Table Of ContentDavid	Berger
Der	heilige	Schein
Als	schwuler	Theologe	in	der	katholischen
Kirche
Impressum
	
	
	
List	Taschenbuch
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Ungekürzte	Ausgabe	im	List	Taschenbuch	List
ist	ein	Verlag	der	Ullstein	Buchverlage	GmbH,
Berlin.
1	Auflage	April	2012
©	Ullstein	Buchverlage	GmbH,	Berlin
2010/Ullstein	Verlag	Umschlaggestaltung:
bürosüd	Werbeagentur,	München
Titelabbildung:	©	Hans	Scherhaufer
Satz:	Pinkuin	Satz	und	Datentechnik	Gesetzt
aus	der	Sabon	Papier:	Munken	Print	von
Arctic	Paper	Munkedals	AB,	Schweden	Druck
und	Bindearbeiten:	CPI	-	Clausen	&	Bosse,
Leck	Printed	in	Germany
ISBN	978-3-548-61098-6
Das	Buch
Bis	zu	seinem	Outing	Anfang	2010	hatte	David	Berger	eng	mit	dem
einflussreichen	erzkatholischen	Lager	zu	tun,	das	den	Anspruch	der
Kirche	als	höchste	moralische	Instanz	verteidigt,	tatsächlich	aber	von
Doppelmoral	geprägt	ist.	In	seinem	sehr	persönlichen	Buch	deckt	Berger
das	perfide	Unterdrückungssystem	scheinheiliger	Kirchenoberer	auf.	Er
erzählt,	warum	so	viele	Schwule	sich	von	einer	Institution	angezogen
fühlen,	die	nach	außen	Homosexualität	verteufelt,	und	warum	Gewalt
und	Missbrauch	in	der	Kirche	so	viel	Platz	einnehmen	konnten.	Ein
Insiderbericht,	der	aufrüttelt.
Der	Autor
David	Berger,	1968	geboren,	ist	katholischer	Theologe.	2003
wurde	er	zum	korrespondierenden	Professor	der	Päpstlichen
Akademie	(Vatikan)	ernannt	und	war	Herausgeber	von
Theologisches,	der	führenden	Zeitschrift	konservativer
Katholiken.	Die	Erzdiözese	Köln	reagierte	auf	seine	Enthüllungen
2011	mit	dem	Entzug	seiner	Lehrerlaubnis	als	Religionslehrer.
Vorwort
Es	gibt	Augenblicke	im	Leben,	da	wird	einem	schlagartig
bewusst,	dass	etwas	ganz	entschieden	falsch	läuft.	Augenblicke,
in	denen	zur	Gewissheit	wird,	dass	man	einen	Schlussstrich
ziehen	muss.	Einen	solchen	Moment	erlebte	ich	in	den	ersten
Frühlingstagen	des	Jahres	2010.	Auf	einmal	war	mir	klar:	Ich
darf	nicht	länger	schweigen.	Die	heuchlerische,	bigotte	Haltung
der	katholischen	Kirche	zur	Homosexualität	brachte	mich	dazu,
mich	öffentlich	zu	outen	und	gleichzeitig	als	Herausgeber	und
Chefredakteur	der	konservativen	Zeitschrift	Theologisches
zurückzutreten.
Bewusst	wählte	ich	für	meinen	Schritt	an	die	Öffentlichkeit
die	Frankfurter	Rundschau,	da	diese	das	Thema	Homosexualität
und	katholische	Kirche	in	den	Vormonaten	immer	wieder	in
seriöser	Weise	aufgegriffen	hatte.	Am	23.	April	2010	erschien
dort	ein	Gastbeitrag	von	mir,	in	dem	ich	mein	Outing	mit	einer
weitergehenden	Kritik	an	einigen	zentralen	Denk-und
Handlungsmustern	der	katholischen	Kirche	verband.	Wie	es	zu
diesem	folgenschweren	Schritt	kam	und	welche	Reaktionen	er
innerhalb	der	Kirche	auslöste,	möchte	ich	in	diesem	Buch	näher
erläutern.
Der	letzte	Anstoß,	der	mich	veranlasste,	meine	sexuelle
Veranlagung	öffentlich	zu	machen,	war	ein	Auftritt	des
katholischen	Bischofs	Franz-Josef	Overbeck	aus	Essen	in	der
ARD-Sendung	Anne	Will	am	11.	April	2010.
