Table Of ContentLorenz Krüger
Der Begriff des Empirismus
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DE
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Quellen und Studien
zur Philosophie
Herausgegeben von
Günther Patzig, Erhard Scheibe, Wolfgang Wieland
Band 6
Walter de Gruyter · Berlin · New York
1973
Der Begriff des Empirismus
Erkenntnistheoretische Studien
am Beispiel John Lockes
von
Lorenz Krüger
Walter de Gruyter · Berlin · New York
1973
ISBN 3 1100 4133 2
Library of Congress Catalog Card Number 72-96781
©
1973 by Walter de Gruyter Si Co., vormals G. J. Göschen'sche Verlagshandlung · J. Guttentag, Verlags-
buchhandlung • Georg Reimer • Karl J. Trübner · Veit tc Comp., Berlin 30, Genthiner Straße 13.
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Satz und Drude: Walter Pieper, Würzburg
Vorwort
Die vorliegende Arbeit ist im Sommer 1971 abgeschlossen und im Win-
tersemester 1971/72 von der Philosophischen Fakultät der Universität Göt-
tingen als Habilitationsschrift angenommen worden. Sie ist aus ursprünglich
breiter angelegten Studien hervorgegangen, die der Frage gewidmet waren,
ob und in welcher Weise trotz der mittlerweile Gemeingut gewordenen Kri-
tik am logischen Empirismus ein philosophisches Verständnis der moder-
nen Wissenschaften noch von einer empiristischen Einstellung aus gewon-
nen werden könne.
Obwohl diese Untersuchungen schließlich an den Anfang der neuzeit-
lichen empiristischen Philosophie des Wissens und der Wissenschaften zu-
rückgeführt haben, sind sie doch in systematischer Absicht und nicht primär
um der Interpretation der Philosophie John Lockes willen entstanden. Es
schien daher nicht angebracht, die bisherigen Forschungen zur Erkenntnis-
theorie Lockes im ganzen in die Betrachtung einzubeziehen — ein Versuch,
der angesichts der mehrere hundert Titel umfassenden Sekundärliteratur
ohnehin wenig für sich gehabt hätte. Es sollte jedoch erwähnt werden, daß
drei systematisch einschlägige Bücher erst nach dem Abschluß dieser Arbeit
zugänglich wurden und darum leider nicht mehr berücksichtigt werden
konnten: J. W. Yolton, Locke and the Compass of Human Understanding
(Cambridge 1970); J. Bennett, Locke, Berkeley, Hume — Central Themes
(Oxford 1971); R. S. Woolhouse, Locke's Philosophy of Science and Know-
ledge (Oxford 1971).
Insbesondere das Fehlen einer Auseinandersetzung mit dem Buch von
Woolhouse ist bedauerlich, da dieses sich thematisch mit dem hier vorge-
legten Buch in großen Teilen überschneidet, zu etlichen Punkten vergleich-
bare oder gar gleichartige Überlegungen enthält, bei einigen wichtigen je*
doch zu anderen Ergebnissen gelangt. Die Gemeinsamkeiten beider Bücher
ergeben sich daraus, daß es beidemale das Ziel ist, Lockes Beitrag zu einer
Philosophie der Wissenschaften herauszuarbeiten; die Divergenzen anderer-
seits beruhen vornehmlich darauf, daß sich Woolhouse in erster Linie am
vierten Buch des „Essay" orientiert und wohl deshalb dazu kommt, Locke
VI Vorwort
als einen Rationalisten zu sehen, während meine Aufmerksamkeit auf die
Möglichkeit ausgerichtet ist, das vierte Buch über Wissen in den vom zwei-
ten Buch über die Ideen aufgespannten theoretischen Rahmen einzufügen,
wobei die rationalistischen Züge zwar ausdrücklich gemacht, aber doch in
ihrer Bedeutung relativiert, nämlich in einen empiristischen Kontext ge-
stellt werden.
