Table Of ContentGerhard Merz
Die Alchimist des
Königs
Zeit-Kugel
Band Nr. 43
Version 1.0
Februar 2012
Am 5. Juli 1984 glückte Professor Robert Lintberg das
wahrhaft phantastische Experiment, winzige Substanzteile zu
ent- und zu rematerialisieren. Und er errechnete, daß diese
Substanzteile im Zustand der Körperlosigkeit mit ungeheurer
Geschwindigkeit in der 4. Dimension zu reisen vermochten –
also nicht nur durch den Raum, sondern auch in die
Vergangenheit und in die Zukunft.
Mit seinem Assistent Frank Forster und dem Ingenieur
Benjamin Hammer begann er, diese Entdeckung für die Praxis
auszuwerten. Er wollte ein Fahrzeug bauen, das sich und
seinen Inhalt entmaterialisieren, dann in ferne Räume und
Zeiten reisen, sich dort wieder rematerialisieren und nach dem
gleichen Verfahren wieder an den Ursprungsort und in die
Ursprungszeit zurückkommen konnte. Doch nach 4 Jahren
mußte der Professor seine Versuche aus Geldmangel
einstellen.
Die superreichen Mitglieder vom ›Club der Sieben‹ in
London boten ihm aber die fehlenden Millionen unter der
Bedingung an, daß sie über den Einsatz der Erfindung
bestimmen könnten. Der Professor erklärte sich einverstanden,
konnte weiterarbeiten und vollendete am 3. Mai 1992 sein
Werk: Die Zeit-Kugel. Seit diesem Tag reisen der Professor,
sein Assistent und der Ingenieur im Auftrag des ›Clubs der
Sieben‹ durch die 4. Dimension.
Dieser Roman erzählt die Geschichte der Ausführung eines
derartigen Auftrags.
Die Zeit-Kugel
ist ein aluminiumfarbener, fensterloser Ball mit einem
Durchmesser von 5m, der die Ent- und
Rematerialisierungsapparatur, ein Panoramascope und
Sitzgelegenheit für 3 Passagiere enthält.
Die Reise
mit der Zeit-Kugel ist stets vorprogrammiert. Die
Vorprogrammierung bestimmt das räumliche und zeitliche
Ziel, die Dauer des dortigen Aufenthaltes und den Zeitpunkt
der Rückkehr. Änderungen nach dem Start sind nicht möglich.
Zum Schutz der Zeit-Kugel entmaterialisiert sie sich 5
Minuten nach der Ankunft am Zielort und rematerialisiert
wieder 1 Stunde vor der Abreise. Das Mitbringen von
Gegenständen aus fernen Räumen und anderen Zeiten ist
nicht möglich, da der Umwandlungsprozeß nur Dinge erfaßt,
die beim Beginn der Reise an Bord waren. Die Ent- und
Rematerialisierung sowie die Reise werden von den
Passagieren nicht wahrgenommen, da sie während dieser
Phasen bewußtlos sind.
Der Radar-Timer
wird von den Passagieren der Zeit-Kugel wie ein Armband
getragen und ist eine Kompaß-Uhr-Kombination, die stets die
Richtung zur und die Entfernung von der Zeit-Kugel und
zudem die verbleibende Zeit bis zur Rückreise zeigt.
Die Kleidung
der Zeit-Kugel-Passagiere besteht aus einer helmartigen
Kapuze und einem silbrigen, hautengen Overall, der sowohl
vor Hitze als auch vor Kälte schützt.
Der Sprach-Transformer
(auch Dolmetscher genannt) ist in der helmartigen Kapuze
untergebracht und übersetzt jede Sprache ohne Verzögerung.
Der Auftrag:
August der Starke von Sachsen wurde seinerzeit eines
Mannes habhaft, der Böttger hieß und als Goldmacher und
Betrüger galt und gesucht wurde. Reisen Sie in diese Zeit
und überprüfen Sie, ob Böttger wirklich Gold machen
konnte, vor allem aber, wie er zur Entdeckung der
Herstellungsmethode für weißes Porzellan gelangte.