Am	Nachmittag	dieses	Sonntags	hatte	ich	noch	lange	mit
einem	befreundeten	homosexuellen	Priester	telefoniert.	Der
Seelsorger	aus	dem	Rheinland	ist	aufgrund	seiner	Veranlagung,
besser	gesagt,	aufgrund	des	scheinheiligen	Umgangs	damit
innerhalb	der	Priesterschaft	seiner	Diözese,	schwer	depressiv
geworden.	Ich	tröstete	ihn	unter	anderem	mit	dem	seit	1992
gültigen	»Katechismus	der	Katholischen	Kirche«,	der	gegenüber
homosexuellen	Menschen	Respekt	und	Taktgefühl	fordert	und
jede	ungerechte	Zurücksetzung	verurteilt.	Immerhin	finden	sich
diese	doch	sehr	tolerant	klingenden	Vorgaben	in	dem	unter
Vorsitz	des	damaligen	Kardinals	Joseph	Ratzinger
Vorsitz	des	damaligen	Kardinals	Joseph	Ratzinger
ausgearbeiteten	Werk,	das	als	das	aktuellste,	alle	Katholiken
bindende	Handbuch	der	katholischen	Glaubens-und	Sittenlehre
zu	gelten	hat.
Wenige	Stunden	später	dann	das	einem	Millionenpublikum
vorgetragene	Verdikt	des	Essener	Bischofs,	dass	homosexuell
zu	sein	eine	Sünde,	weil	wider	die	Natur	sei.	Von	Respekt	und
Taktgefühl	sowie	Verzicht	auf	ungerechte	Diskriminierung	war
hier	nichts	mehr	zu	spüren.
Nicht	nur	das	Studiopublikum	reagierte	mit	Fassungslosigkeit.
Für	mich	und	für	viele	Menschen,	mit	denen	ich	seither	über
Overbecks	Fernsehauftritt	gesprochen	habe,	geht	es	dabei	um
mehr	als	den	einmaligen	Auftritt	eines	ehrgeizigen	Bischofs	aus
einer	weltkirchlich	verhältnismäßig	bedeutungslosen	Diözese.
Zum	Zeitpunkt	seiner	Aussage,	die	selbst	bei	CSU-Politikern
für	Unverständnis	sorgte,	stand	die	katholische	Kirche	bereits
seit	Monaten	wegen	zahlreicher	Missbrauchsfälle	in	der	Kritik.
Was	die	betroffenen	Ortskirchen	in	Österreich,	den	Vereinigten
Staaten	und	Irland	an	den	Rand	des	moralischen	und
finanziellen	Ruins	getrieben	hatte,	trat	nun	auch	in	Deutschland
ans	helle	Licht	der	Öffentlichkeit.	Schnell	wurde	klar,	dass	die	im
Januar	2010	durch	einen	mutigen	Brief	von	Pater	Klaus	Mertes,
Rektor	des	Berliner	Canisius-Kollegs	der	Jesuiten,	bekannt
gemachten	Vorfälle	systematischen	sexuellen	Missbrauchs	von
Schülern	seiner	Schule	nur	die	Spitze	des	Eisbergs	waren.	Die
von	der	Bild-Zeitung	regelmäßig	aktualisierte	»Karte	der
Schande«,	eine	Deutschlandkarte,	auf	der	von	katholischen
Priestern	verübte	Missbrauchsfälle	eingetragen	wurden,	bekam
im	Eiltempo	immer	mehr	rote	Punkte.	Ermutigt	durch	das
öffentliche	Klima,	das	von	Mitleid	mit	den	Missbrauchten
geprägt	war,	meldeten	sich	auch	erste	Opfer	eines	deutschen
Diözesanbischofs,	des	Augsburger	Oberhirten	Walter	Mixa,	zu
Wort.	Der	Fall	dieses	Bischofs,	dem	man	Misshandlung	von
Schutzbefohlenen	und	Veruntreuung	von	Geldern	vorwarf	und
der	erst	hartnäckig	leugnete,	um	dann	scheibchenweise	seine
Verfehlungen	einzugestehen,	ist	geradezu	exemplarisch	für	eine
Kirchenkrise,	die	viele	bereits	als	die	»schwerste	Krise	der
[1]
katholischen	Kirche	seit	der	Reformation« 	bezeichnen.
Bei	genauerem	Hinsehen	geht	es	aber	nicht	nur	um	die
Verbrechen,	deren	sich	Geistliche	schuldig	gemacht	haben.
