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Die Entstehung der Modernen
Synthese im deutschen Sprachraum
U. HOSSFELD
Herrn em. o. Univ.-Prof. Dr. med. Dr. phil. h.c. Dietrich STARCK,
Frankfurt am Main, zum 90. Geburtstag (am 29. September) in
dankbarer Verehrung gewidmet.
Abstract 186
1 Vorbemerkungen 186
1.1 Die Konsensfindung 187
1.2 Probleme der Rezeption 188
2 Etappen auf dem Weg zur Modernen Synthese im deutschen Sprachraum 190
2.1 Genetik versus Paläontologie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts 190
2.2 Die Sunda-Expedition RENSCH 1927 191
3 Ein verlorenes Jahrzehnt (1929-1938) 194
3.1 Die Tübinger-Tagung 1929 194
3.2 Die Würzburger-Tagung 1938 196
4 Der Wendepunkt 197
5 Die Protagonisten 198
5.1 Bernhard RENSCH (1900-1990) 198
5.2 Gerhard HEBERER (1901-1973) 198
5.3 Walter ZIMMERMANN (1892-1980) 199
5.4 Nikolaj Wladimirowitsch TIMOFEEFF-RESSOVSKY (1900-1981) 200
6 Bedeutende Publikationen 203
6.1 Vererbung erworbener Eigenschaften und Auslese (1938) 203
6.2 Die genetischen Grundlagen der Artbildung (1939) 204
6.3 Die Evolution der Organismen (1943) 205
6.4 Neuere Probleme der Abstammungslehre (1947) 208
6.5 Auswahl an Zeitschriftenartikeln 209
7 Ausblick 210
8 Dank 211
9 Zusammenfassung 212
Stapfia 56,
10 Literatur 213
zugleich Kataloge des OÖ. Landes-
museums, Neue Folge Nr. 131 (1998),
Anmerkungen 220 185-226
185
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Abstract das Beweisen der Evolution und die Erstellung
von Stammbäumen gegangen, der Schwer-
The Modern Synthesis in the German punkt lag in der phylogenetischen Forschung.
Speaking Countries and its Context. In der Zeit danach, etwa bis zur Begründung
der Modernen Synthese Mitte der 30er Jahre,
From 1935 to 1947 a modern synthe- standen hingegen Kausalfragen der Evolution,
sis in evolutionary biology took place in wie z. B. nach der direkten bzw. indirekten
Germany which resembled the similar Vererbung, der Rolle von Mutation, Isolation
movements in Russia and USA/UK. The und Selektion im Evolutionsprozeß bzw. über
historical and scientific context of the den Verlauf der Evolution (graduell oder sal-
tationistisch) im Vordergrund der kontrovers
modern synthesis in Germany are analy-
geführten Diskussionen und Auseinanderset-
sed, its architects and major publications
zungen zwischen den Forschungstraditionen
presented and a summary of the latest
(SENGLAUB 1982; MAYR 1984). Die mannigfa-
research is given.
chen Fragestellungen und verschiedenen Her-
angehensweisen bereiteten aber den Evoluti-
onsforschern zunächst Probleme. Da der Evo-
lutionsgedanke nun in den meisten biologi-
schen Teildisziplinen diskutiert wurde und
deren einzelne Vertreter sich mit unterschied-
1
Vorbemerkungen lichem Erfolg an diesen Debatten beteiligten,
schien eine Synthese des Gedankengutes
Obwohl noch acht Jahrzehnte nach der nahezu unmöglich und in weite Ferne
Veröffentlichung von DARWINS „Origin of gerückt.3 Auch die Wiederentdeckung der
species" (1859) der Widerstand einzelner Bio- MENDELschen Gesetze im Jahre 1900 durch
logen in verschiedenen Ländern gegen die Carl CORRENS (1864-1933), Erich von
natürliche Auslese andauerte, hatte der deut- TSCHERMAK SEYSENEGG (1871-1962) und
sche Sprachraum bei der Popularisierung und Hugo DE VRIES (1848-1935) brachte bei den
Übernahme der Evolutionstheorie von Char- meisten Biologen vorerst keine Änderung der
les DARWIN (1809-1882) eine entscheidende Einstellung zur natürlichen Auslese, denn die
Rolle gespielt.1 Es war insbesondere dem Jena- MENDELschen Gesetze waren statischer Natur
er Zoologen Ernst HAECKEL (1834-1919) zu und gaben keine Antwort auf die kausalen
verdanken, diese Theorie in Deutschland Mechanismen der Evolution (SENGLAUB
ziemlich schnell rezipiert, weiterverbreitet 1982: 558; JAHN 1957/58). Die Mehrzahl der
und popularisiert zu haben (USCHMANN 1958, Biologen wollte und konnte aus unterschied-
1984; KRAUSSE 1984). Jedes Land und jeder lichen Gründen daher keineswegs die Tatsa-
einzelne Zweig der Biologie hatte aber che akzeptieren, daß es sich bei der natürli-
während der Übernahme des Darwinismus chen Auslese um die eigentliche Ursache der
