Table Of ContentBerichte des Bundesinstituts
für ostwissenschaffliche
und internationale Studien
Der sowjetische Generalstab
und der KSE-Vertrag
Frank Umbach
Die Meinungen, die in den vom BUNDESINSTITUT FÜR
OSTWISSENSCHAFTLICHE UND INTERNATIONALE STUDIEN
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INHALT
Seite
Kurzfassung I
1. Einleitung 1
2. Die Perzeption von sowjetischen Vertragsverletzungen im
Rüstungskontrollbereich 3
2.1 Die Verletzung des ABM-Vertrages 3
2.2 Westliche Vorwürfe der Verletzung des INF-Vertrages 6
3. Exkurs: Die Perzeption sowjetischer Rüstungskontroll-Vertrags
verletzungen im Lichte der Verfifikations- und Rüstungskon
trollproblematik 9
4. Die Abrüstungsphilosophie des sowjetischen Generalstabes bei
den konventionellen Waffensystemen vor dem Hintergrund der
High-Tech-Auswirkungen 12
5. Die Umsetzung der Abrüstungsphilosophie im Rahmen des KSE-Ver-
trages und die Vorwürfe der NATO an die Sowjetunion 17
5.1 Der Vorwurf hinsichtlich der Verlegung zehntausender von
Hauptwaffensystemen hinter den Ural 19
5.2 Die Unterstellung oder Rekategorisierung von Kampfflugzeu
gen der Luftwaffe zur Marine(luftwaffe) 22
5.3 Die Rekategorisierung von drei motorisierten Schützendivi
sionen zur Marine und die damit verbundene Flankenproblematik
sowie die Unterstellung von Panzern unter die Strategischen
Raketentruppen 23
5.4 Der westliche Vorwurf der drastischen Verringerung der zur
Verifikation anstehenden Verifikationsobjekte 26
6. Die Rechtfertigungsstrategie des sowjetischen Generalstabes auf
die außen- und innenpolitische Kritik 28
6.1 Die ersten Stellungnahmen zu den westlichen Vorwürfen 28
6.2 Die innenpolitische Kritik am Vorgehen der eigenen Genera
lität 32
6.3 "Das Imperium schlägt zurück" - Die Antwort des Generalsta
bes auf die Vorwürfe des Westens und der innenpolitischen
Kritik 34
6.4 Erste Ansätze des Generalstabes zur Kompromißsuche mit dem
Westen 38
7. Die vereinbarten Kompromißformeln mit der Sowjetunion. . . . . . . . . .. 41
8. Fazit 44
9. Anmerkungen. . . . .. 46
Frank Umbach
Der sowjetische Generalstab und der KSE-Vertrag
Bericht des BlOst Nr. 5/1992
Kurzfassung
Schon vor Unterzeichnung des Vertrages über die Reduzierung der
konventionellen Streitkräfte (KSE-Vertrag) hatte es in der So
wjetunion unterschiedliche Auffassungen in der Sicherheitspoli
tik gegeben. Dies betraf insbesondere die Richtung und Geschwin
digkeit des "neuen Denkens". Unter den sich im Laufe der Ver
handlungen grundlegenden politischen Veränderungen in Europa
wurde der UdSSR die Basis ihrer Rüstungskontrollbereitschaft
entzogen. Während sie sich bei Beginn der Verhandlungen als die
Führungsmacht im östlichen Lager verstand, stand sie - zumin
dest aus ihrer Sicht - bei Unterzeichnung des Vertrages im No
vember 1990 weitgehend allein da. Mit dem demokratischen Um
bruch in Osteuropa liefen die ehemaligen Verbündeten auch im
sicherheitspolitischen Bereich zum westlichen Bündnis über. Zu
gleich hatte man der NATO eine militärische Überlegenheit in
Europa über die UdSSR zugestanden. Unter diesen Rahmenbedingun
gen begann die sowjetische Generalität Zehntausende von Waffen
systemen hinter den Ural zu schaffen bzw. diese dem KSE-Vertrag
nicht unterliegenden Teilstreitkräften zu unterstellen.
Vor dem Hintergrund des Teil I - über die Rolle und den Einfluß
des sowjetischen Generalstabes auf die Sicherheits- und Rü
stungspolitik - der Fallstudie, soll in diesem Teil II einer
seits detailliert auf die westlichen Vorwürfe der KSE-Vertrags-
aushöhlungen eingegangen werden. Andererseits sollen vor allem
aber auch die Motivationen des Generalstabes berücksichtigt wer
den. Da dies auch unter Gorbatschow nicht die ersten Vertrags
verstöße im Rüstungskontrollberich waren, soll auch auf die ABM-
und INF-Vertragsverletzungen eingegangen werden. Dabei wird ei
nerseits die Verifikations- und Rüstungskontrollproblematik an
dererseits - gerade im Hinblick auf den KSE-Vertrag - die Abrü
stungsphilosophie des sowjetischen Generalstabes mitberücksich
tigt.
