Table Of ContentDie Pyramiden aus Leibern, die Folter und sexuelle
Demütigung irakischer Gefangener im Abu-Ghraib-Ge-
fängnis - die Fotos davon haben die Welt erschreckt
und verstört. Kann das sein, dass ein demokratisches
Land wie die USA so menschenverachtend mit sei-
nen Feinden umgeht? - Es kann sein, und es ist noch
viel schlimmer, wie Seymour M. Hersh, der den Abu-
Ghraib-Skandal aufdeckte, in diesem Buch beschreibt
und belegt. Pulitzer-Preisträger Hersh, für seinen
deutschen Kollegen Hans Leyendecker «der beste
Enthüllungsjournalist der Welt», hat die Spur der an-
geblichen Einzeltaten zurückverfolgt, indem er der Be-
fehlskette folgte - und landete dabei im kubanischen
Guantanamo, im Pentagon und im weißen Haus.
Bei seinen Ermittlungen stieß Hersh auf eine streng
geheime Supertruppe, die weltweit operiert, um mut-
maßliche al-Qaida-Terroristen zu ermorden oder mit
allen Mitteln zum Reden zu bringen. Eine Truppe, für
die Recht, Gesetz und internationale Konventionen
nicht existieren und die auch im Foltergefängnis Abu
Ghraib das Sagen hatte - ausgeschickt vom Verteidi-
gungsministerium Donald Rumsfelds.
Bis es so weit kommen konnte, mussten Kontrollme-
chanismen und Rechtsbewusstsein wichtiger demo-
kratischer Instanzen systematisch untergraben wor-
den sein. Hersh zeigt hier zum ersten Mal im Zu-
sammenhang, wie das geschehen konnte, wie es
Präsident Bush, seinem Vize Cheney, Rumsfeld und
einer Hand voll Helfer gelang, an einem Gutteil der
demokratischen Sicherungsmechanismen vorbei die
Verwaltung, das Militär und die Geheimdienste umzu-
steuern. Er beschreibt, wie durch ihre politischen Di-
rektiven elementare Prinzipien der Rechtsstaatlich-
keit außer Kurs gesetzt wurden - in Afghanistan, in
Guantanamo, im Irak und in den USA selbst. Er erklärt,
wie es möglich war, dass Amerika nach dem grauen-
vollen Terroranschlag vom 11. September 2001 selbst
einen Weg des Unrechts beschreiten konnte.
Ein erschütterndes Lehrstück über die Anfällig-
keit einer Demokratie im Ausnahmezustand.
llwohlt
Seymour M. Hersh
DIE BEFEHLSKETTE
Vom 11. September bis Abu Ghraib
Deutsch von Hans Freund!,
Norbert Juraschitz, Reiner Pfleiderer
und Thomas Ffeiffer
Rowohlt
Für Matthew,
Melissa und Joshua
Die amerikanische Originalausgabe erschien 2004 unter dem Titel
Chain Of Command. The Road From 9/11 To Abu Ghraib
bei HarperCollins Publishers, New York.
1. Auflage Oktober 2004
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe
© 2004 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
«Chain Of Command» Copyright © 2004 by Seymour M. Hersh
Einleitung © 2004 by David Remnick
Published by arrangement with HarperCollins Publishers, lnc.
Satz aus Concorde PostScript bei KCS GmbH, Buchholz/Hamburg
Druck und Bindung Clausen & Bosse, Leck
Printed in Germany
ISBN 3 498 02981 9
Inhalt
Einleitung 7
1. Folter in Abu Ghraib 19
1. Probleme in Guantanamo 19
2. Aufnahmen aus einem Gefängnis 40
3. Die Grenzüberschreitung 67
4. Die Grauzone 86
II. Das Versagen der Geheimdienste 96
1. Wie Amerikas Spione den 11. September verpassten 96
2. Wieso die Regierung nicht wusste, was sie wusste 111
3. Der zwanzigste Mann 129
III. Der andere Krieg 148
1. Afghanistans geheime Schlachten 148
2. Die Flucht 155
3. Wenn Warlords zur Machtbasis werden 172
IV. Die Irak-Falken 189
1. Das Ringen um die Kriegserklärung an Saddam Hussein 189
2. Der Krieg rückt näher 203
3. Richard Perle geht essen 217
V. Wer belog wen? 231
1. März 2003: «Diese Dokumente ... sind nicht authentisch.» 231
2. Das Prinzip «Ofenrohr» 235
3. Hinter dem «Atompilz» 254
VI. Der Minister und die Generäle 280
1. Der Weg nach Bagdad 280
2. Menschenjagd 293
3. Den Aufstand im Visier 306
VII. Ein höchst gefährlicher Freund 321
1. Die USA setzen auf Musharraf 321
2. Der ultimative Schwarzmarkt 337
3. Washingtons Deal 34 7
VIII. Der Nahe Osten nach dem 1 1. September 360
1. Saudi-Arabien: Korruption und Kompromiss 361
2. Iran: Die nächste Atommacht? 371
3. Israel, die Türkei und die Kurden 381
Epilog 391
Danksagung 398
Einleitung
Am 14. November 1969 stießen die Leser zahlreicher amerikanischer
Zeitungen auf eine Story mit einer Schlagzeile wie «Leutnant des
Mordes an 109 Zivilisten angeklagt». Sie erschien mit freundlicher
Genehmigung des Dispatch News Service, eines Vertriebsservice für
Reporter, die in Vietnam arbeiteten, und als Verfasser wurde ein ehe-
maliger Reporter für eine Nachrichtenagentur namens Seymour M.