Club der Sieben
»Mehr Hitze!« brüllte Böttger den wie verschüchtert vor dem
Schmelzofen stehenden Gehilfen an, der auch den mächtigen
Blasebalg bedienen mußte. Der Schmelztiegel glühte kirschrot,
die ungeheure Hitze trieb den im Laboratorium befindlichen
Herren tüchtig den Schweiß auf die Stirn.
Fürst von Reichenberg betrachtete durch sein Lorgnon
interessiert Böttgers Tätigkeit; der junge Apothekergehilfe
hatte ihm Gold in Hülle und Fülle versprochen. Mehr Gold,
als selbst die orientalischen Potentaten besaßen. Soviel Gold
wie dereinst König Salomo.
Und nun arbeitete der junge Alchimist bereits an der
Goldherstellung wie ein Flickschuster an seinen Schuhen.
Freilich, die Einrichtung des Laboratoriums hatte den Fürsten
ein erkleckliches Sümmchen gekostet.
Zuckende Flammen erhellten das hohe Gewölbe und gaben
ihm das Aussehen eines Vorhofes der Hölle mit den dazu
gehörenden Teufeln und Plagegeistern.
Im Hintergrund hielten sich Professor Robert Lintberg und
sein Assistent Frank Forster auf. Ingenieur Ben Hammer hatte
sich Böttger zur Seite gesellt und ließ keinen Blick vom Tun
des Alchimisten.
»Feinsilber! Drei Lot!« befahl Böttger gerade seinem
Gehilfen. »Dazu Quecksilber beimischen! Und aufs feinste,
aufs Gramm genau abwiegen!«
Die drei von der Zeit-Kugel waren dem Apotheker und
späteren Alchimisten Johann Friedrich Böttger von Berlin aus
gefolgt, wo der junge Johann Friedrich bei dem Hofapotheker
Zorn zur Lehre gegangen war. Es war ihm aber leider nicht
vergönnt, sich dort seines neu erworbenen Berufsstandes zu
erfreuen, denn schon nahten die Häscher in Gestalt von Dr.
Pasch, Sonderbeauftragter Seiner Majestät des Königs von
Preußen, der sich ebenfalls einen Goldmacher und
unerschöpflichen Dukatenesel sichern wollte.
Böttger floh nach Stettin, wo man von des Königs Dekret
noch nichts ahnte. Professor Lintberg gab sich als Bergrat
Baron von Kunckel mit Gehilfen aus, freundete sich mit
Böttger an und war auf dessen Weisung immer mit seinen
Leuten in des jungen Alchimisten Nähe. Sogar Fürst von
Reichenberg mußte Kunckels, Herrn Forstens und Herrn
Hammers Anwesenheit bei dem geheim durchzuführenden
Versuch dulden.
Der Gehilfe brachte Böttger Blei und Antimon herbei und tat
unheimlich wichtig und beflissen, obwohl er von nichts eine
Ahnung hatte. Ben Hammer grinste, als Robert Lintberg an
ihm vorbeikam, aber er hütete sich, etwas zu sagen.
Graf von Pleien, der Kanzler Fürst von Reichenbergs, trat
unwillkürlich einen Schritt zurück, als dem Schmelztiegel
übelriechende Dämpfe entwichen.
»Ich hoffe«, sagte er in seiner gewohnt langweiligen
Redeführung, »das Gold stinkt hinterher nicht genauso
impertinent wie diese Rückstände hier!«
»Meine Herren!« rief Böttger plötzlich laut durch den Raum.
»Darf ich um Ruhe bitten! Jetzt kommt der schwierigste Teil
der Umwandlung zu Gold. Ich füge nun das geheime Elixier
bei, die rote Tinktur.«
Peinliche Stille herrschte nun in dem unerträglich heißen
Laboratorium, unterbrochen nur vom Knacken des
Schmelztiegels und dem Brodeln des kirschroten, glühenden
Suds.
