Table Of ContentMONOGRAPHIEN AUS OEM GESAMTGEBIETE DER NEUROLOGIE UNO
PSYCHIATRIE
HERAUSGEGEBEN VON
M. MOLLER - BERN . H. SPATZ - GIESSEN . P. VOGEL - HEIDELBERG
HEFT 89
DER ERLEBNISWANDEL
DES SCHIZOPHRENEN
EIN PSYCHOPATHOLOGISCHER BEITRAG ZUR
PSYCHONOMIE SCHIZOPHRENER GRUNDSITUATIONEN
VON
K.P.KISKER
DR. MED. DR. PHIL., PRIVATDOZENT FOR PSYCHIAfRIE UND NEUROLOGIE
AN DER UNIVERSITliT HEIDELBERG
MIT EINEM GELEITWORT VON
PROF. W. v. BAEYER
HEIDELBERG
9 ABBILDUNGEN
S P R IN G E R -V E R LA G
BERLIN GOTTINGEN· HEIDELBERG
1960
Aus der Psychiatrischen und Neurologischen Klinik der Universitat Heidelberg
Direktor: Prof. Dr. W. v. BAEYER
Alle Rechte. insbesondere das der Dbersetzung in fremde Sprachen.
vorbehalten
Ohne ausdriickliche Genehmigung des VerI ages ist es auch nicht gestattet.
dieses Buch oder Teile daraus auf photomechanischem Wege
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ISBN-13: 978-3-540-02583-2 e-ISBN-13: 978-3-642-86128-4
DOl: 10.1007/978-3-642-86128-4
© by Springer-Verlag OHG. Berlin· G6ttingen· Heidelberg 1960
Die Wiedergabe von Gebrauehsnamen. Handelsnamen. Warenbezeiehnungen nsw. in diesem Werk
bereehtigt anch ohne besondere Kennzeiehnung nieht zn der Annahme. dal.l solehe Namen im Sinn
der Warenzeiehen· nnd Markenschntz-Gesetzgebung als frei zu betraehten waren und daher von
jedermann benutzt werden diirften
Zum Geleit
In dem repriisentativen Werk, das die psychiatrischen Kenntnisse unserer Zeit
zusammenfaBt und dessen klinischer Band vor kurzem erschienen ist ("Psychiatrie
der Gegenwart", Springer, Berlin-Gottingen-Heidelberg 1960) sind der Klinik der
Schizophrenic nicht mehr als 27 Seiten gewidmet, weil, wie es in den einleitenden
Bemerkungen des Herausgebers heiBt, bei den endogenen Psyehosen, Neurosen
und abnormen Erlebnisreaktionen in den letzten drei ,Jahrzehnten die Therapie
im Vordergrund gestanden, die klinische Symptomatologie nur wenig gefordert
worden, das Interesse an Erseheillungsweise, Abgrenzullg uud Verlaufsform ab
geflaut sei. Das ist riehtig, soUte aber nieht den Ansehein erweeken, als sei auf dem
Gebiet del' endogenen Psyehosen, insbesondere dem del' Schizophrenic seit Jahr
zehnten "niehts los". Schon lange ist ja hie l' ein Ringen im Gang urn die reehte
Einordnung del' Schizophrenic in das Gesamt unserer Kenntnisse von den seelisehen
Storungen. Es trifft Zll, daB wir von der Atiologie und Pathogenese del' Krankheit
oder Gruppe von Krankheiten, die wir Schizophrenic nennen, heute lmum rnehr
wissen als zur Zeit des von K. WILMANNS redigierten Sammelbamles im Bumke
sehen Handbuch (1932). Aueh ist es mehr als fraglieh, ob seitdem iiberzeugende
Umgruppierungen des klinisehen Materials in diagnostiseher un(l prognostiseher
Hinsieht gelungen sind. Die Bewegung, die seither ~ in Deutschland seit wieder
die Tore zur vVelt offen stehen ~ das Sehizophrenieproblem nicht ruhen liiBt,
spielt sieh auf einer anderen Ebene abo Es geht urn das \Vesen des Sehizophren
seins selbst, soweit hie l' Liberhaupt von einer Einheit gesproehen werden kann,
und um seine Beziehungen zur Welt, insbesondere zur mensehliehen Mitwelt. llier
ist nieht der Ort, naher auf die Bewegung del' modernen Schizophrenielehre ein
zugehen und ihre Haupttrager aufzufiihren. Es waren hier VOl' aHem Studien zu
nennen, die auf Erfahrungen des psyehotherapeutisehen Umganges beruhen, ferner
sozialpathologisc}l(' Arbciten, besondcrs aus dem anglo-amerikanischen Raum, und
nicht zulctzt die Gestaltanalyse des \Vahns, die K. CONRAD vorlegte. Lm den
Ausgangspunkt del' gemeinten Be\Yegung zu kcn!lzeichnen, ist PI' yieHrieht z\\'eck
miiBig, yon einer bckannten, ja beriihmt gpwordenen begrifflichen l~ntcrsrhcidung
auszugehen, die LUDWIG BIXS\YAXGER yor mehr aIs 30 .Jahren ,-ornahm: leh
meine die Unterseheidung von ,.Lehensfunktion'· und ,.innerc]' Lebensgeschichtc'·.
