Table Of ContentWestern-Bestseller
Neuauflage der großen Romane des berühmten
Autors
G. F. UNGER
Der andere Weg
Sie tragen plumpe, abgenutzte Schnürschuhe,
obwohl sie wie Männer im Sattel sitzen, die
schon reiten konnten, bevor sie ihren Namen zu
schreiben vermochten.
Ihre hageren Gesichter sind gebräunt, denn sie
verbrachten die letzten Monate ihrer langen
Haft bei harter Arbeit in Steinbrüchen und beim
Straßenbau. Sie sind beide sehr groß, aber auch
sehr mager. Es fehlt ihnen an Gewicht.
Aber sonst sind sie sehr verschieden, das
erkennt man schon in ihren Augen. Dave
Hallaghans Augen blicken ernst und prüfend. In
Brack Hallaghans Augen aber glüht es gierig und
verwegen.
So erreichen sie die Gabelung der Poststraße
und halten an. Ein von Winden und dem
Wechsel der Jahreszeiten verwitterter
Wegweiser besagt, dass die nordwestliche
Gabelung nach Santa Fe führt, während man auf
der südwestlichen Gabelung irgendwann im
Cochise County in Arizona anlangen muss.
Plötzlich sehen sie einen Reiter, der aus einer
Gruppe von Cottonwoodbäumen geritten kommt
und sich nicht sonderlich beeilt. »Da kommt
Alum Cal«, krächzt Brack Hallaghan sofort. »Es
ist also alles richtig, Bruder.« Dann ist Alum Cal
bei ihnen, ein kleiner, magerer Revolverheld
und Bandit. Er verhält vor den Brüdern sein
Pferd, grinst und sagt dann beißend scharf wie
Alaun: »Willkommen in freier Wildbahn,
Freunde!«
»Wir waren nie Freunde, Cal«, sagt Brack Hallaghan
sofort grimmig. »Obwohl wir zu einer Mannschaft
gehörten und oft gemeinsam ritten, waren wir nie
Freunde. Konnte Jesse Cass keinen anderen Mann
schicken?«
»Das Los entschied«, grinst Alum Cal. »Dabei
hättet ihr den Weg auch ohne mich finden können,
weil wir wieder im Camp hinter dem Rim leben. Das
gute Loch Run Hole ist immer noch nur uns
bekannt. Also kommt, Jungs!«
Er will sein Pferd herumziehen, und er seufzt
dabei, weil der Ritt bis zum Ziel drei Tage dauern
wird.
»Ich bin schon fast eine Woche fort und habe hier
schon zwei Tage auf euch gewartet«, knurrt er. »Ich
dachte, ihr würdet nicht kommen.«
Dann will er anreiten.
Aber jetzt öffnet Dave Hallaghan zum ersten Mal
den Mund.
Er sagt ruhig: »Ich reite nicht mit. Ich kehre nicht
zu Jesse Cass und der Bande zurück. Ich reite
einen anderen Weg. Brack, komm mit mir. Wir
haben unsere Strafe abgesessen und werden nicht
mehr gejagt und gehetzt. Wir können überallhin
reiten. Wenn wir uns Jesse Cass und dem Rudel
wieder anschließen, beginnt eines Tages alles
wieder von vorn. Brack, komm mit mir!«
Der starrt ihn seltsam an.
Und auch Alum Cal, der sein Pferd wieder
herumgezogen hat, betrachtet ihn staunend.
Schließlich sagt er scharf und ätzend: »Man hat
in diesen Strafgefängnissen schon härtere Jungs
zerbrochen und ihnen die Köpfe so sehr verdreht,
dass sie wirklich daran glaubten, sie hätten auf
einem anderen Weg eine Chance. Dave, du bist ein
Narr. Brack, sag ihm, dass er ein Narr ist. Du bist
doch sein großer Bruder. Dir wird er mehr Glauben
schenken als mir. Sag es ihm, Brack!«
Die letzten Worte stößt er mit einer scharfen Wut
hervor.
