Table Of ContentAkif Pirinçci
Der eine ist stumm,
der andere ein Blinder
Thriller
Meinen Familien gewidmet
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Alle glücklichen Familien ähneln einander;
jede unglückliche aber ist auf ihre eigene Art unglücklich.
Anna Karenina Leo Tolstoj
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1.
Das Computerspiel »Die Siedler von Uris« war im Netz in‐
nerhalb von wenigen Wochen zu einer Sensation geworden.
Die Handlung spielte in der mittelalterlichen Fantasywelt
Uris, ein idyllischer Landstrich, dem augenscheinlich ein Kli‐
schee‐Irland Modell gestanden hatte: saftige Wiesen über hü‐
geligem Gebiet und schroffe Felsabhänge am rauschenden
Meer.
Der Reichtum von Uris bestand aus seltenen Erzen, die tief
in der Erde schlummerten. Die Aufgabe der Siedler war es,
das Erz in einem verschachtelten Minennetz abzubauen, zuta‐
ge zu fördern und schließlich Handel damit zu treiben. Jeder
Spieler war Führer eines Siedlerclans, der möglichst schnell
einen Erfolg im Erzgeschäft von Uris verbuchen mußte. Da es
sich bei der Gewinnung von Erz um ein sehr personalintensi‐
ves Geschäft handelte, war unabdingbar, daß der Clan die
Anzahl seiner Mitglieder ständig vergrößerte, um gegen die
anderen Clans konkurrenzfähig zu bleiben und sie am Ende
auszustechen. Der neue Clan mußte also zwecks Steigerung
der Arbeitskraft unablässig dafür sorgen, daß möglichst viele
neue Menschen in die Welt gesetzt wurden. Dies wiederum
bedeutete unweigerlich, daß man mit den anderen Clans zu‐
mindest biologische Allianzen schloß. Konkret hieß das: Män‐
ner und Frauen des eigenen Clans mußten mit Frauen und
Männern der anderen Clans anbändeln, sich mit ihnen ver‐
mählen und mit ihnen möglichst viele Kinder zeugen.
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Es war eigentlich wie im richtigen Leben: Jedes Kind, das im
Land Uris das Licht der Welt erblickte, wurde von den Eltern
mit Hoffnungen, Wünschen und Befürchtungen begleitet, und
jedes Kind hielt im Laufe seines Erwachsenwerdens für seine
Eltern eine Überraschung parat.
Die Aufzucht der Kinder kostete den Spieler viele Energie‐
beziehungsweise Minuspunkte, was ihn in einen regelrechten
Abwägungsstreß brachte. Er mußte pausenlos ausloten, ob er
die vorhandenen Leute zu mehr Arbeit antreiben oder besser
Pärchen bilden und durch sie mehr Kinder in die Welt setzen
sollte. Keine oder wenig Kinder zu zeugen und die eigenen
Leute sich unermüdlich in den Minen abstrampeln zu lassen,
bedeutete den sicheren Untergang. Die Clan‐Mitglieder wur‐
den alt, ihre Kräfte erlahmten, bis sie schließlich starben und
so den Clan verkleinerten. Viele Kinder waren gut, aber sie
bedeuteten zugleich mehr Nahrungsbeschaffung und Zeit‐
und Energieaufwand, also frustrierende Minuspunkte. Im
Lande Uris steckte man immerwährend in einem Dilemma.
Zudem war der Lohn der Investition in Nachwuchs keines‐
wegs garantiert, da die Kinder ohne weiteres als Erwachsene
zur Konkurrenz überlaufen konnten. Die große Frage, für
welchen Clan das einzelne Kind später seinen Minendienst
verrichtete, hatten die Spiel‐Erfinder verblüffend geistvoll
beantwortet: Jede Figur im Land Uris besaß einen einzigarti‐
gen Charakter, und in der richtigen Zusammenfügung dieser
Charaktere lag der eigentliche Schlüssel zum Erfolg des Com‐
puterspiels. Wenn der Spieler die richtigen Paare zu Eltern
machte, sorgten diese durch Vererbung ihrer Charaktereigen‐
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schaften dafür, daß die entstandenen Kinder sich schon auf
die Seite des eigenen Clans schlugen.