L. BINSWAXGER exemplifizierte damals nieht ausdrucklich auf elm; schizophrene
Seelenleben. Abel' es ist kein Mi13bmueh seiner Begriffe, wenn man sie auf das
Sehizophrensein und seine jeweilige Verlaufsform anwendet. lVfan kann niimlieh
sinn\"oUerweise aueh beim SehizophreneJl yon gestorten Lebensfnnktiollen wie
aueh yon einer unterbrochenen, abirrenden, abgewandelten inneren Lebensge
sehichte sprechen, wobei geratic tinrch diese dop}lelte BetraehtungS\H>isl' pine Klnft
aufgerissen odcr bessel' aufgrzeigt ,,'in[, (lie !litht iibel die Schizophrcllieforscl1nng
IV Zum Geleit
um die dreiBiger Jahre dieses Jahrhunderts charakterisiert. L. BINSWANGER
sagt dem Sinne nach, daB das menschliche Leben und somit auch das psycho
logisch-psychopathologisch ErfaBbare ganz unbezweifelbar in jedem Moment die
AuBerung eines Organismus ist, Funktion morphologischer Substrate, vor allem
zentralnervoser Substrate. BIN SWANGER sagt andererseits!nit Recht, daB mensch
liches Leben Geschichte hat, Geschichte ist, als "die Einheit innerlich sich fordern
der Momente eines Sinnes" (HUSSERL), quellend aus dem Quellpunkt der geistigen
Person und - wie wir heute erganzen wiirden - aus den Zufliissen des sich
wandelnden sozietaren BewuBtseins, aus der Geistigkeit oder Ungeistigkeit der
"Anderen". Funktion eincs Organismus ist nicht nur sein !nit morphologischen,
physikalischen und chemischen Mitteln feststellbares Tatigsein, sondern auch das
Seelische als Erlebnis und lmpuls. BINSWANGER kann deshalb auch so etwas wie
Depression oder Zwang als gestorte Lebensfunktion ansprechen. Wieviel Scharf
sinn wurde gerade in der Schizophrenielehre darauf verwandt, die Erlebniswelt des
Geisteskranken auf ihren Bestand an gestorten Lebensfunktionen hin zu sichten!