seine Eigenheiten und Spezifika entwickelt, Anpassung handelte. Infolge dieser Entwick-
die sich zum Teil hemmend, zum Teil för- lung kamen im ersten Drittel des 20. Jahrhun-
dernd, auf die jeweilige nationale wissen- derts experimentell arbeitende Genetiker und
schaftliche Entwicklung der Naturwissen- Naturbeobachter (Systematiker, Paläontolo-
schaften auswirkten, so auch im deutschen gen) bei der Beurteilung von evolutionsbiolo-
Sprachraum.2 gischen Prozessen zu sehr verschiedenen und
Mit dem Tod DARWINS im Jahre 1882 war kontroversen Auffassungen. Diese sich unver-
es zu einer Spaliung unter den Evoluiionisten söhnlich gegenüberstehenden Farschungsua-
gekommen; seitdem hatten die Anhänger des ditionen unterschieden sich in ihrer Sprache,
Evolutionsgedankens vielfältige Auseinander- wissenschaftlichen Interpretation und Metho-
setzungen, die bis ins nächste Jahrhundert dologie derart stark, daß es aussah, ab sei ein
hinüberreichen sollten, zu bestehen gehabt. Kompromiß in weite Ferne gerückt: „Die
Von 1859 bis zur Jahrhundertwende war es Unfähigkeit, die Argumente der Gegner zu
den Evolutionsforschern in erster Linie um verstehen, wurde noch durch die Tatsache
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verschärft, daß experimentell arbeitende Bio- wickeln, die möglichst umfassend die Phä-
logen und Naturalisten es im großen und nomene der Evolution, sowohl die Transfor-
ganzen mit verschiedenen Ebenen in der Hier- mation von Arten als auch ihre Aufspaltung,
archie der Naturerscheinungen zu tun hatten. sowie die Mikro- als auch die Makroevolution,
Die Genetiker befaßten sich mit Genen, die in einer Weise zu erklären versucht, die konsi-
Naturforscher dagegen mit Populationen, stent mit den Ergebnissen der Genetik ist.6
Arten und höheren Taxa" (MAYR 1984: 435).
Die internationale „scientific community" der
Darwinisten stand somit um 1930 vor der 1.1
Lösung zweier zentraler Probleme: Zum einen Die Konsensfindung
mußte ein Konsens zwischen den Forschungs-
Der erzielte Kompromiß zwischen den
traditionen gefunden und die Mißverständnis-
stark divergierenden Forschungsrichtungen
se in den eigenen Fachdisziplinen überwun-
Mitte der 30er Jahre verlangte von den Natur-
den, zum anderen der Kampf gegen die noch
beobachtern, daß diese ihre lamarekistischen
immer bestehenden antidarwinistischen Evo-
und saltationistischen Vorstellungen über den
lutionstheorien (Orthogenese, Saltationis-
Ablauf der Evolution und die experimentell
mus, Lamarekismus, Idealistische Morpholo-
arbeitenden Biologen das typologische Den-
gie) fortgeführt werden.
ken beiseite ließen. Der zukünftige wissen-
Zwischen 1937 und 1950 gelang dann eine schaftliche Zugang richtete sich von nun an
Synthese im Evolutionsdenken zwischen verstärkt auf die Vielgestaltigkeit des Evolu-
Genetikern, Systematikern und Paläontolo- tionsprozesses und die Herausarbeitung der
gen.4 Eine Mehrheit von Wissenschaftlern aus Bedeutung der natürlichen Auslese; der Gene-
den unterschiedlichsten Bereichen der Biolo- tik kam innerhalb dieses Prozesses eine
gie hatte zu diesem Zeitpunkt erkannt, daß die Schlüsselrolle zu. Somit verwundert nicht,
Annahme von einer allmählich fortschreiten- wenn ein Genetiker als erster diesen konkre-
den Evolution richtig war, die zusätzlich mit ten Schritt der Umsetzung vollzog und eine
den Wirkfaktoren der Evolution (Rekombina- Synthese des Gedankengutes zwischen den
tion, Variation, Isolation und natürlichen einzelnen biologischen Disziplinen propagier-
Auslese) bestätigt werden konnte. Zudem te. Dieser Wissenschaftler war Theodosius
wurde in Ergänzung zu den damals bekannten DOBZHANSKY (1900-1975), der 1937 bei
genetischen Mechanismen und dem bisher Columbia University Press sein Buch „Gene-
vorgelegten Beweismaterial der Naturbeob- tics and the origin of species" veröffentlicht
achter mit der Einführung des Populations- hatte. Bereits zwei Jahre später lag dieses Buch
konzeptes ein Weg aufgezeigt, die organismi- in einer deutschen Übersetzung (Witta LER-
sche Vielgestaltigkeit und den Ursprung höhe- CHE, Berlin) mit dem Titel „Die genetischen
rer Taxa durch „Betrachten der Arten als fort- Grundlagen der Artbildung" (1939) vor: „...
