Table Of ContentÜber das Buch:
Das britische Landwirtschaftsministerium ist zu dem Schluß
gekommen, daß die Dachse in Wales gefährliche Krankheits
überträger sind und daher ausgerottet werden müssen. Schnell
machen sich die Behörden ans Werk, und der einst so idylli
sche Friede der walisischen Natur wird grausam gestört. Die
Aktionen ihres Erzfeindes, des Menschen, lassen den Dachsen
in Cilgwyn keine Wahl: Sie müssen das kleine Tal, das sie
seit Hunderten von Jahren bewohnen, verlassen und sich auf
die Suche nach einem neuen, sicheren Domizil machen. Viele
Schwierigkeiten sind zu bewältigen, bis sie den langen, be
schwerlichen Weg in eine neue Heimat antreten können…
»Ein mit großer Liebe und Sachkenntnis geschriebener Ro
man, der ein anrührendes und atmosphärisch dichtes Bild der
vom Untergang bedrohten wunderschönen Fauna und Flora in
den walisischen Tälern zeichnet.« (Goslarsche Zeitung)
Der Autor:
Aeron Clement, gebürtiger Waliser, begann erst zu schreiben,
als ihn eine Herzkrankheit zur vorzeitigen Aufgabe seiner
Stellung im öffentlichen Dienst zwang. Ein engagierter Natur
schützer, der in zahlreichen Organisationen tätig war und
seine Freizeit damit zubrachte, das Leben der Dachse in freier
Wildbahn zu studieren, außerdem züchtete er mit einigem
Erfolg dänische Doggen. Aeron Clement verstarb 1989 an den
Folgen eines Herzanfalls.
Aeron Clement
Der Zug der Dachse
Roman
Ullstein
ein Ullstein Buch
Nr. 23070
im Verlag Ullstein GmbH,
Frankfurt/M – Berlin
Titel der Originalausgabe:
The Cold Moons
Aus dem Englischen von
Hedda Pänke
Ungekürzte Ausgabe
Mit Illustrationen von Jill Clement
Umschlagentwurf:
Theodor Bayer-Eynck
Illustration: Marion Brandes
Alle Rechte vorbehalten
© 1987 by Aeron Clement
Übersetzung © 1991 by Verlag
Ullstein GmbH, Frankfurt/M – Berlin
Printed in Germany 1993
Druck und Verarbeitung:
Ebner Ulm
ISBN 3 548 23070 9
August 1993 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier
mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff
Für Jill
in Liebe
l
Die Abendluft war schwer vom Duft des neu sprießenden
Laubs, der die Bewohner von Yellow Copse in erwar
tungsvoller Freude erschauern ließ. Die Kreaturen des
bewaldeten Tales seufzten dankbar auf, daß die Zeit der
kalten Monde endlich vorüber war; frohlockend stellten
sie fest, daß ihre Möglichkeiten fast grenzenlos waren,
daß alles wieder neu begann.
Ein Paar Dachse war weit früher als üblich, in den
letzten Augenblicken der Dämmerung aus seinem Bau
aufgetaucht. Der blaßgelben Sonne blieb noch etwas Zeit,
bis sie hinter dem berggesäumten Horizont verschwinden
würde. Der Tag war für die Jahreszeit ungewöhnlich
warm gewesen, und er hatte der Natur den nötigen An
stoß gegeben, sich von ihrem Winterschlaf zu erheben.
Schon bald erlagen die Dachse dem berückenden Zauber
des wiedererwachenden Lebens und setzten sich auf die
Hinterläufe, genossen die pure Freude, am Leben zu sein.
Der Rüde und die Fähe waren auf eine geschützte
Lichtung geschlendert, auf der die Luft warm und ruhig
war, wo die Knospen an Bäumen und Sträuchern an
schwollen, als wollten sie platzen, und dabei einen Duft
verströmten, der noch süßer war als der des süßen He
ckenrosenhauchs. Schon bald würde die Zeit kommen, in
der sich die schwindsüchtige Blässe, die jetzt durch die
Skelette der Bäume einfiel, in ein satteres grünes Licht
verwandelte – dann, wenn die Sonne durch transparente,
zarte junge Blätter schien.
Die Dachse sprachen kaum miteinander, während sie
die Lichtung hinter sich ließen, ein Dickicht durch
querten und auf jene ausgetretenen Pfade kamen, die sich
6
bis zu einem langsam murmelnden Bach erstreckten.