Hierbei ist ein besonders strittiger Punkt, der sowohl in der Locke-Inter-
pretation wie auch in der heutigen wissenschaftsphilosophischen Debatte
gleichermaßen Aufmerkamkeit verlangt, der Status gewisser „notwendiger
Wahrheiten", seien es nun durch Farbsätze wie „nichts ist zugleich ganz rot
und ganz grün" ausgedrückte Aussagen, mathematische Theoreme oder auch
besonders allgemeine Naturgesetze. Woolhouse hält hier an der verbreite-
ten Vorstellung fest, daß derartige Aussagen zu zwei verschiedenen Klassen
gehören: zum einen zu den notwendigen Aussagen, deren Notwendigkeit
auf nichts anderem beruht als der korrekten Verwendung von Zeichen
(S. 176) und die daher erkenntnistheoretisch nicht in einem interessanten
Sinne verschieden sind von unmittelbar aus Definitionen oder logischen Ge-
setzen hervorgehenden Aussagen (S. 151); zum anderen zu den kontingen-
ten Aussagen, die im Gegensatz zu den erstgenannten von der außersprach-
lichen Wirklichkeit handeln und deren sogenannte „Notwendigkeit", so-
weit ihnen eine solche überhaupt zugeschrieben wird, völlig anderer Art ist,
nämlich auf nicht mehr hinauskommt als die Möglichkeit, eine naturwissen-
schaftliche Erklärung dafür zu liefern, warum es sich so verhält, wie diese
Aussagen behaupten. Da diese Erklärung ihrerseits jedoch wieder auf kon-
tingente Erklärungsgründe zurückgreifen muß, ist die auf sie gegründete
„Notwendigkeit" von echter logischer Notwendigkeit wesentlich verschie-
den (S. 138 f.). Diese Konzeption rettet nach dem Vorbild des logischen
Empirismus den empiristischen Grundansatz um den Preis einer konventio-
nalistischen Theorie der (angeblich) von der Erfahrung unabhängigen An-
teile unseres anerkannten Wissens. Wer sich ihr anschließt, muß folgerichtig
Lockes abweichende Auffassung von notwendigen Wahrheiten kritisieren:
nämlich einerseits den nichtlinguistischen, sondern synthetischen Charakter
der nicht logisch-definitorischen Ausagen, z.B. der Farbsätze oder der
mathematischen Theoreme (Woolhouse, § 25), andererseits die Möglichkeit
notwendiger, aber als soldier unerkennbarer Sachverhalte (§26).
Im Gegensatz zu einer solchen Auffassung von Notwendigkeit unter-
nehme ich den Versuch, aus dem empiristischen Ansatz von Locke die
Folgerung abzuleiten, daß bei allen Aussagen außer den explizit deflatori-
schen, also bei allen, die eine Erkenntnis im eigentlichen Sinne ausdrücken,
Vorwort VII
gleichermaßen von Notwendigkeit nicht oder allenfalls in einem relativierten
Sinne gesprochen werden kann. Dann besteht jedoch kein Anlaß und keine
Möglichkeit mehr, den synthetischen Charakter etwa der Farbsätze oder
mathematischer Aussagen zu bestreiten, noch läßt sich der für Woolhouse's
Darstellung charakteristische Dualismus von Wissen a priori und Wissen
a posteriori im Hinblick auf Locke festhalten. Und entsprechend ändert sich
auch die Stoßrichtung der Kritik an Locke: nicht so sehr gegen die Art, wie
er zwei Sorten menschlicher Kenntnisse unterscheidet, als vielmehr gegen
die Tatsache, daß er diese Unterscheidung trifft, richten sich die wichtigsten
Einwände.
Hierzu nun stimmt der Umstand, daß es Locke nicht gelungen ist, eine
Abgrenzung zwischen empirischen und notwendigen Aussagen klar durch-
zuführen, auch und gerade nicht mittels eines seiner entscheidenden begriff-
lichen Instrumente, nämlich des Begriffspaares ,Substanz' — ,Modus' (Wool-
house S. 144; hier § 17 Ende). Zur Diskussion eben dieses Punktes hat
Woolhouse in den Kapiteln IV bis VII seines Buches Analysen beigesteuert,
die in ihrer Gründlichkeit und Originalität derzeit unübertroffen sind und
daher jedem Leser, insbesondere im Zusammenhang mit § 17 des vorliegen-
den Buches, nur wärmstens empfohlen werden können. Anders als Wool-
house ziehe ich allerdings im Zusammenhang mit dem Mißlingen des Locke-
schen Unterscheidungsversuches nicht die Konsequenz, auf die vom neue-
ren Empirismus her gewohnte Gestalt des Dualismus von zweierlei Aus-
sagen zurückzugehen, sondern vielmehr die Fragwürdigkeit dieses Dualismus
zu untersuchen, sofern er ein Bestandstück, ja der Eckstein einer erkenntnis-
theoretischen Position sein soll, die zu Recht und ohne Einschränkungen
„empiristisch" genannt werden kann (§§ 17—19). Die „Notwendigkeit" be-
stimmter (z.B. mathematischer) Aussagen wird dann zu einer erkenntnis-
theoretisch bloß relativen; ihre Interpretation als linguistisch würde ferner
den durch sie gekennzeichneten Aussagen gerade ihren empirisch zu begrün-
denden Sinn und damit ihre Realität und ihren Erkenntnischarakter nehmen
(SS 15-16).
