Table Of ContentSysten1atisches Handbucl1
der
Deutschen Rechtswissenschaft.
Unter lllitwirkung
der Profe.•soren Dr. H. Brunner in Berlin, Dr V. Ehrenberg in Giittingen, Dr. H. Gerland
iu Jena, Dr. 0. Gierke in Ilerlin, des General-ProkuratoT' Dr. J. Glaser, friiher in
Wien, der Professoren Dr. C. S. GrUnhul in Wien, Dr. A. Haenel iu Kiel, Dr. A. Heusler
in Ba<el, Dr. P. Krüger in Bonn, Dr. F. v. Marlilz in Berlin, Dr. 0. Mayer in
Leipzig, Dr. A. Mendelssohn Barlholdy iu Würzburg, Dr. L. Milleis in Leipzig,
Dr. Th. Mommsen, friiher iu llerlin, Dr. F. Oetker in Würzburg, Dr. M. Pappenheim
in Kiel, Dr. F. Regelsberger in Göttingen, Dr. Lolhar Seufferl in München,
Dr. R. Sohm in Leipzig, Dr. E. Strohal in Leipzig, Dr. A. v. Tuhr in Strafsburg,
Dr. A. Wach in Leipzig, Dr. R. Wagner, früher in Leipzig, Dr. C. Wieland in Basel,
herausgegeben rnn
Dr. Karl Binding,
Prorcssur in Leip1.ig.
Zehnte Abteilung.
Das Deutsche Bürgerli<-he Rec11t.
Ersh•r Teil. ErstPr Banrl.
A. Tuhr, Der Allgemeine 'l'eil fies Deutschen Bürgerlichen Rechts.
y,
ßa.u.~. 1.
l .(·ipiig·,
VorlKg von IJ1111,·kn1· & 11 nmhlut.
1\110.
Der Allge111ei11e 1,eil
Deutschen Bürgerlichen Rechts.
Von
Andreas von Tuhr.
En;ter Band.
Allgemeine Lehren und l'ersonenreeht.
DEP 0 DIR CTVIL
IIBLIOTECA ESP1NOLA
l ,('ipiiµ;.
Vnrl11g VOil Jlun1·k11r & llu111lilt1t.
l\lltl.
Dein Andenken
meines raten;
Nilrolaus v. T11hr,
l\.ai:-1rrllrh l{ue8ischc•n (;1•hri111rat~ 11111{ ~1·11at•1r.~
11ud
meines Brutlers
l)r. jur. Nikola11s v. Tuhr
Vorwort.
Unsere Rechtsordnung besteht aus einer unübersehbaren An
zahl von Vorschriften, welche für die verschiedensten TatbeHtände
des Lebens Hechtsfolgen anordnen. Die Tatbestände cler Tiechts
siUze sind abstrakt gedacht und formuliert: die Hechtsfolge rnll
immer eintreten, wenn Tatsachen von bestimmter Art vorliegen.
Die abstrakte Natur unserer Rechtssätze beruht auf dem einer
weiteren juristischen Analyse nicht zugänglichen Hechtsgefühl der
Kulturmenschen, auf ihrer Abneigung gegen Willkür. Die abstrakte
Beschaffenheit der Rechtssätze hedingt ihre begriffliche Fornm
lierung: gewisse Vorgänge des Lebens sind nach Pinem für das
Recht maßgebenden Kriterium zu Begriffen zusammengefaßt. Die
Bildung von Begriffen ist das notwendige ~fitte) jeder Erkenntnis;
auch die Erforschung der Natur und der Vorgänge des mensch
lichen Lebens (Psychologie, Geschichte, ·wirtschaftslehre) bewegt
sich in Begriffen: man sucht die Gesetze der Natur zu ergründen,
d. h. festzustellen, daß aus Tatsachen gewisser Art hestimmte
Wirkungen hervorgehen. Während aber auf diesen Gebieten die
Begriffe nur Erkenntniswert hahen, kommt den vom Recht auf
gestellten Begriffen reale Bedeutung, vis ac potestas, zu. Wenn
das Hecht aus den bunten Erscheinungen des Lehens allgemeine
Typen hervorhebt, so geschieht das, um einen unter den Typus
fallenden Lebensvorgang mit bestimmten \\'irkungen auszustatten;
je nachdem z. B. der Begriff des Besitzes geclacht ist, sind die
Interessen gewisser Menschen besser oder schlechter geschützt.
