in Deutschland er
scheinenden musikalischen Schriften und musikpraktischen Werke sowie über fremd
sprachige historische und kritische Schriften in Übersetzungen oder Auszügen und An
merkungen informieren. Außerdem werden kleine Abhandl~ngen veröffentlicht und Bio
graphien über Komponisten mitgeteilt,
"die sich um die Kirche, die Kammer oder das Theater" (MARPURG 1754ff. ,I,
Vorbericht, XVI)
verdient gemacht haben. Ferner berichtet der Herausgeber über die
"Erfindung oder Verbesserung eines Instruments, andere musikalische Entdeckun
gen und Begebenheiten,· kurz (über) alles was im Gebiete der Tonkunst merkwürdig
ist ..• " (MARPURG 1754ff. ,I, Vorbericht, XVI).
Durch Aufnahme von Anekdoten und Liedeinlagen in die Zeitschrift soll die Lektüre
flüssiger werden. 3 ·
Die Vielseitigkeit und Universalität der Themen und Diskussionen erklärt sich aus den
enzyklopädisch-didaktischen Konzeptionen der Berliner Theoretiker. Bedingt durch das
Vorherrschen des Wolffianismus in Berlin wird das im rationalistischen Sinne Beweis
bare vorrangig untersucht und gelehrt. Die Vermittlung von Elementarkenntnissen
der Musik, etwa Problemen der Harmonielehre oder mathematisch-physikalischen Vor
aussetzungen der gleichschwebenden Temperatur, hat den Sinn, dem interessierten
Leser
"allerhand die praktische Musik erleichternde Handgriffe bei(zu)bringen"
(MARPURG 1750a, 7).
Eb'enfalls als Ergebnis einer rationalistischen Betrachtungsweise entstehen die soge
nannten Affektkataloge. 4 Sie bilden das methodologische Gerüst für das System der
musikalischen Affektenlehre, der typischen Musikauffassung des bürgerlichen Fort
schritts. Auf der Grundlage der von Descartes und Spinoza vorgenommenen Darstel
lung der psychischen Funktionen des Menschen exemplifizieren die Berliner Theore
tiker und Komponisten die ästhetischen Thesen und Postulate vornehmlich an den Gat
tungen und Genres der weltlichen Musik. Damit grenzen sie sich konsequent von den
Ideen einer esoterischen Musikanschauung ab und schaffen zugleich eine Ästhetik für
den breiten Kreis der "Kenner" und "Liebhaber". ·
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1.1.1.1. Das Kenner-und-Liebhaber-Problem als sozialhistorische Fragestellung
"Ich. will mich bemühen, die vornehmsten Eigenschaften eines vollkommenen Ton
künstlers, und einer wohlgesetzeten Musik, durch gewisse Merkmaale kennbar zu
machen; damit sowohl Tonkünstler, als Liebhaber der Musik, zum wenigsten eine
Anleitung haben mögen, nach welcher sie ihre Beurtheilungen anstellen, und wel
chem Musikus, oder welchem musikalischen Stücke sie ihren Beyfall mit Rechte ge
ben können" (QUANTZ 1752, 281).
