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EIN VERSUCH AN DEN GRENZEN 
DER ANTHROPOLOGIE
K.  P.  KISKER 
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DIALOGIK DER VERRUCKTHEIT 
EIN VERSUCH AN DEN GRENZEN 
DER ANTHROPOLOGIE 
I I  
MARTINUS NIJHOFF / DEN HAAG / 1970
© 1970 by Martinus Nijhoff, The Hague, Netherlands 
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ISBN-13: 978-94-010-3249-0  e-ISBN-13: 978-94-010-3248-3 
001: 10.1007/978-94-010-3248-3
a 
II se parle  lui-meme. II divague. C'est Ia fa90n 
qu'ont les hommes de s'en tirer, quand ils ont heurte 
une verite, une simplicite, un tresor ... Ils devien 
nent ce qu'ils appellent fous. lis sont soudain logi 
ques, ils n'abdiquent plus, iis n'epousent pas celIe 
qu'ils n'aiment pas, ils ont Ie raisonement des plan 
tes, des eaux, de Dieu: iis sont fous. Jean Girau 
dome Ondine.
INHALT 
Vorrede  IX 
Das Kindliche und das Wissen yom Menschen  1 
Die Verfremdung des Abwegigen in der Neuzeit und ihre arztlichen 
Exekutoren  9 
Bestimmung der psychiatrischen Erfahrung durch das, was ihr voran-
lauft  13 
Yom Vorrang des Umganges  19 
Koexistenz von Vernunft und Verrlicktheit  23 
Faktoren und Nachtgesichter  28 
Das umgangene Selbstverstandliche  33 
UnverhaltnismaBiges zwischen Verrlicktem und Nichtverrlicktem  38 
Naherung an den Dialog zwischen Gangigem und Abwegigem  44 
Die Vertagtheit als Irrsal des Gangigen und der Abweg in die Um-
nachtung  52 
Abweg und Besessenheit  69 
Die Dberfalligen als Sklaven  75 
Vergleichendes zur Freiheit der Verrlickten  82 
Die Moral der Psychiatrie: wie man mit ihr umgeht oder sie umgeht  88 
Abgott und Gemeinschaft  95 
Nachsatz  102 
Literatur  103
VORREDE 
Es ist moglich, daB dieser Versuch tiber die Verrucktheit manche Wissens 
Beflissene enttauscht und einige Fachleute des Psychosozialen befremdet. 
Diese Zeit kokettiert auf eigene Manier mit dem Verrtickten. Sie fertigt sich 
dazu passende Sensationen im absurden Theater, in der brutal genannten 
Kunst, im SchnappschuB aus Vietnam, im black humour und dem montier 
ten Schauer von happenings und posters. Aber mit dem Abstrusen, das unser 
Gesicht tragt, Alltag und Tisch zu teilen, bleibt nach wie vor ungemtitlich. 
Wer tiber das Verrtickte im Menschlichen "informiert" werden mochte, 
greife daher zu anderem, zu den gangigen Popularisierungen oder den Publi 
kationen der Wissenschaft, wenn er will, zu jenen des Verfassers. Was hier 
dargestellt wird, erfordert eine freie Hand. 
Es geht hier um eine bestimmte Dialektik des Menschlichen. An dieser 
Bewegung, die besser als Dialogik genommen wird, lassen sich zwei Rich 
tungen seiner moglichen Ver-ruckung ablesen. Was im Dialog des Mensch 
lichen in einer bestimmten Hinsicht an Satz und Gegen-Satz gesprochen 
und gelebt wird, holt dieser Versuch in Begriffe, welche von den psycho 
sozialen Wissenschaften ihrer mangelnden Prazision wegen vermieden wer 
den: gangig, wendig,  dienlich usw.  einerseits,  abwegig, tiberfallig, unbe 
rechenbar usw. andererseits. Insofem die folgenden Erfahrungen aus einem 
Feld vor oder au/3erhalb der Wissenschaften kommen, bleiben Definitionen 
rar. Systematik und Typik - diese ntitzlichen Leitseile wissenschaftlichen 
Erfahrens - sind hier nicht gefragt. Dnd aus ahnlichen Grunden wird dem 
Leser, sofem er expert ist, abverlangt, ftir manche Partien dieser Lekttire 
von seinem Spezialwissen abzusehen und an seine Stelle eine Art Kritik aus 
den nattirlichen Bestanden seines Alltags zu setzen. 