Mit Hilfe seiner Begriffe regelt das Hecht den Konflikt der Inter
essen und sichert das Zusammenleben der Menschen in Staat und
Gesellschaft. \Vie die Natur von den erkennenden Wissenschaften,
so wird das menschliche Leben vom Hecht zu einem Kosmos ge
staltet. Nach beiden Richtungen liegt ein im' Wesen des Menschen
begründetes Strehen vor: Gesetze rler Natur zu finden, Gesetze
für das geordnete Zusammenleben der ~lenschen aufzustellen, ist
die ewige Sorge der Menschheit. -
Der Inhalt der Rechtssätze beruht auf der Erkenntnis und
\Vertung der nebeneinander bestehenden und sich bekämpfenden
Zwecke un<l Bedtlrfnisse des Lebens. Bei der Abwägung des
Vi'ertes dieger Interessen für die Gesamtheit dPs Volkes steht der
Gesetzgeber bewußt oder unbewußt unter dem Einfluß eigennütziger
oder altruistischer Motive und ist in hohem Maß von den An
schauungen der Vergangenheit abhängig. Das Recht ist eine dPr
konservativsten Mächte des menschlichen Lehens; daher hat jede
Rechtsordnung Bestandteile, die sich aus dem Prinzip der Kon
tinuität erklären.
Die Aufgabe der Wissenschaft besteht darin, den Aufbau des
Hechts in seinen Grundlagen und Einzelheiten zu erfassen
U!l(l
darzustellen; die Aufgabe des Richters ist die Anwendung <les
Rechts auf den einzelnen Fall. Auf beiden Gebieten präraliert
die logische Tätigkeit: genaue Feststellung der Begriffe, die das
Gesetz oft nur mit einem Worte bezeichnet; und Subsumption der
vielgestaltigen Erscheinungen des Lebens unter diese Begriffe.
Daher ist die Jurisprudenz stets wesentlich ein Operieren mit ßL'
griffen gewesen. Die Wichtigkeit und Schwierigkeit ihrer Auf
gabe liegt in der notwendigen Unvollkommenheit des Gesetzes:
das Gesetz kann mit seinem Begriffsschema nicht alle Tatsachen
des Lehens meistern; die Yorschriften des Gesetzes sclmeiden und
kreuzen einander; es giht immer wieder Tatbestände, deren Unter
ordnung unter die gesetzlichen Kategorien zweifelhaft erscheint.
Daher bedarf das Gesetz der Auslegung und ist in zahlreichen
Fällen auf nicht vorgesehene Tatbestände analog auszuclehnen ;
aber auch, wenn diese logischen Hilfsmittel nicht ausreichen, hat
der Richter eine Entscheidung zu finden. Es hat von jeher als
selbstverständliche Richtschnur einer guten Jurisprudenz gegolten,
bei mehrdeutigem Gesetzesbefehl, bei zweifelhafter Analogie und
namentlich bei Locken des Gesetzes df Entscheidung zu suchen,
welche den Lebensverhältnissen am besten zu entsprechen scheint,
die sententia quae rei gerendae aptior est. In neuerer Zeit wird
mit Hecht betont, daß der Richter dabei, ähnlich wie der Gesetz
geber, eine Abwägung der einander gegentlberstehenden typischen
Interessen vorzunehmen hat 1 er soll, wie man zu sagen pflegte,
;
Ygl. H c c k, ArchBürgR. 4, 7fg.: ZHandll. 37, 277; 38, !306; DJZ. 10, 1140;
1
M. R ü m e 1i n, B. Windseheid und sein Eintlull auf Privatrecht und Privutrechts
wis~ensrbaft, und ArcbZivProz. 98, 329 fg.
\orwort. IX
ehe roan daran dachte, rlen Denkprozeß im Kopf des Hichters zu
analysieren, eine Yernünftige Entscheidung treffen.
Viel weiter geht eine in den letzten Jahr('n auftretende und
weitverbreitete Ansicht: die Theorie der sog. freien Rechtsfindung
g.
Die verbindliche Kraft des Gesetzes soll auf das engste Maß he
schränkt werden. Nur den klaren Wortlaut des Gesetzes soll der
Richter berlicksichtigen und nur in den Fällen. die vom Gesetz aus
drücklich entschieden sind. Darüber hinaus soll der Hichter Fieh
nicht hemüben, aus dem \\" ortlaut oder clem Sinn 1les Gesetz('S
durch Auslegung oder Analogie eine Hegel zu entnehmen. sondern
er soll sich der Abwägung der Interes~en zuwenden und auf 1\iesern
Wege eine Entscheidung suchen. Ja, er soll sich sogar ührr die
Vorschrift des Gesetzes hinwegsetzen, wenn dir aus d('rn Gesrtz
sich ergebende Entscheidung wicbtige Interessen der Allgemeinhrit
so schwer verletzt.• daß eine Abhilfe unumgänglicb r:rt tut: in
solchrn Fällen soll der Richter contra legem die Ent~ehridung aus
seiner W rrtung cler sozialen Verhältnisse entnehmen.
