Table Of ContentDer Atem Gottes
und andere
Visionen 2004
herausgegeben von
Helmuth W. Mommers
SHAYOL
Helmuth W. Mommers (Hrsg.): Der Atem Gottes und andere
Visionen 2004 Deutsche Erstveröffentlichung
© 2004 der Gesamtausgabe bei SHAYOL-Verlag, Berlin
© 2004 der Einzelwerke bei den Autoren
Myra Çakan: »Im Netz der Silberspinne« erschien
ursprünglich 2002 unter dem Titel
»Spider’s Net« im Internetmagazin THE INFINITE MATRIX
(hrsg. Eileen Gunn)
© 2004 des Umschlagbildes bei Galeria Enrique Moreno,
Palma de Mallorca
Titelbild: »Los cazadores de ángeles«, Julio Viera 2004,
Öl auf Leinwand, 203 x 143 cm
Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Hannes Riffel
Umschlaggestaltung: Ronald Hoppe & Helmuth W. Mommers
Layout: Hardy Kettlitz
Herstellung: Ronald Hoppe
Druck und Bindung: FINIDR s.r.o.
Printed in Germany
SHAYOL Verlag
Bergmannstraße 25
10961 Berlin
E-Mail: [email protected]
Internet: www.shayol-verlag.de
ISBN 3-926126-42-6
Eine Sammlung von thematisch unterschiedlichen
Kurzgeschichten bekannter deutschsprachiger SF-
Autoren und Nachwuchstalenten. In einer Zeit, in
der so renommierte Verlage wie z. B. Heyne ihr
SF-Angebot zurückfahren, versucht Shayol nun mit
dem 1. Band einer jährlich erscheinenden
Anthologie den Kurzgeschichtensektor neu zu
beleben. Neben etablierten Autoren finden sich
unter den 17 Geschichten auch Nachwuchstalente.
Andreas Eschbach, einer der erfolgreichsten SF-
Autoren, macht sich Gedanken zum Thema
Müllentsorgung per Quantensprung; für Herbert
W. Franke, seit den 1960ern einer der
renommiertesten Vertreter des Genres, ist die
Liebe nur eine banale Virusinfektion und Marcus
Hammerschmitt, bekannt für anspruchsvolle
zeitgenössische SF, beschreibt, „wie ein
Überlebender sich in einer Welt zurechtfindet, die
sich in einen surrealen Albtraum verwandelt hat“.
Dem Herausgeber H. W. Mommers, selbst mit
einer Kurzgeschichte vertreten, ist mit seiner
Auswahl ein thematisch breit gefächelter Band
gelungen.
Vorwort
Warum diese neue Reihe – die jährlich erscheinenden
VISIONEN? Gibt es für deutschsprachige SF-Autoren nicht
bereits genügend Veröffentlichungsmöglichkeiten? In der
angeblichen literarischen Wüste, die den radikalen Kürzungen
im SF-Programm von Heyne folgte, tummeln sich speziell auf
dem Kurzgeschichtensektor mittlerweile neben Periodikas wie
dem C’T-Magazin, ALIEN CONTACT und
PHANTASTISCH! neu das NOVA-Magazin und die SF-
Story-Olympiade, begleitet von der einen oder anderen
Anthologie und Collection. Alles in allem erscheinen dieses
Jahr an die 200 SF-Storys deutscher Zunge, das ist hinreichend
Raum sowohl für Nachwuchsautoren als auch für bereits
Etablierte und deutlich mehr als je zuvor. Zu kurz kamen die
Leser nur, wenn es um die prominenten, die professionellen
Autoren ging, denen ein geeignetes Podium fehlte. Dieses
Podium wollen wir sein: Nicht in Konkurrenz zu den anderen
Publikationen, sondern als Bereicherung der Szene. Allerdings
müssen wir Acht geben, dass wir uns nicht unser eigenes
Ghetto schaffen. Denn wo ist der Verlag, der die
Kurzgeschichten fremdsprachiger Autoren veröffentlicht?
»I have a dream«, sagte einst Martin Luther King, und meinte
eine Vision jenseits göttlicher Eingebung, von einer Zeit, in
welcher… nun, in welcher sich für seine geplagten
Zeitgenossen eine hoffnungsvolle Zukunft entfalten möge, eine
Utopie.