pflanzungsmäßig isolierte Gruppen von Popu- DOBZHANSKYvs book signalizes very clearly
lationen und durch die Analyse der Wirkung something which can only be called the Back
ökologischer Faktoren" (MAYR 1984: 455) zu - to - Nature Movement. The methods learned
erklären. Der englische Zoologe Julian in the laboratory are good enough now to be
HUXLEY (1887-1975) war es 1942, der diesen put to the test in the open and applied in that
Konsens schließlich als „Moderne [Evolu- ultimate laboratory of biology, free nature its-
tionäre] Synthese" in seinem Buch „Evoluti- elf. Throughout this book we are reminded
on. The modern synthesis" bezeichnete.5 Da that the problems of evolution are given not
dieser Begriff von den Fachwissenschaftlern by academic discussion and speculation, but
und in der biologischen Literatur sehr unter- by the existence of the great variety of living
schiedlich gebraucht wird, sei kurz die Defini- animals and plants ..." (DUNN 1937: 7). Die
tion erwähnt, mit der ich im folgenden arbei- Idee zu diesem Buch ging auf eine Reihe von
ten will: Unter Moderner Synthese verste- Vorlesungen zurück, die von DOBZHANSKY im
he^) ich (wir) den historischen Versuch der Oktober 1936 an der Columbia Universität
30er und 40er Jahre, eine gradualistische, (New York) gehalten wurden: „Each lecture
selektionistische Evolutionstheorie zu ent- was followed by a discussion in which repre-
187
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sentatives of various biological disciplines 1.2
took part" (Preface 1937). Probleme der Rezeption
Sein Ziel war es u. a. gewesen, mit diesem Nach dieser gedrängten Darstellung der
Buch im angelsächsischen Sprachraum eine Vorgeschichte der Modernen Synthese möch-
interdisziplinäre Diskussion seiner geneti- te ich nun auf ein zentrales Thema zu spre-
schen Forschungsergebnisse anzuregen und chen kommen, das die Themenwahl dieses
deren Resultate (zum größten Teil auf mikro- Beitrages beeinflußt hat: Die internationale
evolutiver Ebene gewonnen) auch auf andere Rezeption der Modernen Synthese.
Teildisziplinen innerhalb der Biowissenschaf- Die internationale Rezeption des Gedan-
ten zu übertragen, was in Deutschland bis zum kengutes der Modernen Synthese ist in den
Ende der 30er Jahre noch nicht gelungen war
letzten Jahren so ambivalent erfolgt, daß es
(s. u.). In seiner Abhandlung spielten neben
unter den Wissenschaftlern zu einer Reihe
allgemeinen evolutionsbiologischen Überle-
von Fehlinterpretationen, Mißverständnis-
gungen besonders die Ausführungen über
sen, einseitigen Sichtweisen usw. gekommen
Mutation, Chromosomenveränderungen und
ist. Bei der Bewertung der Ereignisse, die zu
Variabilität als Grundlagen der Art- und Ras-
einer Modernen Synthese führten, ist eine
senunterschiede die entscheidende Rolle.
Differenz zwischen dem deutschen bzw.
Weitere Kapitel des Buches thematisierten die
sowjet-russischen8 und dem anglo-amerikani-
Bedeutung der Auslese, Isolationsmecha-
schen Sprachraum zu verzeichnen. In
nismen, Bastardsterilität und Polyploidie für
Deutschland fehlt bis heute eine detaillierte
das evolutionsbiologische Geschehen sowie
Beschreibung und Aufarbeitung der Ereignis-
Probleme des Artbegriffs. DOBZHANSKYS Buch
se, Voraussetzungen und Gegebenheiten, die
spielte innerhalb der Begründung der Moder-
die Begründung und Ausgestaltung einer Syn-
nen Synthese der Evolution die zentrale Rolle
these ermöglichten. Der Fragestellung, ob es
und das nicht nur auf nationaler, sondern
hier überhaupt eine solche gegeben hat, wird
auch auf internationaler Ebene (HOSSFELD
erst seit 19969 verstärkt von einigen Wissen-
1998c).
schaftlern untersucht.10 Dieses Mißverhältnis
hat verschiedene Gründe: Einerseits wurde
Dieser Initialzündung folgten fünf Jahre
die Bedeutung dieses Themas in den letzten
später der deutsch-amerikanische Systemati-
vier Jahrzehnten zum Teil verkannt bzw. stan-
ker Ernst MAYR (*1904) mit dem Werk
den andere Fragestellungen im Vordergrund
„Systematics and the origin of species" (1942)
des Interesses der deutschsprachigen Evoluti-
und der bereits erwähnte Julian HUXLEY mit
onsbiologen und Zoologen (KRAUS & HOS-
seinem Buch „Evolution. The modern synthe-
SFELD 1998). Andererseits wurde die vorhan-
sis", weitere zwei Jahre später legte der ameri-
dene deutschsprachige bzw. sowjet-russische
kanische Paläontologe George Gaylord SlMP-
evolutionsbiologische Fachliteratur zu diesem
SON (1902-1984) seine Abhandlung „Tempo
Thema im anglo-amerikanischen Sprachraum
and mode in evolution" (1944) vor, und 1950
ab Mitte der 30er Jahre fast vollständig igno-
erschien noch das Werk „Variation and evolu-
riert bzw. nicht rezipiert, so daß sich ein inter-
tion in plants" des amerikanischen Botanikers
nationaler Wissenstransfer in der Evolutions-
George Ledyard STEBBINS (*1906). Diese
biologie nur teilweise entwickeln konnte. Viel
Autoren werden heute als „Architekten" der
zu oft wird die Moderne Synthese bis zum
Modernen Synthese bezeichnet.' Ihr frühzei-
heutigen Tag nur aus der Sicht des angelsäch-
tiges Bestreben, verschiedene Fachdisziplinen
sischen Sprachraums thematisiert, obwohl im
interdisziplinär zu verknüpfen und dabei das
weltweit dazu erschienenen Standardwerk
Hauptaugenmerk auf die neueren Ergebnisse
von E. MAYR und William B. PROVINE „The
der Genetik, insbesondere auf die Rolle der
evolutionary synthesis" (1980), welche bis
Selektion und Mutation zu legen, wird bereits
1982 noch in zwei Nachdrucken erschien, ein
in der Namenwahl der Buchtitel von DOBZ-
internationaler Ansatz beschrieben und
HANSKY (1937) und MAYR (1942) deutlich,
postuliert wurde." Somit verwundert es,
die sich stark an DARWINS epochemachende
wenn immer noch einzelne anglo-amerikani-
Buch von 1859 anlehnen.