Die Ergebnisse des Teil II der Fallstudie lassen sich wie folgt
zusammenfassen:
1. Bei den innenpolitischen Machtverschiebungen seit Sommer
1990 in der UdSSR spielte für die Außen- und Sicherheitspo
litik vor allem der Rücktritt Schewardnadses im Dezember 1990
und die Ernennung Bessmertnychs, eines Karrierediplomaten ohne
politische Hausmacht, eine wesentliche Rolle. Damit mußte der
Einfluß des Generalstabes - zumindest indirekt - noch weiter
gestärkt werden.
- II -
2. Bereits die Verletzung des ABM-Vertrages und die im August
1991 noch nicht abgeschlossene Diskussion über eine sowjeti
sche Verletzung auch des INF-Vertrages haben gezeigt, inwieweit
der Generalstab aufgrund seiner Monopolstellung noch immer in
der Lage ist, dem "neuen Denken" in der Sicherheits- und Rü
stungspolitik sein ganz eigenes Verständnis zu verleihen. Noch
immer hat man den westlichen Rüstungskontrollansatz der "koope
rativen Rüstungskontrolle" nur rudimentär verinnerlicht.
3. Wenngleich in der westlichen Perzeption nicht immer berück
sichtigt wird, was ein Verifikationsregime leisten kann und
was nicht, so bleibt ein stringentes Verifikationsregime getreu
nach dem Motto "Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser" auch
für die Zukunft unerläßlich.
4. Vor dem Hintergrund der High-Tech-Auswirkungen bei den kon
ventionellen Waffen, wo zunehmend Qualität statt Quantität
gefragt ist, um auf einem zukünftigen Schlachtfeld siegreich
bestehen zu können, war es auch aus der Sicht des Generalstabes
(und damit nicht nur aus ökonomischen Gründen) notwendig, einer
seits langfristig mehr Qualität zur Verfügung zu haben, anderer
seits die Vorteile des Westens auf dem Gebiet durch Rüstungskon
trolle zu begrenzen sowie den zukünftigen Kriegsschauplatz aus
zudünnen. Dies stellte eine Voraussetzung für die Implementie
rung einer siegreichen Offensivstrategie dar.
5. Insofern bildete die Aufnahme der KSE-Verhandlungen durch
die Sowjetunion auch die Umsetzung der Abrüstungsphiloso
phie des Generalstabes. Die Bereitschaft dazu unterscheidet
sich grundsätzlich von den Motivationen des Westens wie auch
von denen der eigenen politischen Führung und den Radikalrefor
mern.
6. Die Aushöhlungsversuche des sowjetischen Generalstabes noch
vor der Unterzeichnung des KSE-Vertrages markierten inso
fern auch die Anpassung an die grundlegend veränderten politi
schen und militärstrategischen Rahmenbedingungen in Europa. Wäh
rend in Zentraleuropa das Sicherheitsdilemma aufgrund der erheb
lichen konventionellen Asymmetrien für die NATO weitgehend ge
löst ist, so hat die Flankenproblematik für die entsprechenden
NATO-Länder eher zugenommen. Doch resultiert dies weniger aus
dem KSE-Vertrag selber, als aus der Auflösung der kommunisti
schen Herrschaftsverhältnisse in Osteuropa.
7. Der sowjetische Generalstab sah sich nicht nur harscher
westlicher Kritik ausgesetzt, sondern wurde auch von den
ehemaligen Verbündeten sowie von Seiten der Radikalreformer im
eigenen Land vehement kritisiert. Das Vorgehen der Generalität
selbst wurde damit begründet, daß dieses die Umsetzung der
neuen sicherheitspolitischen Leitlinien in der neuen Militärdok
trin sowie der einseitigen Abrüstungsmaßnahmen sei und daher
nichts mit dem KSE-Vertrag zu tun habe. Auf der anderen Seite
- Ill -
wurde die westliche Seite dahingehend erinnert, daß sie nicht
zur Einbeziehung von Marinestreitkräften bereit war. Dementspre
chend könne die Unterstellung von Waffensystemen unter die Mari
ne auch keine Vertragsverletzung darstellen. Überdies wäre die
westliche Seite über alles informiert worden.