Anders die Science Fiction-Autoren: Wenn sie von Visionen
sprechen, glaubt der Uneingeweihte, sie wollten Prophet
spielen und die Zukunft voraussagen. Weit gefehlt! Wenn sie,
die Trends der Zeit verfolgend, extrapolieren, spekulieren,
phantasieren und ihre Visionen von einer möglichen (aber oft
auch völlig unmöglichen!) Zukunft entwerfen, dann ist das
Ausdruck unserer Sehnsüchte und Ängste: Mal wollen sie
warnend den Finger heben, mal sich verschmitzt ins Fäustchen
lachen, mal uns ein Fünkchen Hoffnung geben – wollen uns
zum Denken anregen, vor allem aber wollen sie unterhalten.
Kein Wunder, dass Dystopien vorherrschen in einer Zeit sich
überschlagender technologischer Umwälzungen, globaler
Vernetzung von Wirtschaft und Politik und einem Worldwide
Web, durch das sich Ideen, radikal nationalistische wie
fundamental religiöse, blitzschnell und gespenstisch ausbreiten
wie im Mittelalter die Pest. – Wo bleibt die Utopie? Vorbei die
Zeiten der Technologiegläubigkeit, wie sie in den 30er- bis
50er-Jahren die Science Fiction geprägt hat! Wo ist der
Silberstreifen am Horizont?
Vorerst nicht zu sehen. Wir üben uns fleißig in
Schwarzmalerei und Sarkasmus.
Also stürzen wir uns mit Küper, Çakan, Kerber, Isenberg und
Armer in eine düstere Zukunft. Atmen erleichtert auf bei
Simon, Franke, Erler und Hermann, die dem Unbill noch etwas
Komisches, etwas Erheiterndes abgewinnen können.
Schaudern zur Abwechslung bei Gruber, Mommers, Marrak,
Gardemann und Sembten. Und ergötzen uns am Philosophisch-
Mystischen eines Doege, an der augenzwinkernden Utopie
eines Eschbach und an der surrealen Endzeitgroteske von
Hammerschmitt.
Meine eigene Vision, auf diese Anthologie-Reihe bezogen,
ist es, in den nächsten ein, zwei Ausgaben auch die übrigen
hervorragenden Vertreter der deutschsprachigen
Kurzgeschichtenszene als Autoren zu gewinnen – darunter
Bach, Brandhorst, Hahn, Iwoleit, Jeschke, Maximovic,
Pukallus, die Steinmüllers und Vlcek; und den einen oder
anderen Newcomer aufs Podium der Profis zu hieven.
Helmuth W. Mommers
Andreas Eschbach (*1959) gilt spätestens seit dem Roman Das
Jesus Video, der auch verfilmt wurde, als erfolgreichster
deutscher SF-Autor. Mehrere seiner Romane wurden mit dem
Kurd Laßwitz Preis oder/und mit dem Deutschen SF Preis
ausgezeichnet, so Die Haarteppichknüpfer, Solarstation, Das
Jesus Video, Kelwitts Stern, Quest und Der Letzte seiner Art.
Die Story »Die Wunder des Universums« erhielt den
Deutschen SF Preis. www.andreaseschbach.de
ANDREAS ESCHBACH
Quantenmüll
Ich habe mir den Luxus erlaubt, den Kamin anzufeuern. Ich
werfe einen Scheit nach dem anderen in die Rammen, sehe zu,
wie sie verbrennen, stelle mir bildlich vor, wie schwarzer
Rauch aus meinem Schornstein quillt, um sich in der
Atmosphäre zu verteilen, und trinke meinen besten Rotwein
dazu.
Die Flasche, mit der ich mich im Moment befasse, hat einmal
viertausend Euro gekostet. Eines der edelsten Stücke meines
Kellers, abgesehen von der davor, für die ich, glaube ich, zehn-
oder elftausend Euro hingeblättert habe. Damals. Und sie ist es
wert gewesen, muss ich sagen.
Mal sehen, wie weit ich noch komme. Darüber hinaus habe
ich nichts mehr vor. Ich habe Zeit, wie man so sagt.
Zeit, ja. Sie vergeht, und das ist wohl das Einzige, was man
mit Bestimmtheit über sie sagen kann. Sekunde um Sekunde
verrinnt sie, und mit ihr unser Leben.
Unaufhaltsam. Es macht Tick, es macht Tack, und wieder ist
ein Augenblick dahin – unwiderruflich, unwiederbringlich.