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sehe Wissenschaftler in ihren neuesten sche Einflüsse und Ereignisse auch im deut-
Publikationen nahezu vollständig und regel- schen Sprachraum zu einer Modernen Synthe-
mäßig sowohl die aktuelle als auch die histori- se führten, die sich letzten Endes nicht nur als
sche evolutionsbiologische Literatur unseres ein nationales Phänomen (wie aus der Sicht
Sprachraums (bzw. des sowjet-russischen) der einer anglo-amerikanischen Tradition; SMO-
letzten sieben Jahrzehnte negieren.12 Die der- COV1TIS 1996) präsentierte, sondern vielmehr
zeit vertretene Position des angelsächsischen einen internationalen Charakter trug. Dabei
Sprachraums läßt sich an zwei Beispielen ver- interessieren mich vordergründig Fragen nach
deutlichen: Zum einen an dem Buch „Monad der Entwicklung der Evolutionsbiologie im
to man. The concept of progress in evolutio- deutschen Sprachraum in der ersten Hälfte
nary Biology" (1996) des kanadischen Wissen- unseres Jahrhunderts: Kam es hier analog zum
schaftsphilosophen und -theoretikers Michael anglo-amerikanischen Sprachraum in den
RUSE, zum anderen am Kompilat zweier frühe- 30er Jahren ebenso zur Begründung einer
rer, bereits in der Zeitschrift „Journal of the Modernen Synthese? Wenn ja, wer waren in
history of biology" (SMOCOVITIS 1992 1994) Deutschland die Protagonisten dieser Ent-
erschienenen Artikel, betitelt „Unifying bio-
wicklung? 1st es überhaupt berechtigt, von
logy. The evolutionary synthesis and evolu-
„Architekten" im Sinne MAYRS (1984) zu
tionary biology" (1996) von Vassiliki Betty
sprechen? Welche Titel trugen die wichtigsten
SMOCOVITIS, Assistant Professor of the
Publikationen? Gab es zwischen 1920 und
History of Science at the University of Flori-
1950 Parallelen, Gemeinsamkeiten und
da. Sowohl RUSE als auch SMOCOVITIS negie-
Unterschiede in der Entwicklung gegenüber
ren und bestreiten in ihren Büchern den inter-
dem anglo-amerikanischen bzw. sowjet-russi-
nationalen Charakter der Bedingungen, die zu
schen Sprachraum? Wenn ja, welche?
einer Modernen Synthese führten.13 Beide
Einige dieser Fragen möchte ich nachfol-
stützen sich bei ihrer Argumentation aus-
gend aufgreifen und versuchen, Antworten
schließlich auf die vorhandene Literatur ihres
darauf zu finden. Mein Beitrag soll außerdem
Sprachraums (was bei RUSE beispielsweise
die Wissenschaftshistoriker und -theoretiker
einen wirklich sehr guten und aktuellen
unseres Sprachraums dahingehend anregen,
Überblick vermittelt) und negieren nahezu
sich in den nächsten Jahren mit der Bedeu-
vollständig die sowjet-russische bzw. deutsch-
tung und dem besonderen Stellenwert dieser
sprachige Literatur zur Evolutionsbiologie aus
Thematik im Gesamtkontext der Entwicklung
dem 20. Jahrhundert. Es wird dem Leser damit
der Evolutionsbiologie im 20. Jahrhundert in
u. a. suggeriert, daß die sogenannten „Archi-
eigenen Arbeiten auseinanderzusetzen, be-
tekten" der Synthese, wie DOBZHANSKY,
stimmte Aspekte detailliert zu hinterfragen
MAYR, HUXLEY, SIMPSON und STEBBINS, die
und dadurch vielleicht für eine weitere
einzigen „Gründungsväter" bzw. Protagonisten
internationale Popularisierung der deutsch-
dieser Entwicklung gewesen seien (was den
sprachigen und sowjet-russischen Literatur
Tatsachen aber nicht gerecht wird) und dieser
zur Evolutionsbiologie sowie zu diesem spezi-
Sprachraum somit auch das „Gründungszen-
ellen Fragenkontext zu sorgen.1'' Auch unser
trum" darstellt. Deutschsprachige Wissen-
Sprachraum besitzt in der Nachfolge
schaftler wie den russisch-deutschen Geneti-
HAECKELS eine nicht zu unterschätzende wis-
ker Nikolaj W. TIMOFEEFF-RESSOVSKY (1900-
senschaftshistorische Bedeutung innerhalb
1981), den Botaniker Walter ZIMMERMANN
der Entwicklung der Evolutionsbiologie im 19.