In diesen und vergleichbaren Intentionen widerspiegelt sich der konkrete gesellschaft
liche Auftrag der Musiktheoretiker und Komponisten der Aufklärung. Breitenwirksam
keit und Allgemeinverständlichkeit werden zu Hauptmerkmalen der musikalischen Be
tätigung. Nicht der "Kenner", sondern der "Liebhaber" wird zum Kunstrichter erho
ben. 5 Solche Postulate sind jedoch spezifizierter Ausdruck gesellschaftlicher Gesetz
mäßigkeiten, die in ihrer Widersprüchlichkeit nur von den fortschrittlichsten Vertre
tern des Bürgertums, nämlich den französischen Aufklärern, bezeichnenderweise aber
nicht oder kaum von den Vertretern der deutschen Aufklärung erkannt werden. Wir
meinen den folgenden Sachverhalt: Die Musiktheoretiker übergehen in der Verwendung
des Begriffspaares "Kenner" und "Liebhaber" schon vom terminologischen Ansatz her
die Vielschichtigkeit sozialer Gruppierungen und Klassen. Weiter differenzierende Be
griffe, wie sie beispielsweise in der Entwicklungsphase des Sturm und Drang geprägt
werden, 6 sind in den Diskussionen um 1750 weitgehendst unbekannt. Das Kenner-und
Liebhaber-Problem ist ein Symptom der ökonomischen und ideologischen Bestrebungen
der bürgerlichen Klasse, "als Vertreterin der ganzen Gesellschaft" (MARX/ENGELS
1845f., 47) aufzutreten. Das Sprechen im Namen aller Menschen erfolgt mit geschicht
licher Notwendigkeit, muß doch das Bürgertum als historisch aufsteigende Klasse das
Bündnis mit den anderen sozialen Schichten suchen, um erfolgreich seine Ziele durch
setzen zu können: "Jede neue Klasse nämlich, die sich an die Stelle einer vor ihr
herrschenden setzt, ist genötigt, schon um ihren Zweck durchzuführen, ihr Interesse
als das gemeinschaftliche Interesse aller Mitglieder der Gesellschaft darzustellen,
d. h. ideell ausgedrückt: ihren Gedanken die Form der Allgemeinheit zu geben, sie als
die einzig vernünftigen, allgemein gültigen darzustellen" (MARX/ENGELS 1945f., 47).
Jedoch erweist sich die von der Mehrheit der Aufklärer angenommene soziale Indiffe
renz der Mitglieder in der Gesellschaft, die zudem auch noch das Postulat der sozialen
Gleichheit der Menschen einschließt, als eine weitreichende historische Fiktion, die
gerade im Bereich der Kunst und Literatur grundsätzliche Widersprüche aufwerfen
sollte. Werner Krauss berührt dieses Problem, wenn er in Abgrenzung von der Ästhe
tik im Zeitalter der Renaissance und des 17. Jahrhunderts7 auf die prinzipiell neue
Situation innerhalb späterer künstlerischer Entwicklungsstufen, die das Bürgertum
durchläuft, hinweist: "Erst die völlige Ablösung der ständischen Welt durch die sieg
reiche Bürgerklasse bewirkt, daß die Bemühungen um die Vertretung der Totalität
der Gesellschaft durch soziologische Distinktionen nicht mehr gefährdet werden dürfen.
Die Ästhetik dieser Epoche gefällt sich daher in Abstraktionen, in denen der Klassen
charakter der Literatur sich sorgsam verbergen läßt" (KRAUSS 1968b,120). Die viel
fältigen, auf den Kreis der "Kenner" und "Liebhaber" gerichteten aufklärerischen Ak
tivitäten innerhalb der Berliner Musikkultur des 18. Jahrhunderts führen zur verstärk
ten Entwicklung eines öffentlichen bürgerlichen Musiklebens, zum Aufblühen der Lied
pflege und zur Verbreitung des "vermischten Geschmacks". Sie können aber keines
wegs in gesamtgesellschaftlichem Ausmaß verwirklicht werden, eben weil die gesell
schaftliche Praxis jene soziologischen Distinktionen aufweist, und weil auch die "Ken.,
ner" und "Liebhaber" letztlich in das "System des allgemeinen gesellschaftlichen Stoff-
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wechsels" eingeordnet sind; ein System, in dem "persönliche Unabhängigkeit auf sacb
licher Abhängigkeit gegründet" (MARX 1857f., 75) ist. Einen solchen gesellschaftlichen
Wirkungsmechanismus konnten die Berliner Musiktheoretiker nicht erkennen. Deshalt>
stellt sich für sie die Propagierung der Idee des Allgemeinwohle.s als unproblematisch
dar. Der wahre Inhalt der "heroischen Illusionen" (Engels) sollte dann mit aller
Schärfe nach der Französischen Revolution zum Vorschein kommen, wird aber in we~
sentlichen Punkten schon von den fortschrittlichsten Vertretern der französischen Auf
klärung erkannt. Die Rezeption gesellschaftskritischer französischer Schriften in
Deutschland verdeutlicht einige Besonderheiten der deutschen Aufklärungsbewegung.