Böttger nestelte an seinem Oberkleid herum, löste langsam
und mit bedächtigen Bewegungen die Knoten auf, die es
zusammenhielten, griff in die Innenseite des Gewandes und
zog eine dünne, etwa handspannengroße Phiole hervor.
»Die rote Tinktur«, flüsterte Graf von Pleien ergriffen, ganz
seinen hohen Rang vergessend, und neigte sich weit vor,
damit ihm auch ja nichts von dem geheimen
Umwandlungsprozeß entginge.
Mit aufmerksamen Augen und angehaltenem Atem
verfolgten die zu dem Experiment Geladenen diese
mystischen Vorgänge, die Böttger mit Beschwörungen in einer
unbekannten Sprache noch unbegreiflicher machte.
Ben Hammer war beiseite getreten, um nicht durch seine
massige Gestalt dem Alchimisten im Wege zu sein.
Frank flüsterte im Hintergrund mit Lintberg. »Die rote
Tinktur, woraus setzt sie sich zusammen, Professor?«
»Nach Böttgers Angaben aus verschiedenen zur Nachtzeit
eingebrachten Kräutern sowie aus hauchfeinen Goldspänen
und einigen unbekannten Stoffen und Materialien.«
»Könnte die Tinktur nicht wirklich ein Grundstoff sein, mit
dem es möglich wäre, die Ordnung der Elemente zu ändern,
also aus Blei Gold und aus Zinn Silber zu machen?«
»Nein, Frank«, flüsterte der Professor kaum hörbar. »Das ist
völlig ausgeschlossen.«
Böttger hantierte unterdessen mit einem Kolben, in den er
einen Teil der roten Tinktur hineingab, sie ein wenig erwärmte
und dann vorsichtig – Tropfen für Tropfen – in den
Schmelztiegel träufelte.
Es zischte und qualmte, als die ersten Tropfen auf die heiße
Masse trafen. Im Nu umgab Böttger undurchdringlicher
Dampf. Er entschwand den Augen der Gäste, als trete er jeden
Augenblick seine Höllenfahrt an. Doch aus der dichten Wolke
tönten ununterbrochen Beschwörungen und Zauberformeln.
»Ob er versteht, was er murmelt?« fragte Frank. Der
Professor schüttelte den Kopf. »Ich glaube es nicht, aber es
wirkt unheimlich gut. Sehen Sie sich nur den Kanzler an.«
Graf von Pleiens Gesicht wies eine Mischung zwischen
Furcht, Bewunderung und Neid auf. Es war ihm anzusehen,
wie gerne er sich neben den Goldmacher gestellt und ihm
beigestanden hätte.
Den Fürsten jedoch ließ das ganze Brimborium, wie er es
insgeheim nannte, völlig kalt. Aber auch er konnte sich der
unheimlichen Atmosphäre nicht ganz entziehen.
Der Gehilfe räumte unterdessen Retorten, Tiegel, Kolben
und Phiolen mit Säuren und Salzen weg, damit kein
überflüssiger Gegenstand die Arbeiten seines Herrn und
Meisters behinderte.
Der Alchimist hatte in der Zeit, in der ihn die Dampfwolke
der Sicht der anderen entzog, eine Handvoll feiner Goldspäne
und -abfälle in den Schmelztiegel hineingleiten lassen.
Niemand bemerkte es. Außer Ben. Der Ingenieur aber schwieg
aus guten Gründen.
Böttger wartete noch eine Weile, dann befahl er dem
Gehilfen, den Tiegel aus dem Ofen zu nehmen und die Masse
in ein Wasserbecken abzugießen.
Rauch und Dampf stiegen auf, als die glühende Masse in das
kalte Wasser traf. Der Alchimist wedelte den Qualm beiseite
und langte in das Wasser hinein. Als er die Hand herausnahm,
war sie zur Faust geballt. Er trat vor den Fürsten von
Reichenberg hin, öffnete seine Faust und gab einen
kirschgroßen Goldklumpen frei.