lch denke vor allem an die Wahnforschung und die Miihe, die es gekostet hat, aus
den "Wahn" genannten Abirrungen der inneren Lebensgeschichte dieser oder
jener .i ndividuellen Person begrifflich scharf bestimmbare Merkmale herauszu
sondern, die als wirkliche Funktionen eines krankhaften Geschehens geIten konnen,
d. h. iiberindividuelle Allgemeinheit und einen ungeschichtlichen, von intentionalen
Gehalten moglichst unabhangigen Charakter besitzen (vgl. die auf HAGEN, NEIS
SER, JASPERS, GRUHLE, K. SCHNEIDERzurUckgehendeAnalyse der Wahnfunktion,
speziell der Wahnwahrnehmung). Der Sammelband "Schizophrenie" des Bumke
schen Handbuchs ist ein Zeugnis davon, daB diese und ahnliche Bemiihungen nicht
erfolglos waren und einen respektablen Beitrag zur Ordnung eines urspriinglich
hochst uniibersichtlichen Erfahrungsmaterials lieferten - ein Triumph der
formal-deskriptiven Methode, die nach der Art und Weise eines sorgfaltigen
Praparierens vorgeht, unter Weglassung alles Unwesentlichen, Zufalligen und In
dividuellen die gleichbleibenden Strukturen freilegt, von einander sondert. Nur
insofern wurden diese Bemiihungen nicht belohnt, als es nicht gelang, das korper
liche, prinzipiell zu fordernde Parallel- oder Grundgeschehen zu den gestorten
psychischen Lebensfunktionen aufzufinden. Sie blieben in dem doppelten Sinne
im Stadium des "Praparates" stecken, als sie einerseits auf die isolierenden Schnitte
des Praparators - das unvermeidliche Heraustrennen aus einem Ganzen - nicht
verzichten konnten und durften, andererseits iiber die Vorbereitunfl einer Patho
physiologie oder Anato!nie der Psychosen nicht hinauskamen. Andere Schizo
phrenieforscher gingen andere Wege. Sie verzichteten auf oder vernachlassigten
die formale Deskription, strebten von vornherein nicht zu funktionalen, vom
Erlebnisflehalt unabhangigen Einheiten oder Elementen, sondern studierten die
innere Lebensgeschichte der Schizophrenen als verstehbares Sinngefiige, so wie es
etwa pradigmatisch L. GAUPP an der Wahngeschichte des Hauptlehrers Wagner
getan hatte. Nicht immer waren diese Autoren "klassische" Kliniker, sondern eher
Forscher, die von der Psychoanalyse, jener am weitesten vorgetriebenen Methodik
der Erforschung der inneren Lebensgeschichte, entscheidend beeinfluBt wurden.
Bedeutsam, aber kritischen Einwanden ausgesetzt, war schlieBlich der Versuch,
den der Vater des Schizophreniebegriffs E. BLEULER zwecks theoretischer Durch
dringung seiner klinischen Schau unternahm: durch die Unterscheidung von
v
Zum Geleit
funktionalen "Primarsymptomen" und lebensgeschichtlich bestimmten "Sekun
darsymptomen" dem einen wie dem anderen Aspekt - aber in fragwiirdiger Ab
grenzung, Beziehung und Rangordnung - zu seinem Recht zu verhelfen.
Wir stehen heute vor der Aufgabe, die psychopathologische Vielgestaltigkeit
des Schizophrenseins und seine Beziige zur Welt und Mitwelt neu zu sichten und
zu bedenken, wirklichkeitsgerechter, weniger belastet von Theorien, die von dem
einen Gegenstand je nach Betrachtungsweise zwei unvereinbare Seiten sehen lassen
oder die widerspriichlichen Gesichtspunkte nachtraglich zu einem nur scheinbaren
Ganzen zusammenfiigen. Ohne einen theoretischen Vorentwurf geht es nicht ab;
es gibt keine rein an den Sachen abgelesene Beschreibung, zumal nicht im fremd
artigen, unvertrauten Bereich der Psychosen. Es handelt sich nur darum, eine der
Sache angemessene Weise des Sichtens und Zusammenfiigens zu entwerfen, die
das verborgene Wesen der Sache und ihre verdeckten Beziige in Annaherung und
nach Moglichkeit freilegt. In Sachen Schizophrenie heiBt das, einen theoretischen
Vorentwurf zu konzipieren, der nicht sofort am Gegensatz von innerer Lebens
funktion und Lebensgeschichte scheitert, sondern fiir das berechtigte Interesse
beider Annaherungsweisen offen ist und das von beiden Betrachtungsweisen Ge
meinte in einer Einheit sehen oder wenigstens vermuten laBt.