Brack Hallaghan betrachtet seinen Bruder Dave
starr. Brack ist jetzt achtundzwanzig Jahre, und er
ist zwei Jahre älter als Dave.
Langsam sagt er: »Pass auf, Dave, ich will es dir
erklären. Oh, mein armer Junge, du denkst, du
könntest neu beginnen. Du glaubst, dass man dir
eine Chance geben wird. Aber du vergisst, dass du
ein Hallaghan bist. Red Dave Hallaghan, der
berüchtigte Revolverheld, Straßenräuber,
Bankräuber, Eisenbahnbandit Red Dave Hallaghan.
Und du vergisst, dass dein Bruder Black Brack
Hallaghan heißt, der Schwarze Brack! Und dann
vergisst du noch, dass unser Vater und unser
Onkel damals aufgehängt wurden, weil sie ebenfalls
Banditen waren. Dein Bild war auf zu vielen
Steckbriefen. Wohin du auch gehen magst, Bruder,
weder die Guten noch die Schlechten werden an
eine Wandlung glauben. Du kannst es ehrlich
versuchen und dir die größte Mühe geben, sie
werden dir keine Chance geben.«
Er atmet jetzt scharf und fährt dann noch
grimmiger und härter fort: »Aber das ist noch nicht
alles, Dave! Auch die andere Seite wird dich nicht
gewähren lassen. Sieh dir Alum Cal an. Glaubst du
denn wirklich, er und all die anderen Burschen
würden dir gestatten, dass du eine Chance
bekommst? Wir sind geächtet bis in die Hölle. Es
gibt keinen anderen Weg. Versuch es nicht, Dave.
Ich weiß, dass du ein besonderer Liebling des
Gefängnisdirektors warst, weil du einen
Oberaufseher davor bewahrt hast, dass ihm ein
Sträfling den Schädel einschlug. Ich half dir dabei
sogar, weil du mein Bruder warst und dich die
anderen Burschen sonst zerrissen hätten. Nun gut,
wir wurden durch diese Sache vorzeitig entlassen.
Einige schlimme Jahre im Steinbruch blieben uns
erspart. Aber glaub nur nicht, dass es für dich nun
einen Weg aus der Hölle gibt. Auch der Job, den dir
der Direktor angeboten hat, wird dir nichts nützen.
Verzichte darauf. Komm mit mir, Bruder!«
Er blickt ihn hart an. Er ist ein dunkelhaariger
und scharfgesichtiger Mann mit funkelnden Augen
und voll kaum beherrschter Leidenschaft.
Alum Cal räuspert sich und sagt dann mit seiner
scharfen und ätzenden Stimme: »Da ist noch etwas,
mein guter Dave. Es sollte dich noch bedeutend
mehr beeindrucken. Du kennst das versteckte
Camp der Bande und könntest zum Verräter
werden. Jesse Cass und die Jungs werden nicht
dulden, dass jemand abtrünnig wird, der sie
vielleicht eines Tages verraten könnte. Die guten
alten Freunde werden dich abschießen müssen, so
sehr ihnen dabei auch das Herz brechen wird. Also,
komm, mein Junge.«
Aber Dave Hallaghan bewegt sich nicht im Sattel.
Er murmelt nur: »Ich gebe euch mein Wort, dass
ich nicht zum Verräter werde. Aber ich reite jetzt
einen anderen Weg. Ich will es versuchen. Komm
mit, Brack!«
Der schüttelt den Kopf.
Da reitet Dave Hallaghan davon, und er schlägt
den Weg nach Arizona ein. Als er zehn Yards
geritten ist, zieht Alum Cal wortlos seinen Colt und
bleckt dabei die Zähne.
Es ist ganz klar, dass er Dave Hallaghan
hinterrücks vom Pferd schießen will.
Aber da schlägt Brack zu. Er fegt den kleinen
Mann mit einem Schwinger aus dem Sattel. Der
Schuss löst sich, und dann schlägt Alum Cal hart
am Boden auf.