Hersh genannt. Die ersten in einem schnörkellosen, lakonischen Stil
geschriebenen Absätze schilderten, wie im Jahr zuvor eines Morgens
Soldaten der 11. Infanteriebrigade der US-Army zu einem blindwü-
tigen Gemetzel in das vietnamesische Dorf My Lai auszogen:
Fort Benning, Georgia, 13. November. Lt. William L. Calley jun.,
26 Jahre alt, ist ein schüchterner, knabenhaft wirkender Vietnam-
veteran mit dem Spitznamen «Rusty». Die Army schließt gerade
ein Ermittlungsverfahren zu den Vorwürfen ab, dass er im März
1968 vorsätzlich mindestens 109 vietnamesische Zivilisten bei
einem Fahndungs- und Vemichtungsauftrag in einer Hochburg
des Vietcong, genannt «Pinkville», getötet haben soll.
Calley wird Massenmord in sechs konkreten Fällen zur Last gelegt.
Jeder Anklagepunkt nennt eine Anzahl von Toten, insgesamt 109
Opfer, und wirft Calley vor, dass er «mit Vorsatz Mord begangen
hat ... an Menschen östlicher Herkunft, deren Namen und Ge-
schlecht unbekannt sind, indem er sie mit einem Gewehr erschoss».
Die Army nannte es Mord; Calley, sein Rechtsbeistand und andere
an dem Vorfall Beteiligte beriefen sich darauf, dass sie nur Befehle
ausführten. «Pinkville» ist durch einen Prozess, der nach der Mei-
nung vieler Offiziere und Kongressmitglieder weit mehr Aufsehen
erregen wird als die jüngsten Mordanklagen gegen acht Green Be-
rets, in Militärkreisen zu einem allgemein bekannten Begriff ge-
worden.
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Wie sich herausstellte, hatten die Soldaten der 11. Brigade an jenem
Morgen im Zuge einer Operation, die als Fahndung nach Soldaten
des Vietcong begonnen hatte, mindestens 500 Zivilisten ermordet -
darunter viele Frauen, Kinder, ja Babys und Alte. Manche erschossen
sie von Hubschraubern aus, andere aus nächster Entfernung auf dem
Boden. Es gab Vergewaltigungen und Folter. Nach einem stunden-
langen Gemetzel steckten die Soldaten das Dorf in Brand und ließen
ein Areal voller Leichen zurück.
Auf den Hinweis eines Anwalts hin und mit einer bescheidenen
Unterstützung aus der Stiftung für investigativen Journalismus traf
Hersh auf dem Army-Stützpunkt in Fort Benning ein und ging auf der
Suche nach Calley, der auf seinen Kriegsgerichtsprozess wartete, von
Tür zu Tür. Immer wieder klopfte Hersh an, den Offizieren auf dem
Stützpunkt ging er aus dem Weg. Am Ende fand er «Rusty», einen
ehemaligen Weichensteller, und bat ihn, sich mit ihm zu unterhalten.