Denn	die	»tiefe	Erschütterung	und	Scham«,	von	der	Pater
Mertes	in	seinem	Brief	an	ehemalige	Schülerinnen	und	Schüler
des	Canisius-Kollegs	sprach,	und	die	Offenheit	und	Ehrlichkeit,
mit	der	er	sich	an	die	Aufklärung	der	Fälle	in	seinem	Orden
wagte,	sind	keineswegs	typisch	für	den	Umgang	der	Kirche	mit
diesem	Problem.	Im	Gegenteil,	traditionell	ist	das	Hauptanliegen
der	zuständigen	kirchlichen	Stellen	in	solchen	Fällen	eher
Vertuschung	und	Geheimniskrämerei.
Die	Glaubenskongregation,	der	der	heutige	Papst	seit	1981
Vorstand,	ist	hier	mit	schlechtem	Beispiel	vorangegangen.	In
diesem	Zusammenhang	sei	nur	auf	den	im	März	2010	bekannt
gewordenen	Fall	des	amerikanischen	Priesters	Lawrence	C.
Murphy	hingewiesen,	der	über	Jahrzehnte	an	die	zweihundert
gehörlose	Jungen	sexuell	missbrauchte.	Obgleich	der	zuständige
Ortsbischof	den	Fall	wie	vorgeschrieben	der
Glaubenskongregation	meldete	und	um	Konsequenzen	bat,
blieb	eine	Antwort	lange	Zeit	aus,	bis	der	unter	Ratzinger
arbeitende	Kardinal	Bertone	den	Fall,	ohne	dass	irgendetwas	im
Sinne	einer	Entschädigung	der	Opfer	passiert	wäre,	kurz	vor	der
[2]
Jahrtausendwende	kurzerhand	für	abgeschlossen	erklärte.
Dieses	Beispiel	zeigt	sehr	anschaulich,	dass	die	katholische
Kirche	dazu	neigt,	unangenehme	Dinge	möglichst	unter	den
Teppich	zu	kehren.
Das	Motiv	dafür	ist	allerdings	in	den	seltensten	Fällen	Scham
über	das	Vorgefallene	oder	falsche	Barmherzigkeit	gegenüber
den	Tätern,	wie	manch	einer	glauben	mag.	Im	Mittelpunkt
stehen	vielmehr	die	Aufrechterhaltung	von	Macht	und,	damit
eng	verbunden,	die	Wahrung	des	heiligen	Scheins,	der	frommen
Fassade	der	Kirche.	Im	Licht	dieses	heiligen	Scheins	bringen
Kirchenfürsten	katholische	Positionen	und	sich	selbst	als	das
moralische	Gewissen	der	Menschheit	ins	politische	Gespräch
ein.	Den	Hintergrund	dafür	liefert	das	Dogma	von	der	Heiligkeit
der	Kirche,	das	jeder	Katholik	im	Glaubensbekenntnis	betend
immer	wieder	zu	bekennen	verpflichtet	ist.	Jenen,	die	es
wagten,	an	diesem	Dogma	von	der	unvergänglichen	Heiligkeit
der	katholischen	Kirche	zu	zweifeln,	unterstellte	der	heutige
Papst	in	seiner	Einführung	in	das	Christentum	schon	1968
[3]
»versteckten	Stolz«	und	»gallige	Bitterkeit«.
Die	alten	Verhaltensmuster	wirken	bis	zur	Stunde	fort:
Nachdem	das	Leid	der	Opfer	und	die	zahllosen	Verbrechen	nicht
mehr	zu	leugnen	sind,	verlegt	man	sich	auf	Schuldzuweisungen
an	Sündenböcke,	die	der	Kirche	ohnehin	schon	lange	suspekt
sind.	In	diesem	Zusammenhang	greift	man	auch	auf	sehr
unheilige	Mittel	zurück,	um	den	schönen	Schein	einer
katholischen	Märchenwelt	wider	alle	Vernunft	irgendwie	am
Leben	zu	erhalten.