Marpurg kritisiert Rousseau im Zusammenhang mit der Veröffentlichung eines
"Schreibens aus Paris über den Streit daselbst zwischen den französischen und welscbeJJ.
Tonkünstlern"S:
Er ist der Verfasser von einer Abhandlung, worinnen er zu beweisen gesuchet hat,
daß die Künste und Wissenschaften der Gesellschaft unendlich nachtheiliger, als
nützlich sind ... Diese paradoxe Meinung, die gerade der Unwissenheit und Dumm~
heit Recht spricht, ist von vielen treflichen Gelehrten wider den Herrn Rousseau
gründlich widerlegt worden" (MARPURG 1754ff. ,I, 162, Anmerkung).
Der ausgesprochen-polemische, wenig sachlich-analytische Charakter dieser Kritik
zeigt, daß Marpurg und auch andere deutsche Musiktheoretiker9 die gesellschaftliche
Fragestellung der Rousseauschen Argumentation nicht gesehen haben. .
Was hatte Rousseau propagiert?lO Nach Auffassung des französischen Philosophen ver
hindere jede "zivilisierte" Gesellschaft die wirkliche Entfaltung der Künste:
"Solange aber die Macht auf einer Seite allein steht und die Aufklärung und die Weis
heit allein auf der anderen, werden die Gelehrten selten Großes denken, die Fürsten
noch seltener Gutes tun und die Völker weiterhin gemein, verdorben und unglücklicb
sein" (ROUSSEAU 1750, 60).
Eine andere Schlußfolgerung lautete:
"So zieht .•. die Lockerung der Sitten als eine notwendige Folge des Luxus ihrer
seits den Niedergang des Geschmacks nach sich" (ROUSSEAU 1750, 50).
Rousseau gründete seine Thesen auf die Analyse spezifischer gesellschaftlicher Erschei
nungsformen in Frankreich im 18. Jahrhundert. Als ein solches Spezifikum sah er bei
spielsweise den "Luxus" an:
"Die antiken Politiker sprachen unaufhörlich von den Sitten und der Tugend, die un
seren sprechen nur vom Handel und Gold" (ROUSSEAU 1750, 47f. ),
und Rousseau fragte, ob man leugnen könne,
"daß die guten Sitten für die Festigkeit der Reiche wesentlich sind und daß der Luxus
den guten Sitten diametral entgegengesetzt ist?" (ROUSSEAU 1750, 47)
Die Antwort hierauf führte ihn allerdings zu einem ebenso einseitigen wie überspitzten
Kultu.rpessimismus.
Solche stark politisierenden Gedanken sind in der Musikanschauung der deutschen Auf
klärung nicht anzutreffen, was im ganzen Ausdruck eines nur gering entwickelten bür
gerlichen Selbstbew'ußtseins ist. Es ist deshalb nicht zufällig, wenn die Berliner Theo
retiker ein Musikideal entwerfen, in dem sich höfische und bürgerliche Vorstellungen
spiegeln.11 Die Konstellation von Vorwärtsweisendem und rückwärtsgerichteten Ten
denzen, von Engels treffend als Widerspruch zwischen dem "olympischen Zeus" und
dem "deutschen Philister" am Schaffen Goethes und Hegels personifiziert, 12 ist sym
ptomatisch für die Mehrheit der deutschen Aufklärer. So stoßen Schriften wie die oben
genannten von Rousseau oder Helvetius' "De l' esprit" (1760) au.f radikale Ablehnung
bei den deutschen Philosophen, deren Argumentation im Gegensatz zu den französischen
1
Aufklärern letztlich im Gebrauch abstrakter Moralkategorien befangen bleibt. 3
11
Moses Mendelssohn polemisiert gegen
"gewisse verderbliche Staatsauffassungen" (MENDELSSOHN 1756, 81).