GewiB, die Frage nach der Wechselseitigkeit des Gangigen und Abwe 
gigen im Menschen, nach dem Zueinander von Vertagtem und Dmnachte 
tem in ihm, interessiert - heute - zunachst die Psychiater als die eingesetzten 
Specialisten der Alienation, und daB die hier versuchte Antwort diejenige
x  VORREDE 
eines psychiatrischen Klinikers  ist,  wird  erkennbar bleiben,  obwohl sie 
gegen den psychiatrischen Strich (auch gegen denjenigen des Autors selbst) 
geschrieben wurde. Ein Historiker, ein Theologe, ein Jurist oder besser: ein 
nachdenklicher Burger, als Schaffe oder Beirat eines Hilfsvereins fUr Nicht 
sesshafte, Gefangene oder Irre erfahren, hatte in seiner Sprache ahnliche Ge 
danken bringen kannen. Es wurde nur ein Vorzug des hier Entwickelten 
sein kannen, wenn diese Ahnlichkeit graB ware. 
Nach Kraften wird hier eine Skepsis gegen die Wissenschaften durchge 
spielt, zunachst gegen die eigene, die psychiatrische. Die Motive daftir liegen 
in der hier verhandelten Sache. Sie hat uns Technikern und Reparateuren 
des Andersseins trotz rtihmlicher Teilerfolge eine Kapitulation nach der 
anderen eingebracht: in der sozialhygienischen Praxis, im Strafvollzug, in 
der psychiatrischen Versorgung der GroBpopulationen unserer Zeit. Zum 
anderen erleichtert diese  Skepsis einen Kunstgriff:  den Zweifelsversuch 
am theoretisch und technisch GewuBten; er wird hier allerdings bedeutend 
schlichter praktiziert als das phanomenologisch vorgeschrieben ist.  Und 
schlieBlich  druckt die Skepsis  eine persanliche  Haltung  aus:  gegen die 
Lacherlichkeit einer Zeit, welche den Geist fUr die Guter, die Gute fur die 
Gewalt und die Gatter fUr  die Gesetze etablierter Wissenschaften einzu 
tauschen sich anschickt.
DAS  KINDLICHE  UND  DAS  WISSEN  YOM  MENSCHEN 
Am 15. August 1923 schrieb Edmund Husserl, der mit der Phanomeno 
logie die moderne Vivisektion des BewuBtseins philosophisch legitimiert 
hatte, in das Kreuzlinger Gastebuch des Psychiaters Ludwig Binswanger: 
"In's ersehnte Himmelreich einer wahren Psychologie werden wir nicht 
kommen, es sei denn, daB wir werden wie die Kinder ..." . 
Den Gastgeber, spateren Promotor einer phanomenologischen Dialogik 
und Psychopathologie, mogen diese prophetischen W orte in der Ahnung 
bestatigt haben, daB die bis dahin in den Wissenschaften vom Menschen 
zusammengetragene Erfahrung einer Fundierung bedlirfe. Eine "kindliche", 
"natlirliche",  "naive"  EinsteUung  soUte  die  "Sinnes-Fundamente"  des 
Menschlichen erschlieBen helfen, die in den ungeduldigen analytischen Pro 
gressionen der anthropologischen Wissenschaften libersprungen worden 
waren. 
Ludwig Binswanger, das Weltkind in der Mitte zwischen Husserl und 
Freud, erfuhr damals - Beginn der zwanziger Jahre - eine Initiation, und 
deren Frlichte kamen auf einem langen philosophisch-psychiatrischen Er 
fahrungswege, welcher am 5. Februar 1966 endete, zur Reife. Dies mit 
Husserls Eidetik einsetzende, zeitweilig an Heideggers Daseins- und Welt 
Analytik gelehnte, zuletzt wieder zu Husserls Egologie gekehrte Denken 
eines Psychiaters, der zugleich flir das Gedeihen eines international renom 
mierten Sanatoriums verantwortlich war, hat Schule gemacht und dem be 
schreibenden Erfahren der Wege und Abwege des Menschen eine neue, seit 
Beginn des 19. Jahrhunderts verlorene Naturlichkeit eingebracht. 
