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Begründet von Hermann Paul f
Fortgeführt von Georg Baesecke f
Herausgegeben von Hugo Kuhn
Nr. 56
Der guote Gèrhart
von
Rudolf von Ems
herausgegeben
von
John A. Asher
MAX NIEMEYER VERLAG / TÜBINGEN 1962
Alle Rechte,
auch daB der "Übersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten
Copyright by Max Niemeyer Verlag, Tübingen 1962
Printed in Germany
Satz und Druck: H. Laupp jr, Tübingen
FRIEDEICH RANKE
zum Zeichen des Gedenkens
Einleitung
Der Text des guoten Gerhart hat eine sonderbare Geschichte.
Der erste und bisher einzige Herausgeber, Moriz Haupt, hat die
Handschriften niemals selbst gesehen1. Er konnte nur Abschrif-
ten benutzen, die von anderen gemacht waren, und deren Fehler-
haftigkeit seinem Text und Variantenapparat großen Schaden
brachte. Den späteren textkritischen und reimtechnischen Unter-
suchungen nicht nur Haupts, sondern auch Lachmanns, Pfeiffers,
Wackernagels, Junks, Zwierzinas, Edward Schröders, Leitz-
manns, Bormanns und Ingeborg Dangls wurde, soweit man
sehen kann, ausschließlich der gedruckte Text Haupts zu-
grunde gelegt. Nur Anton Schönbach scheint die Fehlerhaftig-
keit von Haupts Abschriften erkannt zu haben: «Es ist wunder-
lich, feststellen zu müssen, daß doch eine ziemliche zahl nicht
ganz unwichtiger versehen und Verlesungen in der von Haupt
gebrauchten abschrift übrig geblieben sind: auch wo in den les-
arten ausdrücklich angegeben wird, es stehe oder fehle etwas
bestimmt in der hs., verhält es sich oft nicht so. Von der schuld
wird Haupt selbst wol freigesprochen werden müssen, dessen
abschriften und collationen in der regel zuverlässig waren... man
wird den umstand verantwortlich machen, dass Haupt bei der
textgestaltung nur die copie vor sich hatte, das original jedoch
niemals zu gesicht bekam.»2 Schönbach stellt 256 Abweichungen
zusammen, die eine Kollation der Handschrift A mit dem Texte
und dem Variantenapparat Haupts ergab. Aber auch Schön-
bach hat nur die eine Handschrift durchgesehen und diese nur
flüchtig: Seine Liste enthält nur eine Handvoll der nötigen
1 s. Vorrede. S. v. 2 Beitr. 33. S. 187.
VIII
Korrekturen und er macht selber Fehler (z.B. 3012 chintlichem
statt kintlichem; 3552 inunbekant statt irunbekant)3.
Die obengenannten Textkritiker sind die einzigen, die den
Text untersucht haben. Die von Edward Schröder schon 190.34
als nahe bevorstehend angekündigte neue Auflage von Haupts
Edition ist niemals erschienen. Die Auswahl Theodor Kochs'
enthält nur einen Auszug aus dem Text Haupts. Das 1959
erschienene Werk Karl Tobers ist eine freie Übertragung von
Haupts Text ohne Bezugnahme auf die Handschriften.
Den vorliegenden Text habe ich, ohne Rücksicht auf Haupts
Edition, aus Mikrofilmen und Photokopien der beiden Hand-
schriften ausgearbeitet. Ich hielt es aber für nötig, wesentliche
Abweichungen von Haupts Text in meinem Variantenapparat zu
verzeichnen. Die kleineren orthographischen Fehler Haupts und
die große Anzahl von ungenauen oder ganz falschen Lesarten in
seinem Variantenapparat (zirka ein Viertel des ganzen) konnten
unberücksichtigt bleiben. Trotz dieser Mängel sei betont, daß
Haupts Edition unter den Umständen, unter denen er arbeitete,
als eine große wissenschaftliche Leistung angesehen werden muß:
Selten in der Geschichte der Textkritik ist es möglich gewesen,
aus so schlechten Abschriften einen so lesbaren und vielfach so
genauen Text auszuarbeiten. Manchmal hat Haupt sogar falsche
Lesarten verworfen, die in seinen Abschriften standen, und ist
durch Konjekturalkritik auf die richtige Form gekommen, die,
wie er nicht wußte, tatsächlich in den Handschriften stand.
Die Handschriften
A = Österreichische Nationalbibliothek, Wiener Codex 2699
[Nov. 420], Pergament, 14. Jh. (1. Hälfte), gotische Buch-
schrift. Die Handschrift enthält 48 Blätter: den guoten
Gerhart ohne Überschrift von Blatt 1 bis Blatt 46 das
Gedicht Nikolaus Schlegels mit der Überschrift ditz ist von
gotz lichnam von Blatt 46 d bis Blatt 48°. Hinter Blatt 19
3 a.a.O. S. 189. 4 Beitr. 29. S. 197.