8. Bei den Motivationen des Generalstabes wird vor allem deut
lich, wie ausschlaggebend die jeweiligen Bedrohungsvorstel
lungen sind. Aus der Sicht des Generalstabes sieht sich die
UdSSR nun allein einer auch zahlenmäßig überlegenen NATO gegen
über (sofern man nicht die Waffensysteme im asiatischen Teil
mitberücksichtigt).
9. Die Ablehnung stringenter Verifikationsregime geht im sowje
tischen Generalstab sogar so weit, daß man für die Zukunft
lieber unilaterale Abrüstungsschritte beschließen möchte, als
daß man im Sinne der beiderseitigen Vertrauensbildung der NATO
zugesteht, bei den sowjetischen Streitkräften "wie in einem of
fenen Buch zu lesen".
10. Während man sich mit dem Verlust des außenpolitischen "Impe
riums" - wenn auch widerwillig - abgefunden hatte, so gilt
es aus Sicht des Generalstabes wie auch anderer konservativer
Kreise zumindest das "innere Imperium" um jeden Preis aufrecht
zuerhalten . Denn nur so konnte zumindest der Schein einer mit
den USA gleichberechtigten Weltmacht gewahrt bleiben.
11. Die vereinbarten Kompromißformeln sind trotz einiger unbe
friedigender Detaillösungen vor allem aus übergeordneten
politischen Gründen zu begrüßen. Einzelne kritikwürdige Punkte
der Vereinbarung sind vorerst durch die erneute Veränderung der
innenpolitischen Machtverhältnisse nach Scheitern des Putsches
- diesmal zugunsten der Radikalreformer - vorerst weitgehend
obsolet geworden. Eine Ausnahme angesichts der innenpolitischen
Instabilitäten bilden jedoch die Zehntausende konventioneller
Waffensysteme, die innerhalb der im KSE-Vertrag vorgesehenen 40
Monate nicht vernichtet werden können.
1
1. Einleitung
Schon vor Unterzeichnung des Vertrages über die Reduzierung konventioneller
Streitkräfte (KSE-Vertrag) hatte es in der Sowjetunion unterschiedliche Auf
fassungen in der Sicherheitspolitik (so über Richtung und Geschwindigkeit des
"neuen Denkens") gegeben. Doch hatte auch die Generalität die Notwendigkeit eines
umfassenden Reformkurses eingesehen. Problematisch waren allerdings von Anfang
an die Versuche Gorbatschows und der Reformer, den Einfluß des Generalstabes auf
die Sicherheitspolitik zu verringern. Dabei spielten die zivilen Wissenschaftler der
Akademie der Wissenschaften eine wesentliche Rolle, drangen sie doch in einen
Bereich ein. der bisher die unumstrittene Domäne des sowjetischen Verteidigungs
ministeriums und namentlich des Generalstabes war. Im Verständnis der Militärs
ging auch die Politik der Glasnost weit über das hinaus, was die Generalität selbst
als notwendig ansah.
Die Einbußen an Sozialprestige und politischer Bedeutung sowie vor allem der
Sprengstoff der nationalen und ethnischen Probleme 1 mußte so für die militärische
Führung zwangsläufig zu weiteren Animositäten gegenüber den Reformern führen -
eine Tendenz, die sich bei Konflikten in den einzelnen Politikfeldern noch
verstärken mußte. Denn sowohl die Ressourcenumlenkung, wie der Feindbildabbau
und die Rüstungskontrollkonzeption Gorbatschows und Schewardnadses stießen so
bei großen Teilen der militärischen Führung auf Widerstand. 2 Die Generalität war
zwar nicht grundsätzlich gegen Rüstungskontrolle eingestellt. Sie schien sie sogar
zu fordern. Wenn zu weitgehende Abrüstungsmaßnahmen jedoch zu ungewünschten
Strukturänderungen in den Streitkräften und zu einem nicht beabsichtigten Wandel
der Militärstrategie führen mußten, so können konservative Militärs und jene, deren
Karrieren unter einer großen Truppenverminderung zu leiden haben, damit kaum
einverstanden sein.