Gottsched warnt vor einer Übertragung des von Helvetius zur Kennzeichnung der fran
zösischen Staatsform benutzten Begriffes Despotismus auf deutsche Verhältnisse:
" ... ; so ist es ja bekannt, daß im Heiligen Römischen Reiche von jeher der Despo
tismus verabscheut worden. Die höchsten Häupter haben allezeit ihre Grundgesetze
und Wahlkapitulationen zur Richtschnur ihres Verfahrens gehabt" GOTTSCHED
1760, llo).
Ähnliche Gedankengänge und Kritiken finden sich auch bei anderen deutschen Aufklä
rern.14
1.1.1. 2. Die Diskussion um den "vermischten Geschmack"
Mit Vehemenz wird in den theoretischen Abhandlungen um 1750 die Frage diskutiert,
ob der italienischen oder französischen Musik der Vorrang einzuräumen sei.15 Wenn
auch die Beweisführung bisweilen in Wortgefechten steckenbleibt, so zielt doch der
reale Kern dieser Diskussion auf die Ausbildung einer eigenständigen nationalen Ton
sprache ab. Im Ergebnis der Synthese von Elementen der italienischen und französi
schen Musik entsteht - wie es Quantz 1752 formuliert - der deutsche "vermischte Ge
schmack".
Die theoretische Auseinandersetzung mit den Spezifika der einzelnen Nationalstile be
gann jedoch schon Jahrzehnte früher. 1702 veröffentlichte der Aboo Fran9ois Raguenet
eine Schrift mit dem Titel "Parallele des Italiens et des Fran9ois en ce qui regarde la
musique et les operas" .16 In ihr zeigte sich der Autor für die italienische Musik einge
nommen. Die Abhandlung Raguenets rief im Jahre 1704 Jean Laurent Le Cerf de la
Vieville de Fresneuse auf den Plan, der in seinen Dialogen "Comparaison de la musique
italienne et de la musique fran9aise1117 für die französische Tonkunst eine Lanze brach.
In der Argumentation zwar im einzelnen modifiziert, wurden solche Kontroversen bis
zur Mitte des Jahrhunderts fortgeführt.
Zu diesem Zeitpunkt erfahren sie allerdings eine ungemeine Zuspitzung, bewirkt durch
den sogenannten Buffonistenstreit und die Veröffentlichung von Rousseaus "Lettre sur
la musique fran9aise" (1753). Was ist vorgefallen? Als im Sommer 1752 eine italieni
sche Operntruppe mehrmals erfolgreich ·Pergolesis "La.serva padrona" in Paris auf
führt, so ist das nur das auslösende Moment für einen Streit, der wohl einmalig in der
Musikgeschichte sein dürfte, und der weit mehr als nur einen fachlichen Diskurs im
Bereich der Musik darstellt. In der heftigen Polemik zwischen den Anhängern der klas
sizistischen höfischen Oper und der italienischen Opera buffa manifestiert sich die ideo
logische Konfrontation von Adel und aufstrebendem Bürgertum. Obwohl Rousseaus
"Lettre sur la musique fran9aise" nicht direkt in den Buffonistenstreit eingreift, 18 be
rührt er ebenso weitreichende gesellschaftliche Fragestellungen. Gerade diese Schrift
hat in Deutschland, namentlich bei den Berliner Theoretikern, eine einhellig ablehnende
Resonanz gefunden. Bereits kurz nach dem Erscheinen des "Lettre sur la musique fran-
9aise" wird 1754 in Marpurgs "Historisch-kritischen Beiträgen zur Aufnahme der Musik"
die Übersetzung einer gegen Rousseau gerichteten französischen Rezension abgedruckt.19
In derselben Zeitschrift veröffentlicht Marpurg die Titel von neun "Gegenschriften" zu
Rousseaus Aufsatz. 20 Außerdem enthalten die "Historisch-kritischen Beiträge zur Auf.:.
nahme der Musik" das schon erwähnte "Schreiben aus Paris über den Streit daselbst
zwischen den französischen und welschen Tonkünstlern".