Ist das nicht das größte Rätsel überhaupt – die Zeit? Was für
eine Anmaßung von uns, etwas über sie aussagen zu wollen.
Zeit: das Baumaterial unseres Lebens. Unser Leben ist aus Zeit
gemacht, ist Zeit. Und wenn es zu Ende geht… und es geht zu
Ende, ohne jeden Zweifel… dann blicken wir auf die Zeit
zurück, die wir durchmessen haben, die wir gestaltet haben –
oder die uns gestaltet hat –, betrachten die Entscheidungen, die
wir getroffen haben, und erkennen, welche Auswirkungen sie
hatten. Wie sie uns von einem Punkt unseres Lebens zu einem
anderen geführt haben und schließlich dorthin, wo wir jetzt
stehen.
Ich zum Beispiel war nicht immer so reich. Es war auch nicht
damit zu rechnen gewesen. Wenn man Physik studiert, wie ich
es getan habe, und mit Mühe seinen Doktor zustande bringt,
dann ist Reichtum das letzte, was man erwarten sollte.
Dennoch sitze ich hier, in diesem riesigen Haus, das auf
einem Landgut steht, das mir gehört, so weit mein Auge reicht,
und das heute Abend so still ist wie selten zuvor, weil ich dem
Personal freigegeben und die Telefonanlage abgestellt habe.
Dass ich den Abend damit verbringen kann, von den besten
Weinen der Welt so viel zu trinken, wie ich will, geht letztlich
auf eine Entscheidung zurück, die ich vor dreißig Jahren
getroffen habe. Diese Entscheidung hat auch bewirkt, dass es
Unsinn wäre, die Flaschen noch länger aufzubewahren.
Vermutlich schreibe ich diesen Bericht nur, weil ich es nicht
ertrage, überhaupt nichts zu tun.
Nach dem Studium war ich einige Zeit arbeitslos, wie üblich,
und fand schließlich eine schlecht bezahlte Stelle an einem
Kernforschungszentrum, für die ich überqualifiziert war. Im
Grunde arbeitete ich als Wartungstechniker für den
Teilchenbeschleuniger. Dreizehn Kilometer muffiger Tunnel,
hundertachtzigtausend Beschleunigerspulen, unendlich viele
Kabel, und alles musste funktionieren. Mein Chef, der
technische Leiter, war ein Idiot, der aus zwanzig Seiten
Verlaufsprotokoll immer nur herauslesen konnte: »Irgendwo
muss ein Fehler sein. Kümmern Sie sich drum, Steinbach.«
Kein »Doktor Steinbach«, nicht einmal »Herr Steinbach«, und
das Wort »bitte« kam in seinem Wortschatz überhaupt nicht
vor.
Kurz nach mir wurde noch jemand zu meiner Verstärkung
eingestellt, ebenfalls ein Doktor der Physik und ebenfalls
unterfordert mit dem, was wir zu tun hatten. Er hieß Konrad
Hellermann, und im Gegensatz zu mir nahm er die Dinge mit
stoischer Gelassenheit hin. Meine Laune verschlechterte sich
dagegen mit jedem Monat, der verstrich.
Der Vorfall, von dem zu berichten ist, ereignete sich an
jenem Tag, an dem ich Konrad von meinem Bruder erzählte.
Ich halte das für eine nicht ganz unwesentliche Einzelheit,
denn andernfalls wäre mir die entscheidende Idee vielleicht nie
gekommen. Denn damals gab ich mir größte Mühe, möglichst
wenig an meinen Bruder zu denken.
Dieter war zwei Jahre jünger als ich, und es war von Anfang
an klar gewesen, dass ich studieren würde und er nicht.
Während ich gute Noten nach Hause brachte und schließlich
sogar ein Abitur, das sich sehen lassen konnte, schaffte er
gerade mal die Hauptschule, und auch das nur mit Ach und
Krach. Während ich zielstrebig durchs Studium pflügte, ließ er
sich ziellos treiben, jobbte hier und da und schwängerte
schließlich die schöne junge Tochter eines hässlichen alten
Schrottplatzbesitzers. Sie heirateten, sein Schwiegervater
übergab ihm das Geschäft, und von da an scheffelte er
haufenweise Geld. Ich dagegen hatte am Ende eine Urkunde,