Obendrein schien man sich durch die aufreibenden Debatten mit den unnach
giebigen Institutschiki in einer polemischen Schlammschlacht zu verlieren, während
das Außenministerium in der Art eines " window of opportunity" immer stärker
seinen eigenen Stempel bei der Ausrichtung der sowjetischen Sicherheitsheitspolitik
aufdrückte. Die daraufhin erhobene Klage, daß Schewardnadse alle Errungenschaften
des Sozialismus auf das Spiel setze und den Ausverkauf der sowjetischen Inte
ressen betreibe3 und sogar durch die drohende Abspaltung zahlreicher Republiken
die staatliche Substanz der Sowjetunion verloren zu gehen drohte, mußte aus der
Sicht der Konservativen und weiter Teile des Militärs das Faß endgültig zum
Überlaufen bringen.
Bereits die Militärdoktrin- und Strategie-Debatte bis zum Herbst 1989 und den
politischen Umwälzungen in Osteuropa hatten gezeigt, wie schwer es der Generalität,
fällt, das "neue Denken" im Militärbereich nicht nur deklaratorisch nach außen hin
zu vertreten, sondern dieses auch nach innen inhaltlich "zu leben". Zugleich zeigt
.u.
sich heute, daß die Institutschiki sich mit ihren Vorstellungen bisher nicht
durchgesetzt haben.
Während noch im Frühjahr 1990 ein zeitweiser Macht- und Einflußverlust des
Generalstabes und der Generalität konstatiert werden konnte 4, so hat sich dies
seit dem Spätsommer 1990 wieder verändert. Nun schien Gorbatschow eine Allianz
mit den führenden militärischen Eilten und anderer konservativer Kreise einzu
gehen, um den Bestand der UdSSR zu bewahren. 3
Mit dem Rücktritt Schewardnadses im Dezember 1990 fiel es der Generalität
(wenngleich auch dort Unterschiede auszumachen sind wie zwischen Moissejew und
Jasow6) offenbar leichter, ihre Vorstellungen nach "pragmatischen Einschätzungen
der Verteidigungsnotwendigkeiten"1 in der Außen- und Sicherheitspolitik und
namentlich polemisierend gegen eine "verantwortungslose Abrüstung" 0 wieder nach
haltiger zu artikulieren und auf die außen- und sicherheitspolitische Entschei
dungsbildung entsprechend Einfluß zu nehmen. So konnte Generalstabschef Moisse
jew bei seiner Washington-Reise mit dem neuen Außenminister Bessmertnych im Juli
dieses Jahres - zur Behebung der letzten strittigen Punkte beim Abschluß des
START-Vertrages - verkünden, daß es zwischen dem Außen- und Verteidigungsmi
nisterium keine Meinungsverschiedenheiten gäbe und fügte wörtlich hinzu: "Ich
habe die Haltung Aleksandr Aieksandrowitsch Bessmertnychs als Bürger und Patriot
bewundert, der die nationalen Interessen unseres Staates verfocht'9 (Hervorhebung
d.Veri'.). Bessmertnych seinerseits versicherte bei der Behandlung der "phantastisch
komplizierten Materie":
"Eine Quelle unseres Erfolges bei der geleisteten Arbeit war, daß wir ein starkes Team mitge
bracht haben. In der Delegation waren Vertreter der wichtigsten Behörden, die unsere Militär
politik und die strategische Linie im militärischen Aufbau und in der Militärindustrie be
stimmen. Es sind Experten der höchsten Klasse. So wurden hier viele Lösungen vor Ort im Rah
men der Vollmachten gefunden, die uns der Präsident gab. Dadurch wurde es uns ermöglicht,
innerhalb von drei lagen Probleme zu lösen, die schon monatelang oder vielleicht jahrelang
auf dem Verhandlungstisch lagen."10
Erleichtert wird der Umstand der verstärkten Einflußnahme auch dadurch, daß
der neue sowjetische Außenminister Bessmertnych ein Karrierediplomat ist und in
der Partei über keine politische Hausmacht verfügt wie zuvor Schewardnadse. Als
solcher muß man ihn innenpolitisch eher als politisches "Leichtgewicht' ansehen.
Entsprechend kann er außenpolitisch keine eigenen Akzente setzen wie sein charis
matischer Vorgänger.
Angesichts der zahlreichen Ähnlichkeiten zu den Demobilisierungen unter
Chruschtschow ist es auch kein Wunder, daß die Militärs sich immer wieder
mahnend auf diese Zeit bezogen und erklärten, daß die damaligen Schritte übereilt
gewesen waren, das Prestige des Soldatenberufs in den Augen der Jugend sank und
der eigenen Verteidigungsfähigkeit einen "kolossalen Schlag" versetzten. 11
Bei der Analyse der Aushöhlungsversuche des sowjetischen Generalstabes des
unterzeichneten, aber noch nicht ratifizierten KSE-Vertrages sollen neben der