Table Of ContentDie altnordische Heroische Elegie
Ergänzungsbände zum
Reallexikon der
Germanischen Altertumskunde
Herausgegeben von
Heinrich Beck, Herbert Jankuhn f,
Reinhard Wenskus
Band 6
w
DE
G_
Walter de Gruyter · Berlin · New York
1992
Die altnordische
Heroische Elegie
von
Ulrike Sprenger
w
CDE L
Walter de Gruyter · Berlin · New York
1992
® Gedruckt auf säurefreiem Papier,
das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.
Die Deutsche Bibliothek — CIP-Einheitsaufnahme
Reallexikon der germanischen Altertumskunde / begr. von
Johannes Hoops. In Zusammenarbeit mit C. J. Becker ... Hrsg.
von Heinrich Beck ... — Berlin ; New York : de Gruyter.
Bis Bd. 4 hrsg. von Johannes Hoops
Ergänzungsbände / hrsg. von Heinrich Beck ...
NE: Hoops, Johannes [Begr.]; Beck, Heinrich [Hrsg.]
Bd. 6. Sprenger, Ulrike: Die altnordische Heroische Elegie. —
1992
Sprenger, Ulrike:
Die altnordische Heroische Elegie / von Ulrike Sprenger. — Ber-
lin ; New York : de Gruyter, 1992
(Reallexikon der germanischen Altertumskunde : Ergänzungs-
bände ; Bd. 6)
ISBN 3-11-013254-0
© Copyright 1992 by Walter de Gruyter & Co., Berlin 30.
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Vorwort
Das Ziel dieser Arbeit ist es zu zeigen, dal) es sich bei der Heroischen Elegie -
GuAninarqviAa I und II. Oddrünargrätr. GuArünarhvol mit Emschlult von GuAni-
narqviAa III - umjunge, isländische Schöptungen handelt1, d.h. nicht, wie sonst
in der altnordischen Literaturgeschichte üblicherweise aufgrund der Arbeiten von
Mohr2 dargelcgt wird, um Fremdstofflieder3; als weiterer Umkreis werden dabei
ausemanderzuseizen. wenn auch nicht mit jeder Einzelheit, Klar ist damit auch,
dall es sich hier nicht um einen Eddakommentar handelt, auch wenn zuerst jedes
Lied einzeln besprochen wird, um esalsjung und isländisch darzustcllen. An diese
Besprechung schließt sich eine die gesamten Schöpfungen berücksichtigende Dar
stellung. welche die Entstehung dieser Werke im erwähnten Sinn verständlich
macht, nämlich derart, daß sich in der Heroischen Elegie ein Wandel in der
Gehalt. Eine hervorragende Rolle spielt dabei die geistliche Literatur, ein Begriff,
der nicht nur an isländische, sondern auch an lateinische Texte denken läßt.
Christentum und geistliche Literatur sind hier in einem sehr weilen Sinn aufzu-
ist z.B. die höfisch-ritterliche Dichtung. Wenn hier von einem Wandel in der
ein derart geändertes Heldcnbild. wie es in der Heroischen Elegie vorliegt, sich
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VI Vorwort
Für mich ist damit zum vornherein gegeben, daß eine Entstehungsgeschichte, wie
sie Mohr beschreibt — die Heroische Elegie in ihrem Wortlaut von außen
geprägt —, unhaltbar ist. Dennoch bedeutet das nicht automatisch, daß es nicht
auch Einflüsse von außen gegeben hätte4, so rechne ich u.a. damit, daß das von
Mohr herangezogene sog. Novellistische Spielmannslied von isländischen Schöp
fern der Heroischen Elegie benützt wurde, obwohl es als "Konstrukt" nicht real
nachweisbar ist. Ich betrachte das Novellistische Spielmannslied als leichtes
Genre5 — sentimental, bis ins Groteske gehend (wettklagende Frauen aufgrund
unzähliger Todesfälle), unterhaltend —, das gewisse Elemente, die später in der
Heroischen Elegie benützt wurden, mit sich führte, d.h. als eine Art Transport
mittel. Die gegebene Charakterisierung kann eine Benennung mit dem heute
obsoleten Begriff "spielmännisch" dennoch akzeptabel erscheinen lassen.
Mit Heuslers "isländischer Spätblüte"6 berühren sich meine Darlegungen inso
weit, als es sich für mich bei der Heroischen Elegie um eine junge isländische
Schöpfung handelt, doch geht der hier dargelegte Wandel weit über das hinaus,
was Heusler meint, wenn er von einem Streben nach Innerlichkeit spricht, das
dazu führte, die Form des Ereignisliedes zu verlassen.