(1892-1980) sowie die Zoologen Bernhard
und 20. Jahrhundert, zumal er dabei mit weit-
RENSCH (1900-1990), Gerhard HEBERER
aus größeren politisch-ideologischen, gesell-
(1901-1973) und Wilhelm LUDWIG (1901-
schaftlichen und sozio-kulturellen Schwierig-
1959) bzw. sowjet-russische Biologen sucht
keiten in den letzten 100 Jahren zu kämpfen
man mit ihren Publikationen vergeblich (vgl.
hatte als beispielsweise der anglo-amerikani-
Übersicht 2).
sche Raum. DARWIN, Thomas Henry HUXLEY
(1825-1895), Alfred Rüssel WALLACE (1823-
An dieser Stelle möchte ich mit meinen
1913) und Herbert SPENCER (1820-1903)
Ausführungen ansetzen und im folgenden zei-
kannten und rezipierten im übrigen noch die
gen, daß verschiedene (wissenschafts-)histori-
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Arbeiten ihrer Kollegen aus Deutschland, struktionen) und bemerkte: „Der bisher vor-
Rußland und Frankreich.15 handene und künstlich verstärkte Zwiespalt
zwischen Phylogenese und Genetik, zwischen
Morphologie und Physiologie... muß jetzt
überbaut werden durch die Ganzheitsbetrach-
Etappen auf dem Weg zur Moder- tung. Diese ergibt sich dadurch, daß nicht
nen Synthese im deutschen nur die anatomischen Zustände beschrieben
Sprachraum werden, sondern daß man sie in Vorgänge
überführt, und zwar in die Vorgänge der Funk-
2.1
tion, in die der ontogenetischen und die der
Genetik versus Paläontologie in der
phylogenetischen Entwicklung. Die biolo-
ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts
gische Anatomie beruht deshalb auf gene-
Die eingangs angesprochenen Probleme tischem und auf konstruktivem Denken"
mit der Akzeptanz der DARWINschen Lehre (BÖKER 1935a: 6).'s Paläontologen wie
(natürliche Auslese etc.) in den Naturwissen- BEURLEN und von HuENE gelangten hingegen
schaften waren auch in den Diskussionen zu vitalistischen, SCHINDEWOLF und der
unter den deutschsprachigen Naturwissen- Genetiker Richard GOLDSCHMIDT (1940) gar
schaftlern in der ersten Hälfte unseres Jahr- zu saltationistischen Positionen, und ihre
hunderts an der Tagesordnung und hierbei Kollegen WEIDENREICH und HENNIG traten
insbesondere die „Kausalität der stammes- frühzeitig der Selektions-Mutations-Theorie
geschichtlichen Abläufe" (HEBERER 1943; entschieden entgegen (SENGLAUB 1982: 566).
RENSCH 1947, 1976) bzw. das Kausalverhält- Auch Evolutionsbiologen wie MAYR, Dietrich
nis von „Mikro- und Makrophylogenie (-evo- STARCK (*1908) und RENSCH, die später zur
lution)"16 noch sehr umstritten. Zwar nahm Entwicklung und Popularisierung der Synthe-
man an, daß die natürliche Auslese, Muta- se im deutschen Sprachraum beigetragen
tionen verschiedener Art und auch die Isola- haben, konnten sich erst allmählich von die-
tion von Populationen als Faktoren der sen Vorstellungen lösen.19 RENSCH bemerkte
Artbildung angesehen werden konnten dazu: „My Lamarckian explanations were
(s. o.), zweifelte aber zugleich, ob es sich
mainly based on my investigations on the
hierbei um die einzigen in Frage kommenden
climatic parallelism of size and color in
Faktoren handeln würde. Obwohl der Freibur-
geographic races of birds and mammals ...
ger Zoologe August WEISMANN (1834-1914)
1 defended my Lamarckian explanations for
bereits um die Jahrhundertwende festgestellt
the last time 1 had been invited to report
hatte, daß das Keimplasma (unabhängig vom
about problems of speciation during the con-
Soma) die eigentlichen Determinanten der
gress of the German Zoological Society in
Vererbung enthielt, deuteten verschiedene
1933 ... Since 1934, I have tried, as far as
Paläontologen wie Franz WEIDENREICH (1921,
possible, to explain the climatic parallelism of
1929), Karl BEURLEN (1932, 1937), Otto
race characteristics through natural selec-
Heinrich SCHINDEWOLF (1929, 1936, 1937,
tion." (1983: 37-38).2°Die Überwindung des
1944) und Erwin HENNIG (1929, 1932, 1944),
Lamarekismus dauerte in Deutschland bis in
Zoologen wie Paul KAMMERER (1920, 1925,
die Mitte des 20. Jahrhunderts. Besonders die
1927), Ludwig PLATE (1913, 1931, 1936),
dabei von den Genetikern geführten fachli-
Richard SEMON (1910, 1912) und Jürgen W
chen Auseinandersetzungen zur Beseitigung
HARMS (1934, 1935) bzw. Anatomen wie
der Irrtümer und Widersprüche mit dem wis-
Hans BÖKER (1935a, 1935b, 1936, 1937)
senschaftlichen Lager der Paläontologen-1
im ersten Drittel unseres Jahrhunderts die
machten exemplarisch deutlich, daß in jenen
stammesgeschichtliche Umwandlung der
Jahren in Deutschland die Genetiker zu wenig
Äxten immer noch im saltationistischen bzw.
