Table Of ContentDas Buch
Als Sophie, Kindermädchen bei einer reichen Pariser Familie, morgens den 6-
jährigen Léo wecken will, ist der Junge tot. Sophie flieht Hals über Kopf aus der
Wohnung, denn sie weiß, dass man sie für die Mörderin halten wird. Sie war
alleine mit dem Kleinen, die Tür war verschlossen, Léo wurde mit einem ihrer
Schnürsenkel erdrosselt. Und das Schlimme ist: Sie weiß selbst nicht, ob sie
wirklich unschuldig ist. Denn Sophie ist krank: Sie vergisst Verabredungen,
verlegt Gegenstände, leidet unter Depressionen und temporären Blackouts. Ihre
Krankheit hat ihre Ehe zerrüttet, sie ihren ursprünglichen Job gekostet, und ihr
Mann hat nach einem schweren Unfall, der ihn gelähmt zurückließ, Selbstmord
begangen. Da sie ihre Unschuld nicht wird beweisen können, bleibt ihr nur die
Flucht.
Sophie wird zur meistgesuchten Frau Frankreichs und zur Meisterin der
Tarnung. Bis sie eines Tages auf eine erschreckende Wahrheit stößt …
Der Autor
Pierre Lemaitre lebt in Paris und arbeitet als Drehbuchautor für Kino-und
Fernsehfilme. Der kalte Hauch der Angst ist sein zweiter Roman.
Pierre Lemaitre
Der kalte Hauch der Angst
Thriller
Aus dem Französischen
von Gaby Wurster
Ullstein
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www.ullstein-taschenbuch.de
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Deutsche Erstausgabe im Ullstein Taschenbuch 1. Auflage Dezember 2009
4. Auflage 2010
© für die deutsche Ausgabe Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2009
© Calmann-Lévy, 2009
Titel der französischen Originalausgabe: Robe de marié (Calmann-Lévy, Paris) Umschlaggestaltung:
HildenDesign, München Titelabbildung: © Artwork HildenDesign unter Verwendung eines Motivs von ©
Raisa Kanareva / shutterstock Satz: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin Gesetzt aus der Garamond
eBook-Konvertierung: CPI – Ebner & Spiegel, Ulm Printed in Germany
ISBN 978-3-548-92115-0
Für Pascaline natürlich, ohne die nichts geht …
SOPHIE
Sie sitzt keuchend auf dem Boden, den Rücken an die Wand gelehnt, die Beine
ausgestreckt.
Sie drückt Léo an sich, reglos, sein Kopf liegt auf ihren Schenkeln. Mit einer
Hand streicht sie ihm übers Haar, mit der anderen versucht sie sich über die
Augen zu wischen, aber ihre Bewegungen sind fahrig. Sie weint. Ihre Schluchzer
werden immer wieder zu Schreien, zu einem Heulen, das ihr aus dem Bauch in die
Kehle steigt. Ihr Kopf rollt von einer Seite auf die andere. Zeitweise ist ihr Leid so
groß, dass sie mit dem Hinterkopf gegen die Wand schlägt. Der Schmerz
verschafft ihr ein wenig Trost, doch kurz darauf bricht in ihr erneut alles
zusammen. Léo ist sehr brav, er bewegt sich nicht. Sie schaut ihn an, drückt
seinen Kopf an ihren Bauch und weint. Niemand kann sich vorstellen, wie
unglücklich sie ist.
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W M ist sie auch heute verweint und mit einem Kloß
IE AN VIELEN ANDEREN ORGEN
im Hals aufgewacht, dabei hat sie gar keinen besonderen Grund, sich Sorgen zu
machen. Seit Langem sind Tränen in ihrem Leben nichts Außergewöhnliches
mehr; seit sie verrückt ist, weint sie jede Nacht. Würde sie morgens nicht ihre
feuchten Wangen spüren, könnte sie fast auf den Gedanken kommen, dass ihre
Nacht friedlich war und ihr Schlaf tief. Das tränenüberströmte Gesicht und der
zugeschnürte Hals am Morgen sind ihr hingegen vertraut.
Seit wann? Seit Vincents Unfall? Seit seinem Tod? Seit dem ersten Tod, oder
reicht es noch länger zurück?
Sie stützt sich auf den Ellbogen. Trocknet sich die Augen mit dem Bettlaken,
tastet nach den Zigaretten und findet sie nicht, und da wird ihr jäh bewusst, wo
sie ist. Plötzlich sieht sie wieder alles vor sich, die Ereignisse des vorigen Abends,
was passiert ist … Augenblicklich erinnert sie sich, dass sie weggehen, dieses
Haus verlassen muss. Aufstehen und gehen, aber sie bleibt wie ans Bett genagelt
liegen, unfähig zur kleinsten Bewegung. Erschöpft.
Als es ihr dann endlich gelingt, sich aus dem Bett zu quälen und ins
Wohnzimmer zu gehen, sitzt Madame Gervais auf der Couch und beugt sich
gelassen über ihre Tastatur.
»Wie geht’s? Ausgeschlafen?«
»Ja. Ausgeschlafen.«
»Sie sehen erschöpft aus.«
»Das ist bei mir morgens normal.«
Madame Gervais speichert ihre Datei und klappt den Laptop zu.
»Léo schläft noch«, sagt sie zu Sophie und geht entschlossen zur Garderobe.
»Ich habe mich nicht getraut, nach ihm zu sehen, wollte ihn nicht wecken. Da er
heute keine Schule hat, soll er lieber ausschlafen und Ihnen ein bisschen Ruhe