IX
(V. 2639) und 33 (V. 4827) fehlen je 2 Blätter, die innersten
der Lagen.
B = Österreichische Nationalbibliothek, Wiener Codex 2793
[Philol. 44], Papier, 15. Jh. (um 1475), gotische Eilschrift6.
A bietet im großen und ganzen eine höchst zuverlässige Über-
lieferung und bildet die Grundlage meines Textes wie auch des
Hauptschen. A ist sorgfältig geschrieben und auch mehr als ein-
mal korrigiert worden. Sie ist aber keineswegs frei von Verderb-
nissen ; manchmal weist sie sogar Wort- und Zeilen Verluste auf.
In vereinzelten Fällen zeigt sich der Schreiber von A sogar fähig,
Sinnloses zu schreiben (z.B. 6613).
Von B hatte Haupt, nicht ohne Grund, eine sehr schlechte
Meinung: «ich kenne keine handschrift deren fehler so oft bis zu
völligem unsinne gehen... dennoch verdiente sie zuweilen den
Vorzug und an manchen stellen mag sie dem echten näher stehen
als mein text, aber ohne noth durfte ich von der älteren Über-
lieferung nicht abweichen und einem Schreiber vertrauen der
allzu oft sich mit sinnlosem begnügt oder unverstandenes will-
kürlich ändert. »6 B ist aber für die Textgestaltung von viel
größerem Wert, als Haupt auf Grund seiner Abschrift ahnen
konnte: B ergibt immer wieder wertvolle Verbesserungen des
Textes hinsichtlich des Sinnes, der Metrik und sogar der Ortho-
graphie.
Mein Text ist um 8 Verse kürzer als der Haupts. Die 2 Verse
nach 1673 sind nicht in B, entsprechen dem Sprachgebrauch des
Dichters nicht und enthalten nur eine sinnlose Wiederholung.
Die zwei Verse in B nach 4884 verraten sich durch ihren schlech-
ten grammatischen und metrischen Bau, durch ihre matte
5 Eine genauere Beschreibung der Handschriften findet sich in dem
Katalog Hermann Menhardts, Verzeichnis der altdeutschen literarischen
Handschriften der Österreichischen Nationalbibliothek, Bd. 1. Berlin
1960. S. 134-135, 302-303.
• Vorrede. S. vii.
X
Wiederholung und Sinnlosigkeit als Einschiebsel des Schreibers7.
Die 4 Verse in B nach 5288 sind auch als unecht zu erkennen,
nicht nur weil der Wirt, der Gerhard e wol erkannt sein sollte,
ihm vollkommen unbekannt sein mußte, sondern vor allem weil
die Annahme dieser Verse mich aus reimtechnischen Gründen
gezwungen hätte (wie auch Haupt gezwungen wurde), einen viel
sinnvolleren Vers in A zu tilgen: Do waz mir vil harte gach (5289).
Die «Lücke » nach V. 2849
Haupt war der Meinung, daß die erste Lücke der älteren
Handschrift, wo zwei Blätter fehlen, durch die entsprechenden
270 Verse in B nicht vollständig ergänzt wurde: «zwischen 2641
und 2912 [2639 und 2910 nach meiner Numerierung] müssen in
A, wenn der regel nach auf jeder spalte 35 verse standen, 280
verse fehlen; in B sind also ungefähr zehn nach 2851 [2849]
übersprungen.»8 Nach 2849 läßt also Haupt eine halbe Seite
leer, um die Stelle, wo seiner Meinung nach etwas fehlen soll, zu
bezeichnen. Die späteren Forscher (auch Menhardt9) stimmen
mit Haupt darin überein.
Es besteht aber meiner Meinung nach kein Zweifel, daß die
betreffenden 270 Verse in B die Lücke in A vollständig ergänzen.
Auf vielen Spalten in A stehen weniger als 35 Verse, z.B. auf
Blatt 19 (gerade vor der betreffenden Lücke in A): 33, 33, 34, 34;
auf Blatt 20: 34, 30, 29, 32; auf Blatt 21: 32, 32, 32, 32; auf
Blatt 22: 32, 32, 35, 35; auf Blatt 23: 35, 35, 35, 35; usw. Es ist
also so gut wie sicher, daß die Verse auf den zwei verlorenen
Blättern in A den 270 Versen in B zahlenmäßig entsprechen.
Die Verse vor und nach der «Lücke» im Text hängen auch
inhaltlich vollkommen zusammen und sind ohne weiteres ver-
ständlich. Die scharfe und ziemlich grobe Frage von Gerhards
Frau: wie ist si danne worden dir?> (2848) erhält von Gerhard
eine ebenso scharfe Antwort:
' s. auch Haupt-Pfeiffer, ZfdA. 3. S. 277.
8 Vorrede. S. vü. 9 a.a.O. S. 302.