mit den Forschungsergebnissen der Paläonto-
lamarckistischen Sinne.17 So betonte BÖKER
logen und umgekehrt vertraut waren. SCHIN-
in seinen Arbeiten den direkten kausalen
DEWOLF appellierte deshalb: „[Es] muß wieder
Zusammenhang zwischen Bau, Funktion und
der Versuch gemacht werden, die beiden aus-
Umweltbedingungen (Theorie der Umkon-
einanderstrebenden Disziplinen zusammenzu-
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führen. Denn letzten Endes gilt ja doch beider satz zu Deutschland, schnellere Fortschritte
Arbeit, lediglich von verschiedenen Seiten auf dem Weg zu einer Modernen Synthese
aus und mit verschiedenen Methoden, dem erzielt.27
gleichen Ziele einer Aufhellung der organi- In die Zeit der Synthetisierung des Gedan-
schen Gesetzmäßigkeiten" (1936: 1). Des wei- kengutes von Systematikern, Genetikern und
teren fehlten der deutschsprachigen Genetik Paläontologen im ersten Drittel unseres Jahr-
zu jener Zeit, im Vergleich zum angelsächsi- hunderts fällt nun die Durchführung einer
schen Raum, grundlegend neue Forschungser- Expedition, die für die Entwicklung der
gebnisse, wie sie noch um die Jahrhundert- deutschsprachigen Evolutionsbiologie Bedeu-
wende erzielt worden waren.22 tung besitzt. Ich möchte behaupten, sogar für
In Deutschland hatten sich zwar vereinzelt die Herausbildung der Modernen Synthese im
Genetiker und Zoologen in ihren Lehr- deutschen Sprachraum auf Grund von Zufäl-
büchern ausführlich zur Artentstehung durch ligkeiten indirekt mitbestimmend war.
Mutation, Selektion und Isolation geäußert,
aber vermieden, diese Aussagen bereits an die- 2.2
ser Stelle als richtiges und wissenschaftlich Die Sunda-Expedition RENSCH 1927
bewiesenes Dogma zu propagieren.23 Auch in
Es handelt sich um die von RENSCH gelei-
den führenden deutschen Lehrbüchern der
tete Expedition zu den Kleinen Sunda-Inseln
Biologie der zwanziger bis vierziger Jahre fin-
im Indonesischen Archipel (1927), an der
den sich ähnlich lautende und skeptische
neben RENSCH auch der bekannte deutsche
Bemerkungen zu diesem Themengegen-
stand.24 Vielleicht hatten ja die oben erwähn- Anthropologe und Evolutionsbiologe HEBE-
RER teilgenommen hat. Wie bereits erwähnt,
ten Wissenschaftler (wie z. B. SCHINDEWOLF,
gehören diese beiden Wissenschaftler zu den
GOLDSCHMIDT, BEURLEN &. BÖKER) doch recht
Protagonisten oder „Architekten" einer
mit ihrer Annahme, es gäbe noch andere, bis-
Modernen Synthese in unserem Sprachraum.
her unbekannte evolutionäre Mechanismen.
Dieser von den Genetikern und einzelnen Welchen Stellenwert besitzt diese Expedi-
Zoologen eingegangene Kompromiß erwies tion innerhalb der Geschichte der deutsch-
sich später als hemmend bei der Etablierung sprachigen Evolutionsbiologie des 20. Jahr-
der Modernen Synthese in Deutschland, und hunderts?
es mußten noch weitere Jahre vergehen, bevor Obwohl zu Beginn der Reise kein konkre-
sich die stark divergierenden Forschungsrich- tes wissenschaftliches Programm vorgelegen
tungen in ihren Positionen annähern sollten. hatte, wurde sie dennoch überaus erfolgreich
Im Gegensatz dazu hatte sich der angelsächsi-
abgeschlossen. Die Hauptaufgaben der Expe-
sche Sprachraum hier bereits einen Vorteil
dition lagen in erster Linie auf tropenbiologi-
verschafft, denn in den 30er Jahren wurden
schem, zoogeographischem und anthropologi-
gleich drei allgemeine Grundrisse über das
schem Gebiet. Als Teilnehmer konnten
Fachgebiet der Genetik und deren integrie-
neben HEBERER der 21jährige Kandidat der
rende Rolle innerhalb der (Evolutions-)Biolo-
Medizin Wolfgang LEHMANN (1905-1980)
gie vorgelegt, die den oben genannten Mangel
sowie der Frankfurter Herpetologe bzw. Kustos
der deutschsprachigen Ausgaben nicht aufzu-
am Senckenberg-Museum Robert MERTENS
weisen hatten, vielmehr klarer argumentier-
(1894-1975) und RENSCHS Ehefrau Ilse (1902-
ten und somit eine frühe interdisziplinäre Dis-
1992) gewonnen werden. Im wesentlichen
kussion innerhalb der anglo-amerikanischen
wurde die Reise von der Notgemeinschaft der
Biowissenschaften anregen konnten.25 Außer-
Deutschen Wissenschaften (ab 1937 Deutsche
dem bestand hier nicht solch ein widersprüch-
Forschungsgemeinschaft), von der Frankfurter
liches Verhältnis der Genetik zur Paläontolo-
Senckenberg-Gesellschaft, dem Ministerium
gie (vgl. SCHINDEWOLF für Deutschland versus
für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung in
SIMPSON für Amerika)26 und die genetische
Berlin, von der Preußischen Akademie der
Forschung (Transmissionsgenetik, Populati-
Wissenschaften usw. finanziert (RENSCH
onsgenetik im Freiland und Labor etc.) hatte
1930). Ein Drittel der Kosten konnte aus pri-
in Amerika, England und Rußland, im Gegen-
vaten Mitteln gedeckt werden.28
191
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Das Reisegebiet erwies sich in der wissen-
schaftshistorischen Tradition eines Alfred
Rüssel WALLACE als besonders geeignet.:g
Über die Ergebnisse der Reise berichtete
RENSCH U. a. in seiner Autobiographie
(1979). So konnten beispielsweise 10 neue
Gattungen, 222 neue Arten und 31 neue geo-
graphische Rassenkreise an Tieren und Pflan-
zen aufgefunden und beschrieben werden.