Nach einem Gespräch von drei oder vier Stunden gingen sie in ein
Lebensmittelgeschäft, kauften Steaks, Bourbon und Wein, aßen mit-
einander und unterhielten sich im Apartment von Calleys Freundin
noch länger miteinander. Calley sagte Hersh, dass er in My Lai nur
Befehle ausgeführt habe, doch er sprach ganz offen über das, was ge-
schehen war. Insgesamt 36 Zeitungen brachten die Story und lösten
damit eine Sensation, manchmal auch Unglauben aus, in der Welt des
Journalismus und darüber hinaus. Als ein Pentagon-Korrespondent
der Washington Post beauftragt wurde, den Storys über My Lai nach-
zugehen, rief er Hersh an und sagte bitter: «Du Hurensohn, wie bist
du nur auf die Idee gekommen, eine derartige Lüge zu schreiben?»
Eifersucht und Verwirrung unter· seinen Rivalen waren vielleicht
verständlich. Hersh war zweiunddreißig, als er die Story von My Lai
veröffentlichte, und noch völlig unbekannt. Er hatte viele Kontakte
zu Zeitungen, aber an dem Thema My Lai arbeitete er auf eigene
Faust. Mit der Hilfe eines Freundes, David Obst, schickte er die Sto-
ry per Kurierdienst an Dutzende Zeitungen. Obwohl Soldaten der
Einheit ausgiebig mit Hersh sprachen und die furchtbarsten Gräuel-
szenen schilderten und obwohl selbst Calleys Anwalt bereit war, die
Story zu bestätigen, brachten einige große Zeitungen, darunter die
New York Times, sie anfangs nicht. «Aber ich schrieb weiter», hat
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Hersh einmal erzählt, «und bei der dritten Story stieß ich auf diesen
unglaublichen lyp, Paul Meadlo, aus einer Kleinstadt in Indiana,
Sohn eines Farmers, der viele vietnamesische Kinder erschossen hat-
te - er hatte an die hundert Menschen erschossen. Er schoss einfach
immer weiter, und am nächsten Tag wurde ihm dann das Bein weg-
gesprengt, und er sagte zu Calley, als sie ihn mit dem Hubschrauber
ausflogen: <Gott hat mich bestraft, und jetzt wird er dich bestrafen.»>
Nachdem Hersh dieses Interview veröffentlicht hatte, holte CBS
Meadlo in die Abendnachrichten, und die Story wurde allgemein be-
kannt. Ein Jahr später wurde Hersh der Pulitzer-Preis verliehen, eine
Seltenheit für freie Journalisten.
Mittlerweile war Hersh so weit, dass er ein Buch über das Massa-
ker schreiben konnte: My Lai 4. Er hatte Dutzende Teilnehmer und
Regierungsvertreter interviewt und eine Unzahl makabrer Details
entdeckt, etwa dass Colonel George S. Patton III. - der Sohn des
Generals Patton - eine Weihnachtskarte mit dem Text «Frieden auf
Erden» verschickt hatte, die eine Aufnahme von «fein säuberlich auf-
gestapelten, verstümmelten Vietcong-Soldaten» zeigte. Im Jahr 1972
veröffentlichte Hersh im New Yorker einen langen Bericht über die
geheime, regierungsamtliche Ermittlung und Vertuschung des Massa-
kers von My Lai.
Unter Journalisten ist es ein offenes Geheimnis, dass Reporter genau
wie Detektive und Sprinter irgendwann müde Beine bekommen. Frü-
her oder später gehen sie in Rent~, setzen sich zur Ruhe, nehmen
einen Schreibtischjob an, werden Kolumnist oder, noch schlimmer,
Redakteur. Sy Hersh ist mein Kollege und Freund, aber ich weiß, dass
seine Achtung für Redakteure sich im Allgemeinen am treffendsten
mit den Worten wiedergeben lässt, die die verstorbene Shirley Povich
von der Washington Post über diese Brut zu sagen pflegte: «Ein Re-
dakteur ist eine Maus, die dafür trainiert, eine Ratte zu werden.»
Hersh, mit seinen über sechzig Jahren, ist ein Reporter und wird im-
mer einer bleiben. Er strotzt heute eher noch stärker vor Tatendrang
als damals in seinen Dreißigern. Und die Ergebnisse können sich se-
hen lassen: Seine Arbeit für den New Yorker während der Regierung
George W. Bushs, die sich in diesem Buch widerspiegelt, sind eine,
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Description:Pulitzer-Preisträger Seymour Hersh ist gleichsam der Chef-Enthüller Amerikas nach dem 11. September. Der "beste Enthüllungsjournalist der Welt" (Hans Leyendecker) deckte auf, wie und warum die Geheimdienste vor dem 11. September versagten, wie die angeblichen Beweise für Saddams nie gefundene Ma