Table Of ContentDirk E. Dietz
»Der Todestango«
Histoire | Band 203
Dirk E. Dietz ist Journalist, Tangotänzer und Historiker. Er beschäftigt sich seit
Jahren mit Tango-Musik und -Literatur.
Dirk E. Dietz
»Der Todestango«
Ursprung und Entstehung einer Legende
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Print-ISBN 978-3-8376-6204-7
PDF-ISBN 978-3-8394-6204-1
https://doi.org/10.14361/9783839462041
Buchreihen-ISSN: 2702-9409
Buchreihen-eISSN: 2702-9417
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Inhalt
Vorwort ...................................................................................7
Einleitung................................................................................ 9
Quellenlage..........................................................................15
Erster Teil
DieVorgeschichte ...................................................................... 25
Herbst1939:dieSowjetisierungGaliziens ........................................... 25
Sommer1941:das»UnternehmenBarbarossa« ...................................... 28
DaseigentlicheJanowska-Lager....................................................35
Entstehung.............................................................................. 45
DerTodestangonimmtGestaltan................................................... 45
DieASK:PropagandaalsAufklärung ................................................ 58
PrawdaundderSchwurgerichtssaal600 ............................................63
DerTodestangoinderNachkriegspresse ........................................... 74
Verfestigung............................................................................ 79
DieZentraleJüdischeHistorischeKommission...................................... 79
FilipFriedman.......................................................................81
LeonWells .........................................................................83
MichałM.Borwicz .................................................................. 92
DieIkonografiedesTodestangos ................................................... 95
Variation ...............................................................................115
DerTodestangoimJanowska-Lager ................................................115
RichardRokita–einGeigeralsMassenmörder...................................... 128
Tango,Märsche,VolksliederundLaPaloma..........................................144
Zweiter Teil
Verbreitung .............................................................................159
WiePlegariazumTodestangowurde ................................................159
EduardoBianco:DerKönigdesTangos ............................................ 182
Nachspiel:eineDokumentationdesRBB ...............................................215
FazitundSchluss.......................................................................217
Anhang
Zeitstrahl:Vonder»Exekutionsmelodie«zur»UnsterblichkeitderSeelen« ..........223
Abkürzungen...........................................................................229
UngedruckteQuellen....................................................................231
Online-Quellen .........................................................................233
Literatur ...............................................................................235
Vorwort
Im Januar dieses Jahres erschien in der NeuenZürcherZeitung ein Artikel über die
norwegischeGeigerinVildeFrang.AnlasswarihrKonzertinderTonhalleZürich,
bei dem das 1935 komponierte Violinkonzert von Alban Berg auf dem Programm
stand.ÜberdenzweitenSatzsagtdieGeigerin,ersei»zuersteineArtTangomit
demTod«.EineerstaunlicheInterpretation.Wiekommtdie1986geboreneGeige-
rin gerade auf diese Metapher? Diese Frage bleibt leider unbeantwortet, obwohl
der Autor seinem Beitrag die Überschrift gab: »Vilde Frang: Auf einen Tango mit
dem Tod.« Das Porträt in der NZZ unterstreicht in meinen Augen die Aktualität
derTodestango-Legende–hundertJahrenachderEntstehungeinesMusikstücks
mitdemTitelTodestango.VielleichtistesnureinZufall,dochvorgenau100Jah-
ren,imJahr1922,schufderrussischeKomponistpopulärerMusik,SamuelPokrass
(auch Pokrassa),einen Tango,den er Todes-Tango (Tango Smierci) nannte.Es ist
die früheste mir bekannte Quelle für einen Todestango im polnischen und russi-
schenSprachraumundzugleicheinerstesIndiz,warumdieLegendeinOsteuropa
ihrenAusgangspunktnahm.
Der Gegenstand dieser Studie drängt sich nicht auf. Genaugenommen bin
nicht ich auf das Thema, sondern das Thema auf mich gekommen. Seit Jahren
beschäftige ich mich mit dem Tango (als Tanz), der Musik, den verschiedenen
Orchestern,ihrerEntwicklungsowieihrenunterschiedlichenStilen.ImLaufeder
Zeit stellt man fest, dass in einschlägigen Tangokreisen bestimmte Tabus gelten,
zu denen etwa das unausgesprochene Verbot bestimmter Titel gehört, die auf
Tanzveranstaltungen nicht gespielt werden, zum Beispiel Plegaria von Eduardo
Bianco(1892–1959).Werdagegenverstößt,seieswissentlichoderausUnkenntnis,
den belehren unweigerlich Eingeweihte, was es mit diesem Tango angeblich auf
sichhat:Todestango,KZ,Lemberg,Janowska-Lagerusw.
ZwischendenerstenRecherchenunddemAbschlussdiesesBuchesliegenfast
dreiJahre,dievonderCorona-Pandemiegeprägtwaren.ArchiveundBibliotheken
waren zeitweilig geschlossen oder nur eingeschränkt zugänglich. Schwerer wog,
dass ich Forschungsreisen absagen musste,auch nach Lemberg/Lwiw,einem der
HauptschauplätzederKatastrophederJudenGaliziens.SieistdurchdenKriegdes
Putin-RegimesgegendieUkraineinnochweitereFernegerückt.