Im Rahmen eines Vorwortes müssen statt einer eingehenderen Würdi-
gung diese wenigen Bemerkungen zur neueren Literatur wohl oder übel ge-
nügen; sie haben ihren Zweck erfüllt, wenn sie den Leser auf wichtige Titel
und Kontroverspunkte hinweisen.
Die Deutsche Forschungsgemeinschaft hat die Vorarbeiten zu dem vor-
liegenden Buch in einer frühen Phase durch ein Forschungsstipendium groß-
zügig unterstützt, wofür ihr auch an dieser Stelle nochmals aufrichtiger Dank
gesagt sei. Erhard Scheibe und Günther Patzig haben zahlreiche Verbesse-
VIII Vorwort
rungen für die Druckfassung des Manuskriptes vorgeschlagen; dafür und
für die Fülle philosophischer Anregungen, die meiner Arbeit im Laufe der
Jahre zugute gekommen sind, bin ich ihnen in Dankbarkeit verbunden. Wer-
ner Diederidi und Wolf gang Carl haben Teile des Manuskripts gelesen;
Diskussionen mit ihnen haben mir in verschiedenen Punkten größere Klar-
heit verschafft. Günther Krug gilt mein Dank für seine unermüdliche Hilfe
bei den Korrekturen und der Beseitigung etlicher Irrtümer. Hermann Ströbel
und Peter Schröder haben dankenswerterweise beim Zusammenstellen der
Register, Frau Renate Werner beim Herstellen des Manuskriptes geholfen.
Göttingen, September 1972 Lorenz Krüger
Inhaltsverzeichnis
Vorwort V
Bemerkungen über die Verwendung von Quellentexten und Sekun-
därliteratur XI
Einleitung 1
Teil I: Gegenstand und Methode der Untersuchung
§ 1: Der Ansatz Lockes: Erkenntnistheorie und die neue Wissen-
schaft 6
§ 2: Ziel und Methode der Untersuchung: die Frage nach dem
„optimalen" Empirismus 9
§ 3: Zur Einteilung der Untersuchung: Empirismus der Ideen und
Empirismus der Aussagen 15
Teil II: Der Empirismus der Ideen
§ 4: Über die Erfahrungsbasis: Probleme und Inkonsistenzen . . 19
§ 5: Neuer Versuch zur Bestimmung der Erfahrungsbasis . .. 25
§ 6: Die innere Erfahrung und das Problem der Reflexion . .. 40
§ 7: Empirismus und Sensualismus: ein Exkurs über Condillac . 56
§ 8: Näheres zur Abgrenzung der Erfahrungsbasis und zum Be-
griff der einfachen Idee 68
§ 9: Beschreiben und Erklären 86
Teil III: Der Aufbau des Ideensystems
S 10: Über die Bildung komplexer Ideen 104
§11: Probleme des Ideensystems und der Übergang zum Empiris-
mus der Aussagen 124
Teil IV: Der Empirismus der Aussagen
$ 12: Der Begrifi der Wahrheit 139
X Inhaltsverzeichnis
§13: Der Begriff des Wissens 146
§14: Die Erkenntnis einfachster Ideenrelationen: das Problem em-
pirischer Begriffe 159
§15: Die Erkenntnis komplexer Ideenrelationen: Lockes Theorie
der Mathematik 176
§16: Wahrheit durch Übereinkunft? 205
§17: Probleme der Abgrenzung zwischen notwendigen und empiri-
schen Aussagen 226
§ 18: Die Erkenntnis von Koexistenz und Existenz: Lockes Theorie
des empirischen Wissens 237
§ 19: Der Dualismus von Wissen und wahrscheinlicher Kenntnis:
empirische Allgemeinheit und das Induktionsproblem . . . 253
Bibliographie 269
Namenverzeichnis 274
Sachverzeichnis 275
Stellenverzeichnis 280