Ferner füllten die Expeditionsteilnehmer in
den Jahrzehnten nach der Expedition (bis
1950) über 1700 Seiten Papier mit Beschrei-
bungen von Neubefunden, vergleichenden
Analysen und Reiseberichten. Der literari-
sche Überblick über die Gesamtzahl der
Publikationen ergab an Reiseberichten und
Zusammenfassungen vier Titel, systematisch-
faunistischen Spezialbearbeitungen 40 Titel,
botanischen Bearbeitungen vier Titel, allge-
meinen biologischen Arbeiten fünf Titel und
anthropologischen Publikationen fünf Titel.
Wie die Aufzeichnungen von RENSCH und
HEBERER zeigen, fühlten sich die Expeditions-
teilnehmer der historischen Tradition (WAL-
LACE, HAECKEL) stets verpflichtet. Auch die
Ergebnisse der RENSCH-Expedition sollten,
gemäß der jahrzehntelangen Tradition von
Reisen in Inselgebiete, eine Reihe neuer Ein-
sichten für das allgemeine Verständnis der
Speziellen Zoologie, Zoogeographie, Ornitho-
logie, Botanik, Anthropologie und Ethnogra-
phie dieses Gebietes erbringen. Des weiteren
stellte sich während der gemeinsamen Durch-
arbeitung und Diskussion des Materials her-
Abb. 1:
Die Teilnehmer der Sunda-Expedition
RENSCH 1927. V.l.n.r.: Gerhard HEBERER,
Ilse RENSCH, Robert MERTENS, Wolfgang
LEHMANN, Bernhard RENSCH (Nachlaß
HEBERER, Göttingen).
Abb. 2:
Bleistiftskizze HEBERERS vom Rindjani-
Vulkan auf der Insel Lombok 1927
(Nachlaß HEBERER, Göttingen).
192
© Biologiezentrum Linz/Austria; download unter www.biologiezentrum.at
aus, daß diese Inselgruppe :ur „indomalai- Abb. 3:
ischen Übergangsregion", die westlich von der Ikatweber
(Nachlaß
WALLACE-Linie begrenzt wird, gehört. Es han-
HEBERER, Göt-
delte sich also nicht um ein ausschließliches tingen).
Mischgebiet, da ein großer Prozentsatz an
endemischen Gattungen und Anen gefunden
werden konnte. Ein RENSCH-Schüler, der Ent-
wicklungsphysiologe Wolf ENGELS aus Tübin-
gen, weiß sogar noch aus Gesprächen mit
RENSCH, daß es der damals 31jährige MERTENS
während der Expedition war, der die jüngeren
Kollegen (RENSCH und HEBERER) für Proble-
me der Zoogeographie begeisterte und ihre
Aufmerksamkeit auf Fragestellungen wie die
Artentstehung lenkte.'0 Außerdem, denke
ich, halfen RENSCH und HEBERER die täglich
geführten Diskussionen während der Expediti-
on, sich von den phänogenetischen und zum
Abb. 4:
Teil orthogenetischen Vorstellungen ihres
Die Expediti-
Lehrers HAECKER allmählich zu lösen (Hos- ons-Teilneh-
SFELD 1996, 1997). Die Expedition vereinte mer beim
Sultan von
zudem Teilnehmer verschiedener wissen-
Dompu auf
schaftlicher Einrichtungen Deutschlands bzw. der Insel
späterer „wissenschaftlicher Schulen" wie Sumbawa
1927 (Nach-
Berlin, später Münster (RENSCH); Frankfurt
laß HEBERER,
(MERTENS); Halle, später Straßburg, Kiel Göttingen).
(LEHMANN) sowie Halle, später Tübingen,
Frankfurt, Jena und Göttingen (HEBERER), SO
daß das Gedankengut und Sammelmatenal
der Expedition nach 1927 relativ kontinuier-
lich über den deutschen Raum weiterver-
breitet, bearbeitet und diskutiert werden
konnte." Die Teilnehmer standen zeitlebens
in gutem Kontakt zueinander. So trafen sich
beispielsweise alle Teilnehmer der Expedition
an runden Geburtstagen von RENSCH (60., 65. Abb. 5:
und 70.) jeweils in Münster, wo gleichzeitig Die Präpara-
tion eines
auch wissenschaftliche Symposien stattfan-
Warans. Im
den, zu denen ausländische Evolutionsbiolo- Hintergrund
gen wie HbXLEY, MAYR, Ludwig von BER- Ilse RENSCH
(links) und
TALANFFY (1901-1972), J. B. S. HALDANE
Bernhard
RENSCH
(1892-1964) und DoBZHANSKY eingeladen
(rechts)
waren.'2 Diese Treffen und Diskussionen stehend -
haben sich sicherlich ebenso positiv auf die (Nachlaß
HEBERER, Göt-
Entwicklung der Evolutionsbiologie und Zoo-
tingen).
logie in Deutschland ausgewirkt.