8 »DerTodestango«
Umsodankbarerbinichallen,diemichindieserZeitunterstütztundermutigt
haben,mirwertvolleHinweiseundRatschlägegabenodermichvorIrrwegenbe-
wahrten.Zu danken habe ich der Historikerin und Archivarin Andrea Hohmeyer,
die das Manuskript in einer sehr frühen Phase las. Ferner Klaus West, der mich
vorübereiltenSchlussfolgerungenwarnteundzuweiterenStudienermutigte.Be-
sonderenDankschuldeichBretWerb,MusicCuratordesUSHolocaustMemorial
MuseuminWashingtonD.C.,fürseineunermüdlicheHilfsbereitschaft.Erhatmir
vieleDokumenteunkompliziertaufelektronischemWegezugänglichgemacht,die
ichmireigentlichvorOrtansehenwollte.DasgiltauchfürPeterGohlevomBun-
desarchiv Außenstelle Ludwigsburg, der mir Kopien der mehrere hundert Seiten
umfassendenVernehmungsprotokollederLembergerASKzusandte.DieLiteratur-
wissenschaftlerinundCelan-ExpertinBarbaraWiedemanngabmirentscheidende
HinweiseüberTodestangoundTodesfuge.DankenmöchteichauchJulianeBrau-
er,die eine exzellente Kennerin musikalischer Praktiken in Konzentrationslagern
ist und eine umfangreiche Studie über MusikimKonzentrationslagerSachsenhausen
verfassthat.IhrverdankeichzweiwichtigeAufsätzevonAleksanderKulisiewicz.
VieleFreundehabendasManuskriptgegengelesenundeineFülleanAnregun-
gengegeben.ErwähnenmöchteichhiervorallemFraukeWarrikoffundChristiane
Toboll,diedieMühederKorrekturaufsichnahmen.AufprivaterEbenesteheich
in der Schuld meiner Frau Angela,die meine Arbeit mit großer Anteilnahme ver-
folgte,mirbeiRecherchenzurSeiteging,FortschritteeinererstenKritikunterzog
undmirimmerwiederMutmachte,woichglaubtenichtweiterzukommen.
Nichtalle,diedieArbeitandiesemBuchaufdieeineoderandereWeiseförder-
ten,werdenmitdenSchlussfolgerungeneinverstandensein,zudenenichkomme.
Dasistkaumzuvermeiden,erstrechtnichtangesichtseinerStudie,diemitlang-
gehegtenundseitJahrzehntentradiertenVorstellungenbrichtundsichdamitdem
konsensuellalsgesichertgeltendenWisseninSachenTodestangoverweigert.
Autoren mögen die Wirkung von Büchern begreiflicherweise überschätzen.
Dennoch würde ich mich freuen,wenn diese Studie dazu beiträgt,dass der Tan-
goPlegariabeiTanzveranstaltungenwiederaufgelegtwird–alsdaswaserist:Ein
schönerTango.
Einleitung
DerTodestango,derimZentrumdieserStudiesteht,gehörtzudenbekanntesten
undzugleichrätselhaftestenKompositionen,dieinKonzentrations-undVernich-
tungslagern der SS gespielt worden sein sollen. Obwohl bis heute umstritten ist,
obessichumeinespezielleMelodiehandelt,zukeinerZeitNotendesTodestangos
gefunden wurden und somit kein zweifelsfreier Nachweis geführt werden konn-
te,ob es ihn je gegeben und wie er geklungen hat,gilt der Todestango Vielen als
gesicherteunderwieseneTatsache.
Der Legende nach entstand der Todestango im Zwangsarbeits- und Durch-
gangslager Janowska in Lemberg, der damaligen Hauptstadt Galiziens, das nach
demÜberfalldesHitler-RegimesaufdieSowjetunionam22.Juni1941unterdeut-
scheBesatzunggeriet.DerstellvertretendeLager-Kommandant,SS-Untersturm-
führer Richard Rokita,der Musiker war und eine Lagerkapelle gründete,soll den
weithinbekanntenMusikernundHäftlingenStriksundMunddenBefehlzurKom-
positioneinesTodestangosgegebenhaben,derfortanbeiSelektionenundExeku-
tionenderInhaftiertengespieltwordensei.DasLagerexistiertenurvonJuni/Juli
1942bisNovember1943.IndieserZeitwurdenAbertausendevonJudenindemEr-
schießungsgelände unweit des Lagers,dem Sand/Piaski,ermordet oder von dem
nahe gelegenen Bahnhof Kleparów in die Vernichtungslager Bełżec, Sobibór und
Treblinkadeportiert.AlsdieSSdasJanowska-Lageram19.November1943auflöste,
wurdendieMusikerzusammenmitdenverbliebenenHäftlingenerschossen.Die
wenigen Inhaftierten, die mit dem Leben davonkamen, hatten sich zuvor durch
Fluchtgerettet.