Wenn K. P. KISKER in dem vorliegenden Werk den topologisch-dynamischen
Ansatz des verstorbenen Psychologen KURT LEWIN beniitzt, um daran die un
vertraute, ratselhafte Andersartigkeit des Schizophrenseins, die so merkwiirdig
veranderte Ichlichkeit, (erlebte) Leiblichkeit, Welthaftigkeit schizophrener Men
schen klar zu machen, daruber hinaus aber mittels der topologisch-dynamischen
Methode zu Ergebnissen gelangt, die auf die Verlaufsregeln uno oie Beziehungen
der Psychose zur Um- und Mitwelt ein Licht werfen, so ist damit ein Standpunkt
eingenommen, von dem aus 8owohl das funktionale Geschehen am beseelten Orga
nismus wie das lebensgeschichtliche Werden der Person sichtbar wird. Die binnen
seelischen Grenzverschiebungen, das Durchlassigwerden der Ichgrenzen nach
auBen hin, auch zum Leib hin, das Wirken seelischer Krafte, die vom Ich aus
strahlen oder es in Beschlag legen - dieses und ahnliches sind naturlich keine
buchstablichen Realitaten, sondern Zeichen, Schemata, konstruktive Entwiirfe,
die phiinomenologische, verhaItens- und ausdrucksmiiBige Befunde und Erfah
rungen an und mit den Kranken wiedergeben wollen. Aber das topologisch
dynamische Schema ist so gewiihlt, daB es auf der einen Seite das Funktionieren
des Ich-Zentrums in den Beziehungen zum eigenen Leib und zur Welt darstellt,
auf der anderen Seite anthropologische und biographische Sinnmomente in sich
aufnehmen kann, z. B. das Sinnmoment der Schuld, das in seiner Verkniipfung
mit Freiheit und Verantwortung jeder objektivierenden Darstellung zu entgehen
scheint. Dieses Schema wird vom Autor denn auch so gehandhabt, daB seine
"Aufladung" mit anthropologischen Gehalten sichtbar wird. W 0 anthropologische
Sinnmomente ins Spiel treten, ist immer auch die Geschichte des Menschen und
seiner WeIt angesprochen. Die dem Werk eingefiigten Fallschilderungen und Inter
pretationen behandeln stets die Geschichte eines Individuums, das Personliche und
Allerpersonlichste in tiefdringender Einfiihlung, wie sie nur aus einer sehr inten
siven Beschiiftigung mit dem einzelnen Kranken erwachsen kann. Doch befaBt
sich K. aus methodischen Grunden mehr mit der Erhellung der aktuellen Situa
tion und des gegenwartigen mitmenschlichen Gefiiges, was nicht besagt, daB
VI Zum Geleit
seine Methode nicht auch auf ganze Lebensverlaufe, auf das Wachsen und Werden
oder auch das Sichverformen der Personlichkeit von Kindheit an und in Beziehung
zu seiner fruhen Mitwelt Anwendung finden konnte.