Dave Hallaghan hält an und wendet sich um. Er
blickt auf den Bruder zurück und sagt bitter: »Das
wird dich bei Jesse Cass in Schwierigkeiten
bringen, Brack. Komm also lieber mit mir.«
»Du bist ein Narr, Dave«, keucht Brack. »Du
kannst deinem Schicksal nicht auf diesem neuen
Weg entrinnen. Ich habe dir jetzt nochmals eine
Chance geben wollen. Du weißt nun, wie ernst es
ist. Und beim nächsten Mal würde ich dich nicht
retten, obwohl du mein Bruder bist.«
»Du würdest es immer wieder tun, wie auch ich
dich immer retten würde. Und richte Jesse Cass
aus, dass ich euch nicht verraten werde, solange
ihr mich in Frieden lasst.«
Nach diesen Worten wendet sich Dave um und
setzt sein Pferd wieder in Bewegung.
Es ist nun alles entschieden. Jeder der beiden
Brüder hat seinen eigenen Weg gewählt.
Am Boden setzt sich Alum Cal auf, presst sich
die flache Hand gegen Kinnwinkel und Ohr und
murmelt dann kalt: »Du hast ihm das Leben
gerettet, aber eines Tages wirst du das bereuen.
Jesse Cass und die Jungs werden dir die Hölle heiß
machen. Und ich werde nicht vergessen, dass du
mich aus dem Sattel geschlagen hast.«
Aber Brack Hallaghan grinst ihn nur hart an.
* * *
Acht Tage später erreicht Dave Hallaghan das San
Pedro Valley, durchfurtet den San Pedro River und
gelangt auf die alte Wagen- und Poststraße, die von
Tucson nach Tombstone führt.
Dave Hallaghan hat ein festes Ziel. Der Direktor
jener Strafanstalt in Texas, in der die Brüder
Hallaghan sechs lange Jahre verbrachten, gab Dave
Hallaghan eine Anschrift und ein versiegeltes
Schreiben mit auf den Weg.
Dave war erstaunt darüber, doch der
Gefängnisleiter klopfte ihm auf die Schulter und
sagte seltsam ernst: »Ich kenne mich aus, Dave,
und ich habe sechs lange Jahre Zeit gehabt, Sie zu
beobachten. Sie haben sich geändert. Irgendwann
hatten Sie erkannt, dass Sie Ihre Strafe nicht zu
Unrecht absitzen, sondern damit eine Schuld
bezahlen müssen. Es hat mir gefallen. Über Ihren
Bruder, Dave, bin ich mir nie klar geworden. Er
half Ihnen zwar, als Sie meinen Oberaufseher davor
bewahrten, von einigen Sträflingen erschlagen zu
werden. Aber ich glaube nicht, dass Ihr Bruder sich
so gewandelt hat wie Sie. Brack ist ein Tiger
geblieben. Eines Tages wird er hängen oder von
einem Aufgebot gehetzt und dabei in Stücke
geschossen werden. Aber Sie, Dave, sind anders.
Ich weiß, dass Sie den Versuch machen werden,
einen anderen Weg einzuschlagen. Das wird schwer
sein, sehr schwer. Aber Sie sind noch jung. Sie
können es schaffen. Hier ist ein Brief. Reiten Sie zu
dem Mann, dessen Anschrift auf dem Brief steht.
Dieser Mann wird an Sie glauben, wie ich an Sie
glaube. Fangen Sie vollkommen neu an, Dave.«
Das waren die Worte, an die Dave Hallaghan sich
erinnert.
Auf eine Art ist er froh, dass er nun allein ist.
Denn er möchte seinem älteren Bruder wirklich
nicht nochmals in die Hölle folgen.
So ist es also zwischen den beiden Brüdern.
Brack ritt zu Jesse Cass’ Bande zurück. Seine
Zukunft ist nicht sehr ungewiss.
Dave aber hat einige Chancen.
So reitet er jetzt durch das San Pedro Valley und
strebt seinem Ziel entgegen.
