Table Of ContentEBERHARD VON WALDOW
DER TRADITIONSGESCHICHTLICHE HINTERGRUND
DER PROPHETISCHEN GERICHTSREDEN
EBERHARD VON WALDOW
DER TRADITIONSGESCHICHTLICHE HINTERGRUND
DER PROPHETISCHEN GERICHTSREDEN
1963
V E R L AG A L F R ED TÖPELMANN · B E R L IN
BEIHEFTE ZUR ZEITSCHRIFT FÜR DIE
ALTTESTAMENTLICHE WISSENSCHAFT
HERAUSGEGEBEN VON GEORG FOHRER
85
©
1963
by Alfred Töpelmann, Berlin 30, Genthiner Straße 13
Alle Rechte, einschl. der Herstellung
von Photokopien und Mikrofilmen, yon der Verlagshandlung vorbehalten
Printed in Germany
Satz und Druck: Walter de Gruyter & Co., Berlin 30
Archiv-Nr. 3822631
D. ADOLF WISCHMANN
dem Präsidenten des Außenamtes der EKD,
dem unermüdlichen Förderer
der theologischen Fakultät in Säo Leopoldo, Brasilien,
in Dankbarkeit gewidmet
INHALTSVERZEICHNIS
§ 1 Einführung 1
§ 2 Die prophetische Gerichtsrede und die profane Gerichtsverhandlung 4
1. Die Appellationsreden 5
2. Die Reden vor dem versammelten Gericht 6
Zu 1: Prophetische Gerichtsrede und profane Rechtsrede . . 9
Zu 2: Die Bezeichnung »Prophetische Gerichtsrede« als Sam-
melbegriff 10
§ 3 Die Rollenverteilung in den prophetischen Gerichtsreden . .. 12
§ 4 Die prophetischen Gerichtsreden und die Bundestheologie . .. 19
§ 5 Die Anklagereden im Rahmen der Bundesvorstellung 25
§ 6 Die Verteidigungsreden im Rahmen der Bundestheologie . .. 33
§ 7 Die Gerichtsreden bei Deuterojesaja 42
§1: EINFÜHRUNG
HERMANN GUNKEL war es, der wohl zum ersten Mal von der
Gattung der prophetischen Gerichtsrede gesprochen hat1. Nach den
von ihm selbst für die formgeschichtliche Arbeit aufgestellten Grund-
sätzen2 hat er sich aber nicht nur mit der Kennzeichnung bestimmter
prophetischer Einheiten als Gerichtsreden begnügt, sondern er hat
sich auch Gedanken über den sogen. »Sitz im Leben« dieser Gattung
gemacht. Nach seiner Meinung sind die prophetischen Gerichtsreden
im Grunde Scheltreden, die der Prophet nach Art einer Rede vor
Gericht eingekleidet hat. Danach wäre der »Sitz im Leben« einer
Gerichtsrede identisch mit dem einer Scheltrede, und der besondere
Redestil wäre als Entlehnung aus dem Rechtsleben zu verstehen.
Diese Position GUNKELS hat dann JOACHIM BEGRICH in seinen
Studien zu Deuterojesaja weiter ausgebaut3. Er hat den Begriff der
prophetischen Gerichtsrede etwas differenziert und mehrere Arten
unterschieden, nämlich die Appellationsreden an ein Gericht, die
eigentlichen Gerichtsreden, die ein Verfahren voraussetzen, und die
Reden des Richters. Diese Differenzierung läßt bereits erkennen, daß
auch BEGRICH die prophetischen Gerichtsreden aus dem Bereich der
profanen Gerichtsverhandlung herzuleiten versucht. Dabei zeigt seine
Untersuchung, daß er von dieser profanen Gerichtsverhandlung ganz
konkrete Vorstellungen hat. Hier wirkt sich die bedeutsame Arbeit
LUDWIG KÖHLERS über die hebräische Rechtsgemeinde aus4. So sieht
BEGRiCHin den prophetischen Gerichtsreden Nachahmungen von Reden,
wie sie im Bereich der hebräischen Rechtsgemeinde gehalten wurden.
Eine grundsätzlich andere Lösung des formgeschichtlichen
Problems der prophetischen Gerichtsrede hat ERNST WÜRTHWEIN
vorgetragen5. Bei ihm kommen die Ergebnisse der neueren Psalmen-
forschung zum Tragen, die versucht, die Psalmen vom israelitischen
1 H. GUNKEL, Die Propheten als Schriftsteller und Dichter, in HANS SCHMIDT,
Die großen Propheten, SAT 2. Abt., Bd. II, 2. Aufl. 1923, S. LXIII.