1m SchluBkapitel behandelt K. die Psychotherapie der schizophrenen Psy
chosen - ein heute sehr aktuelles Gebiet psychiatrischer Tatigkeit - unter dem
Gesichtspunkt der Ordnung bzw. der Wiederherstellung gestorter binnenseelischer
und sozialer Ordnung. DaB mit dem Ordnungsdenken nicht das ganze Anliegen
der Psychotherapie erfaBt ist, weiB und betont der Autor selbst. Mit dem Begriff
der Ordnung ist aber das Schlusselwort fUr das ganze Buch gegeben. Geht die
topologisch-dynamische Methode nicht von einem Ordnungsschema seelisch
sozialen Seins aus, dessen Deformierung Abnormitat und Krankheit bedeutet ? Da
dieses Ordnungsschema um einen Ichmittelpunkt zentriert, aus phanomenalen
Gegebenheiten konstituiert ist, laBt es sich ohne grundsatzliche Schwierigkeit an
jene anderen, ebenfalls phanomenal gegebenen, Ordnungen geistig-sozialen Seins
adaptieren, in denen wir als geistige Personen stehen, mit denen wir uns lebenslang
auseinandersetzen, in deren Rahmen unsere Personlichkeitsentwicklung lebens
geschichtlich vollzogen oder verfehlt wird. Das Wachsen und Werden der geistigen
Person ist ebenso wenig ein ungeregeltes, absolut einmaliges, aus allen Ordnungen
herausfallendes Geschehen wie das Wachsen und Werden des leib-seelischen Or
ganismus. Die formalen Storungen, die in der Psychose das fehlerhafte, ordnungs
widrige Funktionieren des leib-seelischen Organismus anzeigen, sind immer zu
gleich auch Entordnungen im geistig-sozialen Raum und Bruche bzw. Abbiegungen
im lebensgeschichtlichen Continuum, wie auch umgekehrt Entordnungen des
sozial-kulturellen Umfeldes, besonders der Familie, und schicksalshafte Einbruche
in den lebensgeschichtlichen Zusammenhang das organische GefUge der um den
Ich-Mittelpunkt zentrierten Person bis zur radikalen psychotischen Entordnung
bedrohen. Solchen Erfahrungen, die in ihrer inneren Bezuglichkeit oft evident,
aber als einlinige, einseitig gerichtete Kausalverhaltnisse zumeist fraglich bleiben,
wird der konstruktive Entwurf von K. besser gerecht als andere psychopatho
logische Entwurfe, die allzu rasch auf das Postulat der Somatose zuruckgreifen
oder von vornherein die formalfunktionale Eigenart des Psychotischen nicht be
rucksichtigen. Der Erlebniswandel der Schizophrenen ereignet sich nach den faB
baren Regeln einer innerseelischen Dynamik der welthaft-leibhaften Person, die
auf das AuBen, den Anderen hin offen ist und von auBen her entordnende (krank
machende) wie auch ordnende (therapeutische) Impulse empfangt, so daB das
Psychotischsein und Psychotischwerden ganz abgesehen von seinen kausalen
Voraussetzungen im Sinn einer Psychonomie oder seelischen Eigengesetzlichkeit
in weiterem Umfang als bisher verstehbar wird.
Ich glaube, daB damit ein Fortschritt in der Schizophrenielehre vollzogen ist,
der in der zeitgenossischen Forschung vielfach vorbereitet, aber selten so entschie
den und klar formuliert und an Beispielen plausibel gemacht wurde wie im vor
liegenden Werk. - Es bedurfte der grundlichen philosophischen Schulung eines
psychiatrischen Arztes, um in streng methodischem Gang der Untersuchung auch
dem philosophisch nicht so bewanderten Leser die SteHung des Schizophrenie
problems, ja die derpsychopathologischen Erfabrung uberhaupt im heutigen Denk
und Wissensbesitz einpragsam nahezubringen.
WALTER RITTER VON BAEYER
Inhaltsverzeichnis
Seite
Einleitung. . . . . . . . . . . . . 1
I. Zugange zur schizophrenen Person 3
1. Philosophisches Y orverstehen des verriickten Daseins 4
2. Anthropologische Psychopathologic als begegnendes Yerstehen 10
3. Dynamische Topologie als Beispiel eines konstruktiv·entwerfenden Verstandnisses 12
a) Die Feldtheorie der psychologischen Situation. 13
b) Psychopathologische Anwendungen . . . . . 20
c) Der schizophrene Erlebniswandel als dynamisch.topologisches Arbeitsthema 20
II. \Yandlungen der t:lelbstverfUgbarkeit des Schizophrenen 2G
1. Y orfeld . . . . . . 27
2. Auseinalldersetzullg 32