Nach einigen Meilen stößt er auf einen
Wegweiser, auf dem steht:
River Station, 17 Meilen
Als Dave dies Schild zwei Meilen hinter sich
gelassen hat und die staubige Wagenstraße zu
einem Hügelsattel ansteigt, vernimmt er weit in der
Ferne einige Schüsse. Sie erklingen sehr weit und
sehr schwach. Er erreicht nach einer Weile die
Wasserscheide des Hügelsattels und bekommt
Sicht in einen Canyon hinunter.
Unten steht eine Postkutsche, die von der Straße
abgekommen ist. Eine Gruppe von Menschen ist
halb verdeckt zu erkennen.
Dave zögert unmerklich, aber dann reitet er
weiter. Nach etwa zehn Minuten erreicht er die
Kutsche und fünf ratlose Menschen, die zwei
regungslos am Boden liegende Gestalten umgeben
und sich beim Klang der Hufschläge umwenden.
Dave Hallaghan hält an. Seine rauchgrauen
Augen betrachten ruhig die Szene, und er weiß
sofort Bescheid.
Gelassen erwidert er die Blicke der fünf
Reisenden. Er schätzt sie ab und weiß auch sofort
ziemlich genau, zu welcher Sorte sie gehören. Da ist
ein dicker Handelsreisender, dann ein dunkler und
schmalbrüstiger Kartenhai. Ein Greenhorn aus
dem Osten in einem sehr modischen, aber nun sehr
zerdrückten und staubigen Anzug ist dabei. Der
vierte Mann ist ein mexikanischer Padre.
Und die fünfte Person ist ein Mädchen.
Dieses Mädchen hat graugrüne Augen, die sehr
gerade und forschend blicken. Über ihren Hut hat
sie ein Seidentuch gebunden und unter dem
kleinen und so energischen Kinn verknotet. Aber
man sieht einige dunkelrote Haarlocken
hervorlugen.
Es ist ein sehr schlankes und stolzes Mädchen,
das erkennt Dave sofort an ihrer Haltung und an
der Art, wie sie den Kopf trägt. Ihr Reisekostüm
sitzt vorzüglich und lässt erkennen, dass alles an
ihr genau richtig ist. Sie bietet wirklich einen
erfreulichen Anblick, und sie gehört zu jener Sorte,
die von jedem Mann in diesem Land geachtet und
mit Respekt behandelt wird.
Dave Hallaghan hat sechs Jahre kein Mädchen
von dieser Art gesehen: Aber sie gefällt ihm nicht
nur deshalb. Selbst von tausend anderen Mädchen
würde ihm keine so gefallen wie diese.
Er spürt das sofort. Da sie ihn immer noch fest
betrachtet, greift er an den Hut.
»Das war ein Überfall? Kann ich helfen, Madam?«
So fragt er ruhig.
Sie hebt unschlüssig die Schultern. Ihre Augen
sind nass. Sie hat geweint.
»Sicher, das war ein Überfall«, sagt sie bitter. »Die
Straßenräuber haben sich die Lohngelder der Opal-
Mine geholt. Und weil der Fahrer und sein
Begleitmann nicht anhalten wollten, wurden sie
von der Kutsche geschossen. Es ist niemand unter
uns, der diese Kutsche die Serpentinen hinunter
nach River Station fahren könnte. Aber vielleicht
sagen Sie in der River Station in der Posthalterei
Bescheid, damit man von dort…«
»O Madam, ich denke, dass ich die Kutsche
fahren kann«, unterbricht er sie sanft und sitzt ab.
Er geht an ihr vorbei und tritt zu den beiden
Toten. Dann wendet er sich an die Männer, die ihn
stumm betrachten.
»Wickelt die Unglücklichen in Decken ein. Wir
müssen sie dann auf das Dach der Kutsche legen.«
Dann geht er zur Kutsche, betrachtet sie und
überprüft alles genau. Das Geschirr des
Sechsergespanns ist etwas in Unordnung. Er macht
sich an die Arbeit, ordnet alles und fasst die beiden
Führungspferde dann rechts und links an den
Halftern.
Er bringt die Kutsche auf die Straße und wendet
sich den Fahrgästen zu.