Wie seine beiden Initiatoren begriff Binswanger - er hat sie im Ledersessel 
seines Arbeitszimmers bald nacheinander vor sich gehabt und vermutlich 
mit derselben menschenfreundlichen Neugier befragt, mit welcher er noch 
im hochsten Alter Besucher erstaunte - das Menschliche im Rahmen "wis 
senschaftlicher" Erfahrung. Husserl hatte die Deskription des leistenden 
BewuBtseinslebens  als  eine  "strenge  Erfahrungswissenschaft" betrieben,
2  DAS KINDLICHE UND DAS WISSEN YOM MENSCHEN 
Freud unternahm die Vermessung des UnbewuBten  wie ein Experimental 
1 
physiolog, und Binswanger hat sich nur einmal-im Dialogik-Abschnitt der 
"Grundformen" - aus jedem wissenschaftlichen Schematismus, auch dem 
jenigen der Transzendentalitat, ge16st  und sein engeres psychiatrisches 
2 
Werk getreulich den Evidenz-Kriterien der "wissenschaftlichen" Klinik oder 
Philosophie tiberantwortet. 
Husserl und Freud, S6hne derselben Landschaft und Zeit, kannten ein 
ander nicht und hatten sich im Feld ihrer "Wissenschaft" wahrscheinlich 
wenig zu sagen gehabt. Zwei Systematiker in ein und demselben Gelande, 
das der gelehrte Philosoph als intelligiblen Prospekt einer phanomenolo 
gisch gereinigten Erfahrung beschreibt, wahrend der skeptische Physiolog 
tiber seine "Rander", "Horizonte" und "Kulissen" hinweg in seine von uns 
abgewandte Rtickseite dringt und diese in ahnlich ktihler Distanz kartogra 
phiert, Systematiker von Gebltit, waren sie ohne rechtes Bedtirfnis nach 
historischer oder gar dialektischer Reflexion auf die eigenen Absichten. 
Zwar plagten sie sich in ihrer Frtihzeit, jeder auf seine Weise, mit dem 
Psychologismus  und BewuBtseins-Axiom der Schul-Psychologie  herum, 
aber ihr Hauptgeschaft nimmt bemerkenswert wenig Notiz von Lehrern wie 
Brentano oder Griesinger und groBen Zeitgenossen; wo sich im Spatwerk 
beider geschichtliches Selbstverstandnis melden will (im "Krisis" -Aufsatz 
Husserls und der "Metapsychologie" Freuds), so als verhaltenes Bekenntnis 
zur "Monadengemeinschaft" oder als Skepsis gegentiber dem psychokrati 
schen Wunschtraum, die Gesellschaft in toto der "Kur" zu unterziehen. 
Mit Recht bemerkt Merleau-Ponty daB es im wesentlichen eine Lei 
3, 
stung der Phanomenologie und der Psychoanalyse sei, wenn das zwanzigste 
J ahrhundert den Begriff des Leibes entfaltet und die Trennungslinie zwi 
schen "Geist" und "K6rper" ausge16scht habe. Den Rekurs auf die sinnlich 
gelebten Basen des Menschlichen vollzog Husserl unaufdringlich in seinen 
spaten Konstitutionsanalysen, und zwar mit einer Schltissigkeit, welche die 
Argumentation Freuds, flir den dieser Schritt am Beginn seiner Theorie 
fallig wurde, tiberwog. DaB auch der reife Freud noch in der materio-ideali 
stischen Schablone befangen war und in phanomenologischen Neigungen 
spiritualistische Abtrtinnigkeit wittern muBte,  hat wiederum Binswanger 
1  SPEELMANNS hat dies am Dbergang der physiologischen zu den friihen psycho ana 
lytischen Schriften FREUDS gezeigt. 