Das Ganze war eine Art Glücksspiel, nur daß ein gehöriges
Maß an Vorausschau und strategischem Geschick das Glück
beeinflussen konnte. Und im Gegensatz zum richtigen Leben
wurden die Kinder in Uris innerhalb von zehn Minuten er‐
wachsen und konnten dann ihre Arbeit in den Erzminen auf‐
nehmen.
Der Suchtfaktor des Computerspiels wurde durch ominöse
Gerüchte im Internet weiter angeheizt. Angeblich gab es einen
todsicheren Trick, wie man sich der riskanten Strategie der
Kinderproduktion hemmungslos hingeben konnte, ohne Mi‐
nuspunkte einzukassieren. In der Spielanleitung war davon
allerdings nichts zu finden. Vielleicht war es auch nur eine aus
Überdruß geborene Spinnerei von gescheiterten Spielern. Die
Schweine verrieten den Trick jedenfalls nicht und begnügten
sich allein mit hämischen Andeutungen …
Hugh klappte den Laptop auf seinem Schoß zusammen und
seufzte. Das grüne Uris‐Land wich einem kupferfarben
schimmernden Sonnenaufgang hinter der Windschutzscheibe
des Wagens, der ihn die Augen zusammenkneifen ließ. Er war
schon bei Level eins herausgeflogen. Was für eine Schande!
Zum Glück hatte er für dieses dämliche Spiel – und jedes
Spiel, das er nicht gewann, war für ihn dämlich – nichts be‐
zahlt, sondern hatte es sich über das Netz von einer illegalen
Tauschbörse heruntergeladen. Nicht gerade die korrekte Vor‐
gehensweise, die man sich von einem Hauptkommissar er‐
wartete. In Wirklichkeit hieß Hugh auch nicht Hugh, sondern
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Hugo Hoffer. Aber er ließ sich von Freunden und Kollegen
gern so nennen, weil er den Schauspieler Hugh Grant mochte,
nein, mehr noch, verehrte, jedenfalls in seinen Rollen als Pa‐
rade‐Single. Meistens kam Kino‐Hugh nach allerlei romanti‐
schen Verwicklungen am Ende des Streifens doch noch unter
die Haube, doch Hugo‐Hugh wußte, daß das bloß ein Zuge‐
ständnis an das weibliche Publikum war. Getreu der Pointe
dieses einen Witzes: Warum schauen sich Frauen einen Porno
zur Gänze an? Weil sie glauben, daß die Darsteller am Schluß
heiraten!
Die Woche hätte nicht angenehmer beginnen können. Es war
Mitte September, der Altweibersommer hatte begonnen, doch
die Temperaturen stiegen tagsüber immer noch auf über fün‐
fundzwanzig Grad. Hughs Dienstkarosse, ein schwarzes Mer‐
cedes‐E‐Klasse‐Modell, stand um sieben Uhr morgens ziem‐
lich alleine auf dem weiten, mit einem weißen Netzmuster
markierten Parkplatz da. Nur wenige Wagen der Leute, die in
dem alten Gebäude davor arbeiteten, leisteten ihm Gesell‐
schaft. Bei der aus dem Anfang des neunzehnten Jahrhunderts
stammenden Anlage handelte es sich um ein weinrotes Zie‐
gelsteinmonster mit gotischen Anleihen. Endlose Reihen von
Spitzbogenfenstern unterbrachen Gewölbearkaden mit Kreuz‐
rippen und schnörkellosen runden Pfeilern. Alles dehnte sich
unübersichtlich und schier endlos aus, hob und wölbte sich
überall mittels Türmchen und Erkern und verlor sich über‐
gangslos in kleinere Nebengebäude, so daß man über den
eigentlichen Grundriß nur mutmaßen konnte.