3. Eillordnung . 59
4. Ausgliederung G7
TIL Zur Theorie des schizophrenen l'ersonwandels 73
1. Inkompatibilitat als dynamisches Prinzip . 74
2. Strukturwandel als iibergreifendes Prinzip . 78
a) Seelische Spannung und personale Strukturumordnungen . 79
b) Zur Problematik der personalen Aul3engrenzen 85
c) Ichbereich und Lciblichkeit. . . . . . . . 90
d) Selbstgliederung und funktionale Autonomie 95
e) Die schizophrene Person in ihrem Lebensraum 9S
IV. Der Forderungscharakter des schizophrenen Erlebniswandels: ein Teilproblem der
Psychotherapie der \'e rriicktheit
Literatur . . . . 128
~alllen \"erzeichn's 13G
f-lachvcrzeichni, . 13S
Einleitung
Die Psychopathologie der Schizophrenien blieb am Leitfaden des klinischen
Wissens um ihrc deletaren Ausgange haufig eine Erforschung. seelischer Defizien
zen. Der hier unternommene Versuch legt dagegen Grundbestande schizophrenen
Erlebens auf seelische Positivi tat hin aus, d. h. auf eigenartige Verfassungen, in
dcnen sich eine Tcndenz nach seelischer Ordnung bekundet. DieWe ise dieser
Bckundung ist dem V crstehen meist nicht unmittelbar zuganglich. Der Zugang
der U ntersuchung bedarf der Vermittlung durch cin indirektes Yerstehen; diescs
gehort dcn von KGNZ als konstruktiv-entwerfcnd bezeichneten Erkcnntnisweisen
zu und wird hier mit aHem Wissen um dercn Einschrankungen geiibt. Del' im
Untertitel erscheinende Bcgriff del' Psychonomie soll eine Grundhaltung anzeigen,
die in der psychiatrischen Tradition del' "Psychikcr" stchL ohnc damit zugleich
"psychistisch" oder "psychogenetisch" zu scin.
~icht weniger als dcm Somatologen ist dem Psychopathologen der Umgang
mit dem Schizophrenen zugleich das Abschreiten cines Horizontes RPincs Nicht
wissens. Er ist, wiewohl in klini8chen Denktraditioncn crzogen, dic sein Alltagstun
verliiBlich zu umgrcnzen schcinen, in cine Schwierigkeit geratcn, scitdem er sich
einem Anspruch seiner verriickten Alltagspartner ausgesetzt sicht, den produktiv
zu bewaltigen er durch die klassischen Schizophreniewerkc nicht hinreichcnd vor
bcreitet ist. Mit Milhe nul' erkennt er die Merkwllrdigkeikn der ihn umgebenden
Kranken in den subtilcn, auf Abstand bcdaehten Horsaaldemonstrationen KI~AE
PELINS wiedcr; am Methodena8kctismus eines JASPERS wird ihm deutlich, daD
del' Schizophrene, dem Yerstehcn entzogen und einem Erkliiren, das kein psycho
logisches Erldiiren ist, iiberantwortet, letztlich durch das Sieb dC)r gclaufigcl1 Zu
gangswcisen fallt, wo ihn del' Psychiater, beeindruckt durch die Unzugiinglichkeit
seeliseher Veranderung, unwisscnschaftlicher Intuition und mythischer Spcku
lation anheimfallen sieht. Abstal1dwahrende klinische Deskription und :\1ethoclcn
bewu13tsein gingen unvcrlierbar ein in den Handbuchband clcr Heidelbcrger Schule
unter \VIL~1ANNS, einem \Verk, dem der heutige PsydlOpathologe in einer gewissen
Beklommenheit angesichts der souYeriinCll Be\yiiltigung des "StofIes" gegeniiber
steht. Yom \Verk des iilteren BLEliLER streift er die altcrWmliehe Psychologic all
und yersenkt sich in das yerwirrende Incinamkr der "Psychismcn", ohnc das
\Vissen um die ordnungshaftp Gesehlossenheit seelischer Gestaltungen des Schizo
phrenen, das er als "yorwissenschaftlichen EindruclC im psyc:hiatrisc:hc:n Lcbens
raum empfing, darin deutlich gpnug angpsprochcn zu finden. Der snchemle Psycho
pathologe ist kcin optimistischer Fortsc:hrittsgliiubiger, aber cr kann nicht umhin,
die friiher hiiufigen Versuchc, cinc: Gnmdst(irullY del' Schizophrcnicn psychologi~eh
odeI' psychophysiologisch zu konstruiprcn, als Zeitigullgell cines ,,"issenschaft·
I{isker. ErlebniBWttndel dt'~ Schizophrenen
2 Einleitung
lichen Friihbemiihens einzuordnen. Er liiBt sich anregen durch die von JUNG bis
Gm HLE und C. SCHNEIDER reichenden Entfaltungen einer Psychologie der Schi
zophrenien, in denen Bestimmungen umfassender Erlebens- und Verhaltensbeziige
in klinisch-phiinomenologischer Einstellung geleistet wurden.