Diese mit verschiedenen NuancL·n und mit ,-erschiedenPr In
tensitiit vorgetragene neue Lehre mußte auf vYiderspruch stoßen 3
•
Ihre Stärke liegt auf dem (iebiet 1!Pr Kritik. Es Hißt sich nicht
bestreiten. daß dem „ 'Villen des Gesetzes" bisweilen mit ganz
äußerlichen Mitteln (:\laterialien) und tlurch unzuliissige "·ort
interpretation nachgeforscht wird; und daß nl'lien vortrefflicben
auch manche minde1· gute Urteile seit l\IUU gefällt worden siml.
Aber das beruht meines Erachtens nicbt auf einem Fehler der
Methode, sondern auf fehlerbafter Anwendung, wie siP bei jeder
Methode vorkommen werden. Zuzugeben ist viellPicht, daß .Judi
katur und Literatur zu sehr im Banne der Theorien gestanden
haben. aus denen das BGB. erwachsen ist, und daß 111\'11rere l\ontro-
•Stumpe. DJZ. 10, 417, 71(1, 1017 und: Fusere Rechts- und ßegritl'>
bildung; Rumpf, Gesetz und Hichtcr: :Ehr 1i ch, FrPie Hecht stindung und
freie Rechtswissenschaft; M ii ll er-Erzbach, .Jherings.I. 53, :tl!; ganz extrem:
Gnacus Flavius (l\antorowidk), Kampf um die Rechtswi•senschaft, und
Fuchs, Die Gemeingefährlichkeit der konstruktiven .Jurisprudenz. Eine gnt
orientierende Übersicht der neuen Lehre bei ll e d ema n n. Ard1IlürgH. 31,
1!96; 34, 115
•Landsberg, DJZ. 10, 9:H: Dcrnburg, Allgemeiner Teil S. \".;
n.rz.
Hellwig, ZivProz. ~ 93; Bülow im ,Hecht" 1906 S. 769; Unger, 11, 781:
Stier-Simlo, Festgabe f. Lnband 11 445; H. Löuiug, l'ber Wurzel un<l
Wesen des Hechtes: Sohm. DJZ. 14, 1019: Vierhaus, DJZ. 14, 1169;
Oertmann, Kommentar zum Allg. Teil 8. XVII und: GesNzeszwang und
Richterfreiheit; Hundstein, ArchßürglL 34, 1; Danz, JheringsJ. 54, 66.
• U& "V& ....
versen des bürgerlichen Rechts eine bessere Lösung finden könnten,
wenn man völlige Klarheit über die typische Interessenlage ge
winnt. Immerhin ist Theorie und Praxis mit Erfolg bemüht ge
wesen, dem neuen Gesetz den Sinn abzugewinnen, welcher den
Yerhi\ltuissen des Lebens am besten entspricht. Es sind auch
bereits durch Auslegung und Analogie eine Reihe von Rechts
sätzen aufgestellt und in der Praxis durchgesetzt worden, die
man, weil sie nicht im Gesichtskreis des Gesetzgebers lagen , als
neues Recht bezeichnen kann 4
•
Die neue Lehre ist, wenn sie wirklich mehr bringen will, als
eine Verbesserung der alten Methode, meines Erachtens prinzipiell
abzulehnen, weil sie der subjektiven Willkür des Richters Tür und
Tor öffnet. Die Abwägung der Interessen ist stets vom Stand
punkt des Beurteilers abhängig~. Das ist der Grund, weshalb der
Staat in dem Gesetz eine möglichst feste Regel für die Ent
scheidung der Interessenkonflikte aufstellt und dem Richter die
Befolgung dieser Regel zur Pfiicht macht. Der Richter hat das
Gesetz selbst dann anzuwenden, wenn es seinem Rechtsgefühl
widerspricht, oder wenn sich seit Erlaß des Gesetzes die all
gemeinen Anschauungen verändert haben. Nur soweit das Gesetz
ausdrücklich oder durch seinen unfertigen Zustand dem Ermessen
des Richters Raum gewährt, hat der Uichter dasselbe auszuüben,
• So z.B. die Klage auf Cnterlas.rnng einer unerlaubten Handlung, vgl.
unt. S. lM: der Rucktritt wegen Gefährdung des Vertragszwecks bei Sukzessiv
lieferungen (sogenannte positirn Vertragsverletzung).