Das Gebäude war von einem sich fast bis zum Horizont ers‐
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treckenden Park umgeben. Lediglich wenige Bäume und Sitz‐
bänke störten die Schlichtheit des tadellos gepflegten engli‐
schen Rasens. Über der Endlosigkeit dieses Parks ging nun die
Sonne mit allen ihr zur Verfügung stehenden Rot‐ und Gold‐
tönen am wolkenlosen Himmel auf, tauchte das Gras einem
Steppenbrand gleich in tiefes Glühen, und ihr immer intensi‐
ver strahlendes Licht ließ Hughs Lider sekündlich enger wer‐
den. Die Vögel legten mit ihrem Gezwitscher los; die emsig‐
sten unter ihnen drehten bereits ihre ersten Runden in der
Luft.
Nach Hughs Empfinden sah das Gebäude wie eines dieser
verrotteten alten Gefängnisse aus, die heutzutage nicht einmal
einem hartgesottenen ukrainischen Drogendealer zugemutet
werden durften und deshalb längst abgerissen gehörten. Er
wußte aber, daß es sich nicht um ein Gefängnis handelte, son‐
dern um ein Irrenhaus. Es war als ein solches gebaut worden,
damals, als allmählich das Bewußtsein dafür wuchs, daß kein
geringer Anteil der Bevölkerung vollkommen irre war und
daß man diese Menschen nicht einfach totschlagen konnte.
Die Institution nannte sich natürlich nicht mehr Irrenhaus,
sondern Therapeutisches Zentrum für irgendwas − das Schild an
der Auffahrt hatte er nicht ganz gelesen −, doch er wußte auch
so, daß da drin nur Zwangsjackenkandidaten hausten. Hugh
mußte hin und wieder derlei Institutionen aufsuchen, sei es,
um Täter, Opfer oder Zeugen zu interviewen oder deren Ärz‐
te oder Gutachter. Solche Besuche gehörten zur Routine. Wo‐
rüber er sich jetzt wirklich wunderte, war die Tatsache, daß er
aus solch einer Institution zum ersten Mal einen Kollegen ab‐
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holen mußte, in diesem Fall sogar seinen zukünftigen Chef. Er
konnte es immer noch nicht fassen, aber einer dieser Irren da
drin war ihm am Freitag, also vor drei Tagen, als Vorgesetzter
zugeteilt worden!
Doch eigentlich war es ihm auch gleichgültig. So wie ihm al‐
les gleichgültig war, was seiner steil ansteigenden Karriere
nicht in die Quere kam. Manchmal verglich Hugh seinen Le‐
bensweg mit dem so beschwingten und doch von äußerster
Kraft und Konzentration durchpulsten Segelflug eines Adlers.
Er war achtundzwanzig Jahre alt und hatte, wie er fand, bis
jetzt alles richtig gemacht. Nach dem Studium auf der Polizei‐
führungsakademie ein steiler Aufstieg bis zum Hauptkom‐
missar ohne Fehl und Tadel, und privat lief auch alles bestens.
Er verfolgte seine Ziele unerbittlich, aber mit diplomatischem
Geschick. Niemand konnte sich über den stets modisch ge‐
kleideten schwarzhaarigen Mann mit den dünnen, langen
Koteletten und dem spitzen Unterlippenbärtchen beschweren.
Sogar Mörder, die er ihrer lebenslänglichen Bestimmung zu‐
geführt hatte, ließen später über dritte verlauten, daß sie vor
seinem Charme kapituliert hätten. Ganoven wie Kollegen er‐
wiesen ihm Respekt, vielleicht seiner ozeangrünen Augen
wegen, aber wohl eher wegen seiner geschmeidigen Art. Im
Grunde hatte er bis heute niemanden richtig verhaftet, son‐
dern jedesmal zu einer Verhaftung überredet. Vom Gebrauch
der Waffe ganz zu schweigen.
Hugh glaubte, daß er das einzig richtige Leben lebte, und je‐
der neue Tag schien ihm recht zu geben. Zum Beispiel der
letzte Sonntag. Nach dem gewohnten Müsli‐ und Obstfrüh‐
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