Unter den offentlichen Manifestationen des produktiven Ungeniigens an der
historischen Schizophrenieforschung erlangten die psychiatrische Daseinsanalyse
BINSWANGERS und die psychotherapeutisch inspirierte Psychodynamik des angel
siichsischen Raumes eine besondere Aktualitiit. Die in beiden Richtungen gelei
stete Revision psychiatrischen Denkens und Handelns ist vielerorts abgehandelt
worden (am deutlichsten zuletzt von WAGNER, ZUTT u. KULENKAMPFF, TELLEN
BACH, BENEDETTI) und in ihrer Bedeutsamkeit kaum iiberschiitzbar. Der Beitrag
der klinischen Psychopathologie, die in der Konsequenz ihres Abstieges von der
Betrachtung klinischer Gruppen zu Individualphiinomenen ebenfalls einen Person
begriff der Schizophrenen erarbeitete, wie etwa in den Bemiihungen von KLAESI
und WYRSCH, wird gewohnlich weniger beachtet. Der Verschriinkungsnotigung
einer Psychopathologie des "breiten Pinsels", wie sie K. SCHNEIDER in genauer
Kenntnis der Relativitiit seiner Sichtweise bevorzugt, mit der anthropologischen
Bemiihung um den schizophrenen Menschen hat MULLER-SUUR eingchend nach
gedacht. Der Riickgang vom Symptomdenken auf eine erneute Schau des Phiino
mens, wie er in den Unterscheidungen HOFERS entwickelt wird, formt die gegen
wiirtigen klinischen Bemiihungen um die Schizophrenie-Psychopathologie nicht
weniger als die anthropologischen. Unterschiede des forschenden Anspruchs (Radi
kalitiit der Interpretationstiefe und der Weite des angezielten Sachfeldes) heben
beide Zugiinge sinnvoll voneinander abo
Diese Untersuchung, ein Beitrag zur psychologischen Erhellung einiger zen
traler Situationen der schizophrenen Person, steht in der Unabgeschlossenheit der
skizzierten Lage heutigen psychiatrischen Forschens. Sie wird bestenfalls sinnvolle
psychopathologische Fragestellungen eroffnen und Moglichkeiten kiinftiger Ant
worten vorbereiten konnen, koineswegs aber eine strukturpsychologische, gestalt
psychologische oder tiefenpsychologisohe Patenttheorie vorzuschlagen haben. Die
Absicht, ein Stiick Zusammenhangspsychopathologie schizophrenon Erlebens zu
treiben, muBte die von der Tradition horausgearbeiteten Formalsymptome in ihren
Gesamtbezug zum jewoiligen Erlobnisfeld zuriickversetzen.
Dankbar erinnert werden hier kritische Anregungen der Lehrer K. SCHNEIDER,
WITTE und v. BAEYER; Studien CONRADS wurden Vorbilder fiir Anoignung und
Auseinandersetzung. Zur Bearbeitung ermutigten Gespriiche und Korresponden
zen mit JANZARIK und MATUSSEK, deren strukturpsychopathologische und psycho
dynamische Forschungen der hier unternommenen nahestehen. Motivierend war
weiterhin die methodische Unabgestiitztheit eigener Arbeiten, in denen eine psy
chiatrische Feldtheorie der Schizophrenien vorbereitet wurde.