»Gold!« sagte der Landesherr benommen. »Mein lieber
Freund, hat Er einen Wunsch, so wollen wir ihm willfahren.
Koste es, was es wolle.«
Bei diesen Worten verzog der Kanzler, der auch
Schatzmeister des Fürsten war, unangenehm das Gesicht.
Aber er hütete sich, in einem Augenblick, der für den Fürsten
so erhebend war, auf die leeren Schatztruhen zu verweisen.
Aber Böttger war bereit, jedes nur erdenkliche
Entgegenkommen auf das Äußerste auszunutzen. »Ich
benötige mehr Rohstoffe, Durchlaucht. Blei, Antimon, Zinn
und Silber.«
»Silber?« echoten von Reichenberg und von Pleien zu
gleicher Zeit.
»Aus Silber läßt sich das reinste, das feinste, das erlesenste
Gold gewinnen. Bei richtiger Verteilung der Zugaben ergibt
sich sogar ein Zugewinn von zehn zu eins.«
Der Fürst rieb sich die Hände. Zehn zu eins war eine ganz
gesunde Rechnung. Für einen Teil Silber zehn Teile Gold, das
konnte niemand außer Böttger. Und Böttger war sein
Untertan, hatte sich vielmehr freiwillig in seine Dienste
begeben.
»Er soll seinen Willen haben und Silber erhalten. Kanzler,
veranlaßt das.«
Graf von Pleien verneigte sich schweigend. Es hätte ja doch
nichts genützt, dem Fürsten zu widersprechen. Was der
Reichenberg sich einmal in den Kopf gesetzt hatte, trieb ihm
nicht einmal der Teufel aus.
Der Fürst nickte dem Grafen noch einmal zu, dann rief er
laut: »Hauptmann der Wache!«
Mit einem Ruck wurde die Tür des Laboratoriums
aufgerissen. Ein Offizier in der Uniform der Leibgarde des
Fürsten erschien.
»Schaffe Er unserem Freund Böttger sofort fünfzig Pfund
Silber aus der Schatzkammer herbei, dazu einen Korb
spanischen Weines aus meinem Keller sowie das Beste und
Erlesenste, was unsere Küche bietet. Baron von Kunckel und
seine Gehilfen sind auf unser allergnädigstes Geheiß Gäste
und Freunde unseres lieben Böttgers. Ausführung!«
Der Hauptmann salutierte und verschwand. Mit ihm ging
der seufzende Kanzler, der das Silber herausgeben mußte.
*
Der Professor schlief allein, Frank und Ben teilten sich einen
Raum. Die Lagerstätte war einfach, fast primitiv zu nennen.
Dennoch konnte man bequem auf den mit weichem Stroh
gefüllten Säcken schlafen.
Ben wartete, bis Frank eingeschlafen war und leicht durch
die Nase zuzelte. Leise erhob er sich und sah noch einmal zu
seinem schlafenden Freund hinüber. Dieser Gehilfe Böttgers
ließ ihm keine Ruhe. Was er den anderen nicht erzählt hatte,
war die Tatsache, daß der Gehilfe bei weitem nicht so einfältig
war, wie er tat. Das war ihm aufgefallen, als Böttger bei der
Vorbereitung der Umwandlung zu Gold nach dem
HELLMANDT, dem zeitgenössischen und wohl
weitverbreitetsten, gebräuchlichsten Alchimistenbuch,
verlangte, und der Gehilfe, der angab, des Lesens und
Schreibens unkundig zu sein, in dem dicken Wälzer genau die
Seite aufschlug, die Böttger für die Durchführung des
Prozesses brauchte.
Auf dieser Seite waren weder Lesezeichen noch sonstige
Merkmale enthalten. Also mußte der Gehilfe lesen können.
Aber warum gab er das nicht zu? Hatte er Angst? Oder war er
vielleicht ein – ja, das konnte es sein! – ein Spion des Königs
von Preußen?
Ben schlich auf den verlassenen Gang hinaus, in dessen
steinigen Wänden dicke, heftig qualmende Fackeln staken und