Obwohl sie diese Veränderung, die da stattfand, schon
oft erlebt hatten, waren sie doch über den magischen
Übergang verwundert. Ihre Aufmerksamkeit wurde von
ein paar Hasen angezogen, die da den abendlichen Frie
den störten. Zwei Rammler ließen ihre Muskeln spielen,
bereiteten sich auf einen Kampf vor. Sie umkreisten
einander vorsichtig, Vorteile abschätzend. Und dann,
nachdem der erste Hieb ausgeteilt war, griffen sie an.
Ihre Glieder droschen wild drauflos; jeder hoffte, den
anderen mit einem mächtigen Schlag seiner kräftigen
Hinterläufe zu treffen, der vernichtend genug war, den
Feind zur Aufgabe und zum Rückzug zu zwingen und die
unbeteiligte und gelangweilte Häsin zurückzulassen, die
an ein paar jungen, frischen Gräsern knabberte.
Die beiden Dachse liefen die Pfade entlang und ließen
die beiden verrückten Hasen bald hinter sich. Sie kamen
nahe am Bach vorbei und sahen, daß die dort wachsenden
Weiden bereits die Falter mit dem süßen Duft ihrer Kätz
chen und Knospen betörten. Als das Pärchen wieder den
Hang hinaufwanderte, auf Hecken und Bäume zu, be
wunderte es die Menge der Sträucher und Büsche, die mit
ihren Kätzchen-Quasten protzten: schwankende gelbe,
weiße oder grüne Mäuseschwänze, die beim leisesten
Windhauch erbebten, der durch Birken, Espen, Eiben
oder Haselnußsträucher tändelte. Ein kurzes Auffrischen
der Abendbrise schickte gelbe Eibenpollen durch die
Luft, und als sie das Flügelschlagen gehört hatten, dreh
ten sich die Dachse um und sahen ein paar Weidenlaub
sänger durch eine Birke schießen. Sie berührten dabei die
Kätzchen, Wolken gelber Pollen wirbelten auf und der
letzte Weidenlaubsänger tauchte mit einem goldenen
Mantel wieder auf.
Wohin die Dachse auch blickten – überall sahen sie
7
neue Beweise der schönsten Zeit des Jahres. Da waren
das gelbe Schöllkraut, der Hahnenfuß, die Schlüsselblu
men, die mit ihrer Schönheit die Leblosigkeit der rost
braunen Blätter der Blutbuche vergessen ließ, die neben
ihnen wuchs. Da waren Kuckucksnelken, die blauen und
weißen Immergrün, blaue und weiße Veilchen und der
gelbe Huflattich mit seinen purpurfarbenen Sprossen.
Aber inmitten von soviel Schönheit nahm sie doch ein
Strauch ganz besonders gefangen – die Schlehe. Gestern
war sie noch dunkel und karg gewesen, aber heute abend
hatte sie sich mit Hunderten von schneeflockigen Federn
herausgeputzt. Obwohl sie jetzt noch keine Blätter trug,
würden die doch schon bald erscheinen, um die Zitronen
falter und Harlekinmotten mit ihrer Hauptnahrung zu
versorgen. Im Moment war die Schlehe das unübertroffe
ne Juwel des Waldtals. Die Dachse waren von ihrer
Schönheit berauscht, die einen flüchtigen Augenblick
lang noch dadurch gesteigert würde, daß ein prächtig
bunter Eichelhäher im Sturzflug vor ihr heruntergeschos
sen kam.
Es gab viele gefiederte Bewohner im Yellow Copse.
Die Vögel würden zwar bald zum Schlafen in ihre ver
steckten Schlupfwinkel zurückkehren, aber bis die Sonne
verschwand, verliehen sie ihrem Wohlgefühl vollen
Ausdruck und beschäftigten sich mit dem Nestbau. Die
Zaunkönige, Rotkehlchen, Goldammern, Hänflinge und
Buchfinken flogen mit Zweigen und Blättern im Schnabel
emsig hin und her, um ihren Behausungen den letzten
Schliff zu geben, denn bald würden die Weibchen Eier
legen, da die Zeit für Geburten fast gekommen war. Die
beiden Dachse begannen sich Futter zu suchen, und es
dauerte nicht lange, bis sie ihren Hunger gestillt hatten.