2 GUNKEL-BEGRICH, Einleitung in die Psalmen, 1933, S. 22: 1. Bestimmung des
»Sitzes im Leben«; 2. Bestimmung des Inhaltes einer Gattung; 3. Bestimmung der
Formensprache.
3 JOACHIM BEGRICH, Studien zu Deuterojesaja, BWANT 1938, S. 19ff.
4 LUDWIG KÖHLER, Die hebräische Rechtsgemeinde, Züricher Universitätsbericht
1930-1931; jetzt im Anhang von L. KÖHLER, Der hebräische Mensch, Tübingen 1953.
6 ERNST WÜRTHWEIN, Der Ursprung der prophetischen Gerichtsrede, ZThK 1962,
S. Iff.
W a 1 d o w, Traditionsgeschichtl. Hintergrund ι
2 Einführung
Kultus her zu verstehen. In seiner kultgeschichtlichen Sicht glaubt
WÜRTHWEIN bei einigen Psalmen, in denen vom Gericht Jahves die
Rede ist, eine kultische Gerichtsszene, in der Jahve als Richter auf-
tritt, als realen Hintergrund erkennen zu können6. So kommt WÜRTH-
WEIN zu der These, daß es im israelitischen Kultus eine Gerichts-
liturgie gegeben haben muß, in der ein Kultprophet im Namen
Jahves die göttlichen Anklagen vorgetragen hat. Von daher ergibt
sich für WÜRTHWEIN durchaus die Möglichkeit, daß auch die in den
Prophetenbüchern überlieferten Gerichtsreden tatsächlich im Rahmen
einer Kulthandlung vorgetragen worden sein können.
Diese Thesen haben Widerspruch erfahren durch FRANZ HESSE7·
Er bestreitet zwar nicht die kultische Herleitung dieser Gattung, aber
er erhebt Einspruch gegen die postulierte Gerichtsliturgie, in der
Jahve durch einen Kultpropheten als Ankläger Israels auftritt. Nach
HESSE soll es im israelitischen Kultus eine Stelle gegeben haben, in der
ein Heiisnabi das Gericht Jahves über die Heidenvölker verkündigt hat.
Von dieser Situation wären zwar die sogen, klassischen Propheten in
ihren Gerichtsreden ausgegangen, hätten dann aber in völlig über-
raschender Weise das Gerichtswort gegen Israel gewendet.
Die neueste Untersuchung, in der das formgeschichtliche Problem
der prophetischen Gerichtsreden ausführlicher behandelt wird, hat
HANS JOCHEN BOECKER vorgelegt8. Auf Grund einer sorgfältigen
Analyse der Redeformen im Räume der profanen Gerichtsbarkeit und
eines Vergleiches mit der Formensprache der prophetischen Gattung
kommt er zu der These, daß die Gerichtsreden bei den Propheten durch
die Übernahme der Redeformen aus der hebräischen Rechtsgemeinde
zu verstehen seien. Damit ist BOECKER wieder auf die alte Linie
eingeschwenkt, die über BEGRICH bis zu GUNKEL zurückführt9.
Diese kurze Übersicht läßt erkennen, daß sich in der Deutung der
prophetischen Gerichtsrede heute im Grunde zwei Positionen gegen-
6 Ps 9611-13 97 5-6 76 8-10 6O1-7.
7 FRANZ HESSE, Wurzelt die prophetische Gerichtsrede im israelitischen Kultus ?
ZAW 66, 1953, S. 45ff.
8 HANS JOCHEN BOECKER, Redeformen des israelitischen Rechtslebens, Disser-
tation Bonn 1959. Vgl. auch vom gleichen Verfasser, Anklagereden und Verteidigungs-
reden im Alten Testament, Evang. Theol. 1960, S. 398ff.
An dieser Stelle ist auch der Aufsatz von H. B. HUFFMON zu nennen, The Con-
venant Lawsuit in the Prophets, Journal of Biblical Literature 78, 1959, S. 285—295.
Auf diesen Aufsatz machte mich freundlicherweise Prof. D. FOHRER aufmerksam.
8 Allerdings sieht BOECKER in den Gerichtsreden nicht mehr eine Sonderform
der Scheltrede, sondern nach ihm soll die Scheltrede eine Weiterbildung der Gerichts-
reden (Anklagereden) sein; vgl. Dissertation S. 95f. •— Zur Ableitung der prophetischen
Gerichtsrede aus der profanen Rechtspraxis vgl. jetzt auch CLAUS WESTERMANN,
Grundformen prophetischer Rede, München 1960, bes. S. 143f.