2  Dieses AbstoBen yom transzendentalen Intersubjektivitats-Schema und der ermat 
tete Rekurs BINSWANGERS auf das Fatum des Bi-Personalen wird in R. 'fHEUNISSENS 
Werk Der Andere, einer eindringlichen Analytik der Sozialontologien seit der Jahr 
hundertwende, beschrieben. 
3  In Signes.
DAS KINDLICHE UND DAS WISSEN YOM MENSCHEN  3 
erfahren, als Freud ihm schrieb  er, Binswanger, habe sich zu weit ins obere 
4, 
Stockwerk des Menschlichen verstiegen. DaB es Weltkindern meist schwer 
gemacht wird, der Proselyten-Rolle zu entgehen, hatte er zuvor schon erlebt. 
Freud, hierin gewiB fordernder als Basedow oder Lavater, hatte ihn nach 
C.-G. lungs Abfall aufgefordert, ein schweizer psychoanalytisches Zentrum 
zu organisieren, und Binswanger hatte den Mann, der nicht nur ein Theo 
retiker seiner Erfahrungen sondern nicht minder ein Politiker seiner Theo 
rie war, entHiuschen mtissen. Ahnliche Bemtihungen Husserls urn das psy 
chiatrische Weltkind, als es sich in den dreiBiger lahren Heidegger zu 
wandte, sind nicht tiberliefert worden. 
Ohne die Ideen und Erfahrungen dieser drei K6pfe wtirde dieser Versuch 
nicht sein, die Theorie des Erkennens des Menschlichen in die Konsequenz 
einer Frage nach der adaquaten Praxis des Menschlichen, nach einer befrie 
digenden Ko-Existenz im Mitmenschlichen zu treiben. Husserl, Freud und 
Binswanger dachten und erfuhren, so sehr sie das gegenwartige Menschen 
bild revolutionierten, aus der Tradition einer Zeit, die sich angew6hnt hatte, 
das Erkennen und die es organisierende Wissenschaft flir autonom und zu 
reichend zu halten. Auf weite Strecken denkt die Gegenwart so. Man be 
gntigt sich damit, die Wissenschaften philosophisch oder theologisch zu 
zaumen, und der Scientist von heute ftihlt sich dabei wohl, sofern er nur 
kultiviert und borniert zugleich und d.h. hinlanglich wendig ist. 
Wendigkeit oder Gangigkeit - die Worte tauchen in dieser Untersuchung 
haufiger auf - meinen gemeinhin erwartetes Verhalten, hier dasjenige des 
Wissenschaftlers selbst, das u. U. in sein wissenschaftliches Verhalten tiber 
gehen und damit zu einem scientifischen Talent werden kann, entweder jene 
oekologisch-sozialen AuBensteuerungen seines wissenschaftlichen Verhal 
tens abzublenden, die ihm der Marxismus und die Wissenssoziologie seit 
einem 1 ahrhundert vorrechnen, oder diese Bedingungen in den Griff zu be 
kommen und sie mit den erlernbaren Strategien des gewiegten Instituts 
direktors zu manipulieren. In den technisch-naturalen Disziplinen der For 
schung (weitgehend also auch in der Medizin) bringt diese aus Camouflage 
und Diplomatie zusammengesttickte tIberiebens-und Erfolgs-Technik dem 
Scientisten keinen Konflikt ein. Extrascientifische Instanzen, wie die In 
dustrie-Stifter usw. erwarten und honorieren sie vielmehr, wie sich an den 
Kalkills von Forschungstiteln, Stellenplanen, Projekt-Finanzierungen, Aus 
stattungs-Programmen usw. leicht zeigen lieBe. Soweit es dabei urn Arrange 
mants von Forschungsinstitutionen und Instanzen der Mittelverteilung geht 
oder urn das allgemeinere Gleichgewicht zwischen Forschungs-Nachfrage 
4  BINSWANGER hat seinen "Weg zu FREUD" redlich dargelegt und Freuds kritischen 
Brief darin abgedruckt. Er ist zugiinglich in Der Mensch in der Psychiatrie.