Überlebt hat auch der Todestango, genauer seine Legende. Wie sie entstand
und wie verbürgt sie ist, blieb bis heute ungeklärt. Wer sich ein Bild vom To-
destango und dem Orchester im Janowska-Lager zu machen versucht, sei es in
der Erinnerungsliteratur oder in Studien über das Lager, stößt auf eine Vielzahl
einanderwidersprechenderDarstellungen.ZunennensindhierzuallererstdieEr-
innerungenvonLeonW.Wells,die1963unterdemTitelTheJanowskaRoadinNew
YorkundimselbenJahrunterEinSohnHiobsaufDeutscherschienen(Wells1963),
ferner Michał M. Borwicz Die Universität der Mörder (Borwicz 2014) und Tadeusz
ZadereckisBuchLwówundertheswastika(Zaderecki2018).DiehäufigeErwähnung
10 »DerTodestango«
desTodestangosindiesenundvielenanderenBüchernschiendieAnnahmeseiner
Existenz zu rechtfertigen. Doch schon auf einfachste Fragen, welches Orchester
überhauptgemeintist,bliebensieeineeindeutigeAntwortschuldig–dasOrches-
terimLembergerGhettooderdasimJanowska-Lager.Offensichtlichgabeszwei.
Nebulösbleibtauch,werdaseineoderandereOrchestergründete.Eswerdenviele
Namen genannt.Das Gleiche trifft auf den Schöpfer zu,der mal der Geiger Zyg-
munt Schatz, der Dirigent Leonid (auch Leon) Striks, der Direktor Yakub Mund
oder der Komponist Sigmund Schlechter gewesen sein soll. Ebenso verwirrend
sinddieSchilderungenüberdasEndedesOrchesters.
Zur Aufklärung haben wissenschaftliche Veröffentlichungen wenig beigetra-
gen.ImGegenteil.DasssichdieLegende1vomTodestangofestigenundeineüber-
ragende Stellung in der »konzentrationären Musik« (Guido Fackler) einnehmen
konnte,ist in erheblichem Maße ihr Werk.Bereits in einer der ersten Dokumen-
tationenzurMusikimDrittenReichvonJosephWulfausdemJahr1963kommtder
Todestangovor–bemerkenswerterweisealsdieeinzige»Komposition«auseinem
Konzentrationslager (Wulf 1963).2 In der Enzyklopädie des Holocaust, die 35 Jahre
später erschien, heißt es, dass »einige der in den Lagern komponierten musika-
lischen Werke und Bearbeitungen […] erhalten geblieben« seien. Dazu zählt sie
auch den im Janowska-Lager verfassten Todestango (Jäckel; Longerich; Schoeps
1998,S. 979).3 DerEinflussderEnzyklopädiezeigtsichunteranderemdaran,dass
1 IchsprechehierbewusstvoneinerLegendeundnichtvoneinemMythos,auchwennbeide
Begriffenichtweitauseinanderliegen.DerBegriffLegendenahmlautDudenseitdem16.
JahrhundertdieBedeutung»unbeglaubigterBericht«an,waseinegewisseSkepsiszumAus-
druckbringt.AuchdieLegendevomTodestangoistnichtbeglaubigt.WorinihreWahrheit
liegt,hoffeichzeigenzukönnen.Deshalbverbotessichauch,voneinemMythoszuspre-
chen.MythosimheutigenSprachgebrauchist»gleichbedeutendmitUnwahrheit.Mythen
sind›bloßeMythen‹«(Segal2007,S. 13).SiegeltenalsIrrlehre,fürdieeskeinewissenschaft-
licheBegründunggibt.AlsBeispielseihierKarlPoppersBuchDasElenddesHistorizismusan-
geführt,indemerdie»LehrevondergeschichtlichenNotwendigkeit«alsden»reinste[n]
Aberglaube[n]«unddenGlaubenandiebevorstehendeWeltrevolutionals»kommunistische
Mythologie«brandmarkte(Popper1971,S. 7).Wersoweitnichtgehenwill,kommtumdas
Eingeständnisnichtherum,dasses»eineumfassendeundverbindlicheDefinitionderBe-
griffe›Mythos‹und›Mythologie‹nichtgibt«(Dehli2019,S. 223).
2 InderBildlegendeheißtes:»DasOrchester,gebildetausverhaftetenMusikern,[spielt]den
›Todestango‹,zudessenRhythmusdieFolterungenundHinrichtungenvollzogenwurden«
(JosephWulf,Abbildung12imBildteilinderMittedesBucheszwischendenSeiten224und
225).
3 DiedeutscheAusgabefolgthierderamerikanischenEncyclopediaoftheHolocaust:»Someof
themusicalworksandadaptationscomposedinthecampshavesurvived.Oneoftheseisthe
DeathTango,writtenintheJANOWSKAcampandplayedthereduringtheselectionsandmass
murders«(Herv.i.O.,Gutman1990,S. 1024).