Es konnte bis heute nicht eindeutig
geklärt werden, warum HEBERER dann später
und im Gegensatz zu RENSCH, insbesondere
während der NS-Zeit, gleichzeitig Fragestel-
lungen zur Rassenkunde (Indogermanenfor-
schung), Zytogenetik (Copepoden) und
193
© Biologiezentrum Linz/Austria; download unter www.biologiezentrum.at
Modernen Synthese bearbeitete. Beide hatten bzw. 1938 in Würzburg stattfanden und in
sich doch schließlich in Halle dieselben deren Verlauf so unterschiedliche Ergebnisse
wissenschaftlichen Grundlagen angeeignet erzielt wurden, sodaß erst Ende der 30er Jahre
und entstammten der traditionsreichen in Würzburg die Möglichkeit der inhaltlichen
„HAECKER-Schule" (HOSSFELD 1996). Die Begründung einer Modernen Synthese gege-
Auswertung des HEBERER-Nachlasses doku- ben war. Die beiden Tagungen markieren ein
mentiert deutlich, daß sich HEBERER bis zum „verlorenes Jahrzehnt" in der Geschichte der
Ende der 30er Jahre inhaltlich noch nicht Evolutionsbiologie im deutschen Sprachraum.
festgelegt hatte. Im Gegensatz zu RENSCH
mangelte es ihm zu jener Zeit an Eigenstän-
3.1
digkeit, wissenschaftlicher Genialität, evolu- Die Tübinger-Tagung 1929
tionsbiologischem Feingefühl und der Nut-
zung des vorhandenen Forschungspotentials Zwei Jahre nach der Beendigung der Sun-
(vgl. die Publikationen der beiden bis etwa da-Expedition kamen in Tübingen vom 8. bis
1940). Somit resultierten wahrscheinlich vor- 12. September 1929 die „Paläontologische
rangig aus der persönlichen und zufälligen Gesellschaft" und die „Deutsche Gesellschaft
Beziehung RENSCH-HEBERER, die von ersten für Vererbungsforschung" zu einer gemein-
Kontakten in der Schulzeit (beide waren in samen Sitzung und Aussprache mit dem Ziel
der naturwissenschaftlichen AG des Realgym- zusammen, bestehende Gegensätze zwischen
nasiums als Limnologen bzw. Ornithologen den Vertretern der experimentellen Verer-
aktiv; hatten denselben Biologielehrer bungsforschung und denen der Deszendenz-
usw.),33 während des Biologiestudiums, lehre in Deutschland zu überwinden.36 Der
gemeinsamer Tätigkeit als Doktoranden beim Paläontologe Franz WEIDENREICH (1873-
Zoologen und Genetiker Valentin HAECKER 1948) versuchte in seinem einführenden Vor-
(1864-1927)" bis zur Teilnahme an der Expe- trag „Vererbungsexperiment und vergleichen-
dition ins Indonesische Archipel reichte, de Morphologie" (aus der Sicht der Evolutio-
wichtige Impulse für die Mitbegründung der nisten), die Unerläßlichkeit lamarckistischer
Modernen Synthese. Leider wurde das wissen- Vorstellungen für die Evolutionstheorie nach-
schaftliche Potential der RENSCH-Expedition zuweisen und stellte dabei fest, daß „die Ver-
nur ungenügend im Sinne einer Synthetisie- erbungslehre in keinem Falle berechtigt ist,
rung von Gedankengut verwertet, so daß im
lediglich auf Grund ihrer experimentellen
Anschluß an die Reise der erhoffte Innovati-
Erfahrungen die Möglichkeit einer Fixierung
onsschub für eine kontinuierlichere Entwick-
von Reaktionsformen im Laufe der Erdge-
lung der Evolutionsbiologie im deutschen
schichte, wie sie die Evolutionslehre als The-
Sprachraum bis ca. 1938 ausblieb, wie nach-
se aufstellt, zu leugnen" (1930: 19). Seiner
folgende Betrachtung zeigen wird.
Meinung nach behielten daher alle Schlußfol-
gerungen, „zu denen die vergleichende Mor-
phologie auf ihrem deduktiven Wege gekom-
men" war, als Theorie weiter ihre volle
Berechtigung (Ebenda). Der Genetiker Harry
Ein verlorenes Jahrzehnt
(1929-1938) FEDERLEY hingegen bezeichnete in seinem
Coreferat „Weshalb lehnt die Genetik die
Annahme einer Vererbung erworbener Eigen-
Eine biologiegeschichtliche Analyse der
schaften ab?" (aus der Sicht der Genetiker)
evolutionsbiologischen Entwicklung des
den lamarckistischen Ansatz ab völlig über-
deutschsprachigen Raumes dokumentiert, daß
holi: „Die Hypothese von der Vererbung
trotz einiger Probleme unter den Fachwissen-
erworbener Eigenschaften kann in unseren
schaftlern die Startvoraussetzungen für die
Tagen kaum als aktuell bezeichnet werden...
Etablierung einer Synthese bis zum Ende der
Es muß zugestanden werden, daß die Genetik
20er Jahre günstig waren, aber nicht genutzt
wurden.33 Die ganze Brisanz der Ereignisse von heute im Verhältnis zu den alten Evoluti-
onstheorien einen in erster Linie negativen
dokumentiert sich deutlich am Zeitraum zwi-
Standpunkt einnimmt... Sie kann die lam-
schen zwei Tagungen, die 1929 in Tübingen
194