Die fUr diese Untersuchung gewiihlte Zugangsweiso ist auf weite Strecken,
namentlich im Abschnitt II, der dynamischen Topologie LEW INS verpflichtet. In
der Anwendung auf sprode klinische Fakten brachte dieser Gesichtspunkt manche
Eigenwilligkeit des Darstellens und Schematik des Dargestellten mit sich, deren
Dberwindung nicht immer gelingen wollte. Der Kenner psychologischer Methodik
wird sofort bemerken, daB wir das einc der beiden Konstituentien des Leu:inschen
Ansatzes - das phanomenologische - der experimentellen Bedingungsanalyse
Zugange zur schizophrenen Person 3
gegeniiber bevorzugten. Diese Anpassung an die Methodenlage der klinischen
Psychopathologie war bei der Vorlaufigkeit der Bearbeitung hier aufgegebener
Fragen geboten; eine psychometrische Erhartung der vorgelegten psychopatho
logischen Ergebnisse wird dann sinnvoll, wenn die Fruchtbarkeit der dynamisch
topologischen Zugangsweise endgiiltig sichergestellt ist. Der Psychiater, der die
Wandlungen des Symptombestandes seiner Kranken als Spontanexperimente auf
zufassen gewohnt ist, wird einem psychologischen Methodenrigorismus gegeniiber
die Eigenstandigkeit der Erarbeitung psychopathologischer Antworten wahren.
Dber solche Schwierigkeiten hinaus scheint ein Zusammengehen von Erlebnis
analysen und Riickschliissen auf subphanomenale Funktionalzusammenhange,
wie es in der Methodik LEWINS vorliegt, dem "Eigensinn" des psychotischen
Seelenlebens durchaus angemessen.
Den Einzelschritten der Untersuchung, in denen die literarische Auseinander
setzung mit den klinischen und psychodynamischen Auffassungen des schizo
phrenen Erlebniswandels auf das notwendigste beschrankt bleibt, wird vorberei
tend eine kurze wissenschaftssystematische Erorterung wesentlicher Zugangsweisen
zur schizophrenen Person vorangestellt (I). In einem klinischen Teil erfolgt die
Bewahrung topologisch-dynamischer Situationsanalysen an einem idealtypischen
Schizophrenieverlauf, wobei vor aHom den Wandlungen der Selbstverfiigbarkeit
des Sohizophrenen naohgegangen wird (II). Eine dynamisohe Betrachtung der
topologisohen Situationsquerschnitte fiihrt in die theoretische Diskussion des schizo
phrenen Gesamterlebens ein (III). Die a bschlicBende Er6rterung gilt dem der Ver
riioktheit innewohnenden A ufforderungscharakter nach psychotherapeutischer I nter
vention (IV).
I. Zugange zur schizophrenen Person
"Von Wissenschaft schlechthin ist aber nur da zu sprechen,
wo innerhalb des unzerstiickbaren Ganzen der universalen
Philosophie eine Verzweigung der universalen Aufgabe
eine in sich einheitliche Sonderwissenschaft erwachsen
laBt." E. HUSSERL
Person iiberhaupt und also auch die ins Verriiokte gewandelte Person erschlieBt
sich dem wissensohaftlichen Zugriff in je verschiedenen Verstehenshorizonten,
welche iiber ein Erleben der Innerliohkeit hinaus ihre Beziige zur Leibliohkeit und
ihre Verhaftungen an eine Welt, als lfeld ausgreifender Betiitigung und reoep
tiver Beeindruckung, einschlieBen. Dieser Personbegriff bedarf als legitimes Ar
beitsthema der Psychologie und Psychopathologie nach den Klarungen von KLA
GES, STERN, KRUEGER, STRAUS und der "AHgemeinen Psyohologie" von BINS
WANGER keiner Rechtfertigung. Wissensohaftsgesohiohtlioh ist zu erinnern, daB
ein Denken in personalen Kategorien vor oder unabhiingig von existenzphilo
sophisohen Einfliissen geleistet wurde. Die Seelenwisscnsohaften hoben naoh ihrem
elementaristisohen Ausgang in wenigen Jahrzehnten die Person als "ganzheit
liohe", als "gefiigehaft gegliederte", als "auf 'Velt hin angelegte", "psychophysisch
neutrale" usw. in ihren Verstehenskreis. Die Psyohopathologie erprobt heuto in
miihevollerem Nachgang diese Aufstellungen ihrer psychologischen Grundwissen-
1*