Höchst zufrieden kehrten sie zu ihrem Bau zurück – selig
und beglückt darüber, an einem Ort leben zu können, der
8
schlicht vollkommen war.
Seit etwa elf Jahren war der Bau Alleinbesitz von
Bamber und Dainty. Sie hatten die weiche braune Erde
unter einem Buchenhügel entdeckt, als sie kaum Jährlin
ge gewesen waren und sich gedankenlos von ihren elter
lichen Bauen entfernt und ins gemeinsame Spiel vertieft
hatten. Erst ein Jahr später hatten sie sich wiedergetrof
fen, aber weder den Hügel noch einander vergessen.
Der Bau lag ein bißchen abseits von den anderen. Sie
hatten ihn nie mit anderen Dachsen als ihren Jungen
geteilt. Und jetzt war es wieder an der Zeit, daß Dainty
unruhig wurde: Die Jungen waren fällig. Im Gegensatz zu
den meisten anderen Dachsfähen duldete Dainty Bamber
nicht nur während dieser Wochen um sich, sondern hatte
seine ständige Anwesenheit für ihr Wohlbefinden nötig,
und Bamber blühte in seiner väterlichen Verantwortung
auf.
Der Bau verfügte über vier Eingänge und war durch
etliche Ginsterbüsche und eine Gruppe von Bäumen total
verborgen, die im Lauf der Jahre an Zahl und Größe
zugenommen hatten. Die Wochenstube war knapp zwei
Meter vom Ausgang in eine Seitenwand des Zugangs
eingelassen, mit einer weichen Unterlage ausgestattet und
bereit für die Geburt der Jungen.
Daintys Unruhe nahm zu, wie stets zu dieser Zeit. Ihr
ganzer Körper begann vor Erregung zu zittern, aber
früher war sie stets durch Bambers Vaterstolz und seine
Stärke wieder beruhigt worden. Doch diesmal bemerkte
sie etwas anderes in seinem Gesicht. Sie stellte eine
eigenartige Abkehr von seiner üblichen Gemütsruhe fest,
die sie sich nicht erklären konnte. Er hob in regelmäßi
gen Abständen den Kopf und schnupperte. Vielleicht,
dachte sie, war er sich bewußt, daß vielleicht zum letzten
Mal Junge kamen, denn immerhin wurden sie langsam
9
älter.
Bamber bemühte sich nach Kräften, Dainty davon zu
überzeugen, es sei alles in Ordnung, aber seit gestern
abend hatte er so eine böse Vorahnung. Er war von ge
heimer Furcht überfallen worden, als er zum ersten Mal
den Geruch eines Menschen wahrgenommen hatte. Die
Dachsgemeinschaft, zu der er und Dainty gehörten, lebte
in einem kleinen Gehölz, das zu beiden Seiten von felsi
gen Abhängen umgeben war. Die Gegend bestand aus
einer Mischung von Baumgruppen, dichtem Unterholz
und Gestrüpp, darunter befand sich weiche Erde mit
Steinen, Schiefer und Reisig. Das Tal wurde Yellow
Copse genannt – »gelb« wegen des sonnigen Goldes, in
dem der Ginster jedes Jahr neu erblühte.
Am vergangenen Abend war Bamber noch einmal aus
gegangen, nachdem Dainty und er vom üblichen Spazier
gang zurückgekehrt waren. Dabei war er ein bißchen
weiter gestromert und auf das Gebiet seines Bruders
geraten, der wegen des weißen Flecks in Form einer Ähre
auf einem der schwarzen Gesichtsstreifen Oatear hieß.
Und Oatear hatte ihm erklärt, es sei seiner Erinnerung
nach das erste Mal, daß er sich derart unsicher fühlte,
weil das als Mensch bekannte zweibeinige Tier in Yellow
Copse aufgetaucht war. Er wisse zwar den Grund dafür
nicht, aber die Zweibeinigen hätten in der Nähe der
Eingänge zu den Bauen gegraben und die meisten der
Röhren zugeschüttet. Die Menschen wären vor drei Ta
gen zum ersten Mal aufgetaucht und seither jeden Tag
wiedergekommen. Obwohl die Dachse nachts in Ruhe
gelassen worden wären, um ungestört Nahrung suchen zu
können, wären die Menschen doch im Morgengrauen
erneut erschienen und bis zum Schwinden des Tages
lichts geblieben. Wonach suchten die Menschen? Sie
hatten viele Würmer und Käfer in den oberen Schichten
10