So	stellte	der	zweithöchste	Mann	der	Kirche	neben	dem
Papst,	Kardinalstaatssekretär	Tarcisio	Bertone,	im	April	2010	bei
einer	Pressekonferenz	in	Chile	einen	ursächlichen
Zusammenhang	zwischen	Homosexualität	und	den
Missbrauchsfällen	in	der	katholischen	Kirche	her.	Demnach	sind
nicht	die	eigentlichen	Täter,	nicht	die	Priester,	nicht	die	rigide
Sexualmoral	der	katholischen	Kirche	mit	ihrem	krampfhaften
Festhalten	am	Zölibat	schuld	an	den	zahlreichen
Missbrauchsfällen,	nein,	schuld	sind	angeblich	die
Homosexuellen.	Bertone	behauptete,	es	sei	wissenschaftlich
erwiesen,	dass	Zölibat	und	Pädophilie	nichts	miteinander	zu	tun
hätten.	Sehr	wohl	aber	hätten	Wissenschaftler	einen
Zusammenhang	zwischen	Homosexualität	und	Pädophilie
festgestellt,	was	ihm	kürzlich	erst	bestätigt	worden	sei.	Die
Information,	um	welche	Wissenschaftler	es	sich	dabei	handelt
und	auf	welchen	Studien	ihre	Theorien	basieren,	blieb	der	hohe
Kirchenfürst	seinen	lateinamerikanischen	Zuhörern	jedoch
[4]
schuldig.
Nach	Bertones	chilenischem	Gastspiel	dauerte	es	nicht	lange,
bis	der	in	seiner	brasilianischen	Heimat	sehr	populäre	Erzbischof
Dadeus	Grings	für	die	Missbrauchsfälle	junge	Schwule
verantwortlich	machte,	die	die	ansonsten	integren	Priester
schlichtweg	verführt	hätten,	und	forderte	daher,	Homosexualität
generell	wieder	unter	Strafe	zu	stellen.	Und	Simone	Scatizzi,	der
Bischof	der	italienischen	Diözese	Pistoia	in	der	Toskana,	erklärte
seinen	Landsleuten	angesichts	des	Missbrauchsskandals,	wo	die
Wurzel	aller	schwerwiegenden	Probleme	unserer	Tage	liege:	Die
schändliche	Legalisierung	der	himmelschreienden	Todsünde	der
Homosexualität	sei	der	ursächliche	Vorläufer	für	»die	Zulassung
von	Pädophilie,	Mafia-Organisationen,	Terrorismus	und
[5]
Präventivkrieg«. 	Um	der	Diskriminierung	von	Homosexuellen
noch	die	von	Frauen	hinzuzufügen,	mutmaßte	er	weiter,
Homosexualität	sei	verantwortlich	für	die	fortschreitende
katastrophale	»Verweiblichung	der	Gesellschaft«.	Über
sexuellen	Missbrauch	dürfe	man	sich	da	wahrlich	nicht	wundern.
So	werden	auf	perfide	Weise	Täter	zu	Opfern	und	Opfer	zu
Tätern	umgedeutet.	Ähnliche	Äußerungen	kommen	auch	von
anderen	hochrangigen	Kirchenvertretern,	die
bezeichnenderweise	alle	dem	konservativen	bis	reaktionären
Katholizismus	zuzurechnen	sind.	Zunächst	rufen	solche
Aussagen	vielerorts	Fassungslosigkeit	hervor,	doch	bei	näherer
Betrachtung	sind	sie	innerhalb	des	Systems	der	konservativ-
katholischen	Kirche	weitaus	folgerichtiger	und	konsequenter,	als
man	gemeinhin	annimmt.
Was	all	die	hochrangigen	Kleriker	allerdings	übersehen	bzw.
übersehen	wollen,	ist	die	andere	Seite	der	Medaille:	Die	Zahl
homosexuell	veranlagter	Priester	in	der	katholischen	Kirche	wird
von	Experten	auf	zwanzig	bis	vierzig	Prozent	geschätzt,	ist
damit	also	etwa	viermal	so	hoch	wie	der	Anteil	Homosexueller
an	der	Gesamtbevölkerung.	Der	bekannte	Psychotherapeut
Wunibald	Müller,	der	sich	seit	vielen	Jahren	intensiv	mit	dem
Thema	beschäftigt,	schätzt	den	Anteil	homosexuell	veranlagter
Priester	gar	auf	fünfzig	Prozent.	Und	der	Jesuit	Hermann	Kügler
bezeichnete	die	katholische	Kirche	in	einem	Interview	mit	dem
Spiegel	vom	25.	November	2005	als	die	weltweit	»größte
transnationale	Schwulenorganisation«.	Man	fragt	sich	natürlich,
wieso	eine	Institution,	der	eine	so	große	Zahl	homosexuell
Veranlagter	angehört,	eine	derart	krasse	Homophobie	an	den
Tag	legt.	Ebenso	verwunderlich	erscheint	es	auf	den	ersten
Blick,	dass	diese	homosexuellenfeindliche	Organisation	so	viele
Homosexuelle	geradezu	magisch	anzieht.	Darauf	gehe	ich