Bei der Darstellung dieser isländischen Schöpfungen wird auch deutlich, daß
man, wie ich meine, mit weiterer, früherer, eigenständiger isländischer Helden
dichtung rechnen sollte. Vieles mag verloren sein; die Edda selbst stellt wohl einen
Kanon, d.h. eine Auswahl dar. Nur Bruchstücke dieser vorauszusetzenden Lieder
sind faßbar; die beste Illustration für das Problem stellt Gðr. II dar, ein Lied mit
einer komplizierten Entstehungsgeschichte.
Wer die hier für die Heroische Elegie vorausgesetzte Singularität beanstandet,
möge bedenken, daß Island auch deshalb singulär ist, weil es bereits eine große
Prosa aufwies, als in Europa Epik sonst noch in Versform gestaltet wurde.
Übernationale Bezüge bestehen trotzdem.
Die hier angewandte Methode ist im Gegensatz zu vielen heutigen Arbeiten die
alte philologische (gewisse Stellen müssen zuerst einmal überhaupt verstanden
werden). Eine große Rolle spielt dabei die Heranziehung des Wortschatzes; sie er
laubt z.B. zu zeigen, daß bei den Atlamäl Einfluß eines hagiographischen Modells
besteht. Durch die breite Heranziehung des Wortschatzes von Skaldik und Prosa,
wobei Texte aus der geistlichen Literatur eine große Rolle spielen, wird deutlich,
4 Die höfisch-ritterliche Dichtung, mit der Island über Norwegen in Kontakt kam, betrachte ich nicht
als ausländischen Einfluß, wie hier allgemein, wie unten bemerkt, Norwegen als natürlicher
Umkreis von Island und damit eine gewisse Einheit bildend angesehen wird.
5 S. auch Mohr b] S. 207ff.
6 Heusler, Andreas: Die altgermanische Dichtung^. Potsdam 1941. S. 187.
Vorwort VII
daß die Heroische Elegie keine isolierte Schöpfung (Fremdstofflieder) innerhalb
des Isländischen darstellt, sondern dort selbst verankert ist.
Wenn Mohr bei seinen Untersuchungen die Bezeichnungen "elegienmäßig", "Ele
gienbereich" usw. in einem sehr weiten Sinn verwendet und z.B. das Leiden ent
sprechend der Darstellung in der Folkevise einbezieht, so behandle ich diesen
Bereich und seinen Wortschatz getrennt; elegienmäßig (im Sinne Mohrs) sind für
mich z.B. Begriffe wie gullbóca, rekia borda (Stickereimotiv) usw.
Daß hier, abgesehen von Dronkes Kommentar zu Atlaqviða, Atlamál, Guðrúnar-
hvQt und Hamðismál, möglicherweise zum Erstaunen mancher, öfter auf den
Kommentar von Gering verwiesen wird, so deshalb, weil bei ihm, aufgrund einer
langen Auseinandersetzung mit diesen Liedern, wertvolles Material vorliegt, trotz
seiner heute inakzeptablen konstruktiven Textgestaltung. Gering selbst verweist in
seinem Kommentar bereits auf die Folkevise, was von Mohr auch hervorgehoben
wurde. Gleichfalls enthält der noch ältere Kommentar von Detter-Heinzel Wert
volles. Durch die Heranziehung dieser Arbeiten wird klar, daß innerhalb der
Forschung eine gewisse Kontinuität besteht, was mir sehr wertvoll erscheint.
Skaldenzitate sind mit Jönssons B-Text wiedergegeben, ausgenommen dort, wo
er sich zu weit von der Überlieferung entfernt. In solchen Fällen und manchmal
auch sonst wird der Text aus den entsprechenden Sagas, die auch eine Inter
pretation liefern, herangezogen. (Der A-Text ist trotzdem, wie bereits diese Wahl
zeigt, keine unbekannte Größe.)
Meine Arbeit ist eine Auseinandersetzung mit der "alten" Fremdstoffliederthese
Mohrs; damit kommen unvermeidlicherweise Rekonstruktionsformen wie
Brynhildlied, Altere Not usw. ins Spiel. Diese sind in der Forschung umstritten,
und erst neulich wurden sie bei der Besprechung eines Buches von Andersson7 8,
der mit ihnen gewissermaßen wie mit absoluten Größen arbeitet, einer vehementen
o
Kritik unterzogen , und zwar mit Verweis auf die oral-poetry-Theorie, die freilich
auch selbst umstritten ist und z.B. von Haug (s. unten) abgelehnt wird. Rekon
struktionen können suspekt erscheinen. Dennoch fragt es sich, wie weit man mit
der oral-poetry-Theorie tatsächlich kommt. Bei der serbokroatischen Heldenlied
dichtung, deren Darstellung durch Parry und Lord9 sowie Braun10 allein eine
authentische Darlegung des mündlichen Vortrags erlaubt (nicht aber die darauf
aufbauenden Arbeiten), wird mit Improvisation gearbeitet; der Sänger verwendet
Schablonen, die ihm für alle erdenkbaren Möglichkeiten zur Verfügung stehen.