• Das zeigt sich ,;ehr deutlich, wenn die Vertreter des freien Rechts ihre
Kritik gegen einzelne Entsrheidungen richten. So ist z. ß. die Polemik von
Stampe, DJZ. 10. 421 gegen die Entsch. des RG. 54 Xr. 77 nur ein Beweis
dafür, daß Stampe die Interessenlage anders beurteilt, als die Verfasser des
BGB. und ihnen folgend das Reichsgericht. Es handelt 8ich um die im Gesetz
nicht ausdrücklich entschiedene Frage, ob die Ausschlagnng einer Erbschaft
Ton den Gläubigern des Erben außerhalb des Konkurses angefochten werden
kann. Stampe hält es für zweifellos, daß das Interesse der Gläubiger ge
schiitzt werden mu11, nda erfahrnngsmUlig au(. kiioftige lnteetaterbschaften oft
in durchaus verständiger ·weise kreditiert wird." Dagegeu läßt das Gesetz
in mehreren Bestimmungen erkennen, dai es auf die Freiheit der Entschließung
des Erben größeren Wert legt. als auf das Interesbe der am Erwerb der Erb
schaft indirekt beteiligten Personen. "-enn, wie Stampe will, aus sozialen
Erwag1111«eu entsrhleden werden dürfte, so wurden sich gewiß Richter finden,
die d&.. IDteres;,e der Gläubiger für ausschlaggebend halten, aber auch andere
Richter, welche das J\reditieren auf kiinftige Erbschaften mißbilligen und das
Jnrch die .-\ussc:hlagung geschützte Interesse der Familie für wertvoller halten
Yiirden.
Vorwort. XI
dann allerdings im Sinn der Interessenahwägung. Wo dagegen
das Gesetz direkt oder indirekt eine Entscheidung giht, hat es
die Abwägung der Interessen selbst vorgenommen, und zwar in
autoritativer, den Richter wie den Staatsbürger bindender Weise.
Allerdings kann sich der Gesetzgeber in der \V rrtung der Inter
essen irren; auch können sich die Zustände wesentlich verschieben;
daher ist ein allen Lebensverhältnissen in vollem Maß gerecht
werdendes Gesetz ein unerreichtes Ideal. Es fragt sich aher, was
vorzuziehen ist: eine feste, vielleicht hin und wieder nicht ganz
zweckentsprechende Regel, nach der der Bürger ~ich richten kann
und gerichtet wird, oder eine wechselnde und unberechenbare
Interessenabwägung durch den Richter, der doch schließlich nur
einer von vielen Zeitgenossen ist und durch den Zufall seiner An
stellung berufen wäre, gerade seine sozialen Anschauungen im vor
liegenden Fall zur Geltung zu bringen. Vom sozialen und politi
schen Standpu11kt scheint mir eine Unzufriedenheit mit dem Inhalt
des Gesetzes weniger bedenklich (denn es kann geändert werden),
als das Gefühl, von einer Interessenwertung seitens des Hichters
abzuhängen, deren Resultate von Außenstehenden als \\'i!lkür
empfunden werden müssen.
Der Streit um das ,freiP, Recht" ist zugleich ein Streit um
die Existenzberechtigung der dogmatischen Behandlung des Rechts.
Fnr die freie Rechtsschule gibt es nur einzelne Rechtssätze, aus
deren logischem Zusammenhang keine Konsequenzen gezogen wenlen
dürfen. Dagegen ist nach bisheriger Auffassung die Rechtsordnung
ein System von ineinandergreifenden Normen. Dies System kann
historisch betrachtet werden, oder auch kritisch (in Bezug darauf,
ob es den praktischen Bedürinisseu des Lebens entspricht); aber aurh
rein dogmatisch: irnlem man die \"orafüsetzungen der einzelnen
Rechtssätze feststellt, ihre Tragweite prüft, und ihr Yerhältnis
zueinander untersucht•. Unentbehrlich auch für die dogmatische
Betrachtung ist natl\rlich die Kenntnis der vom Recht zu regelnden
Lebensverhältnisse und des Zwecks, dem jeder Rechtssatz dient.
Aber die Lebensverhältnisse sind meint>s Erachtens der Hinter
grund für die eigentlich juristische Betrachtung, welche es in
erster Linie mit den rechtlichen Begriffen und deren Konsequenzen
zu tun hat 7 Die Einrichtungen des Rechts sincl die )litte], mit
•
o Über den Wert der dogmatischen Ilehandlung des Rechts ,·gl. die
treffenden Wort-0 von Laband, Staatsrecht Bd. l S. IX.
' Die historische, dogmatische und vergleichende Erforschung des Rechts
ist meines Erachtens zugleich eines der ,-orzüglichsten )litte! zur Erkenntnis