7 Andersson, Theodore M.: A Preface to the Nibelungenlied. Stanford 1987.
8 Heinzle, Joachim, ZfdPh 109, 1990, S. 120-123.
9 S. z.B. Lord, A.B.: The Singer of Tales. Cambridge/Mass. 1960.
10 M. Braun: Das serbokroatische Heldenlied. Opera slavica. Bd.l. Göttingen 1961. (Braun stützt
sich auf anderes, früher gesammeltes Material.)
VIII Vorwort
Braun spricht nach weiterer Untersuchung dieser Heldenepik von gebundener
Improvisation (auch wenn im einzelnen Fall Neuschöpfung, Abänderung möglich
ist). Bei diesen Liedern besteht auch Gruppenbildung anhand bestimmter Themen.
Wie Braun ausführt, sind persönliche Daten die Kennzeichnung eines Einzelliedes,
nämlich die Person des Haupthelden, der räumliche und zeitliche Rahmen.
Losgelöst von diesen Daten ist die Handlung eines Liedes, wie z.B. die "Heirat
des Königssohnes Marko" etwas Allgemeines, Unbestimmtes, ohne persönliche
Prägung. Nach Braun gibt es praktisch nur Nachdichtung ("Nachlieder"
sozusagen), die auf irgendein Vorbild zurückgehen, das kaum eruierbar ist.
Beliebte Liedinhalte werden immer wieder neu gestaltet. Braun nennt als Beispiel
die Brautentführung. Damit kommt es zu der bereits erwähnten Gruppenbildung,
wobei ein entsprechendes Handlungsschema benutzt und mit den entsprechenden
Schablonen gestaltet wird. Der Improvisator ist damit ein sehr versierter
"Techniker", aber kein Schöpfer. In unserem Fall bildet die deutsche Heldenlied
dichtung den Ausgangspunkt. Anhand ihrer Gestaltung — sie läßt sich erfassen mit
Hilfe früher eddischer Lieder, die auf deutsche Vorbilder zurückgehen, sowie
durch das Hildebrandslied selbst (auch das Finnsburglied mag herangezogen
werden) — wird erkennbar, daß es im Laufe der Zeit zu einem Bruch in der
Auffassung der Heldensage kam: Sagenfiguren, wie z.B. Brynhildr, wurden tiefge
hend umgestaltet. Erst war sie eine unerreichbare, hohe, zur Rächerin werdende
Figur. In der Þiðreks saga nun ist sie eine Gestalt von niedriger Gesinnung, von
Günther gewonnen durch Defloration durch einen anderen. Kriemhild wiederum
tötet z.B. mit einem Feuerbrand ihren schwer verwundeten Bruder Giselher.
Abstoßend ist auch die Szene mit der Erschlagung des Etzelsohnes usw. Es ist ein
grundlegender geistiger Wandel entsprechend historisch-soziologischen Gegeben
heiten, der sich in den verschiedenen Figuren der Þiðr.s. widerspiegelt,
wahrnehmbar noch im Nibelungenlied, dessen Dichter nicht immer eine
angemessene höfische Form des Stoffes erreicht. Die Gestaltung eines solchen
Wandels kann nicht einem Improvisator zugeschrieben werden, sondern sie ist das
Werk eines einzelnen Schöpfers, d.h. eines Dichters, auch wenn es um den Eintritt
in eine niedrigere Sphäre geht.
Der beschriebene Wandel — die Hauptzüge des Handlungsgerüstes sind dieselben
(abgesehen von der neuen Rächerinnenfunktion der Kriemhild) — läßt sich anhand
erhaltener Dokumente erfassen; damit muß es erlaubt sein, für einen solchen
Wandel eine gewisse Form vorauszusetzen, d.h. sich um eine Rekonstruktionsform
zu bemühen, wobei es klar ist, daß dies Versuche sind. (Im einzelnen Fall liegen
z.T. auch mehrere solcher Versuche vor.) Diese haben natürlich keine absolute