Table Of ContentPaulo Coelho
Der Alchimist
Roman
s&c by AnyBody
Santiago, ein andalusischer Hirte, hat einen wiederkehrenden Traum: Am
Fu(cid:223) der Pyramiden liege ein Schatz f(cid:252)r ihn bereit. Soll er das Vertraute f(cid:252)r
m(cid:246)glichen Reichtum aufgeben? War er nicht zufrieden mit seiner
bescheidenen Existenz? Santiago ist mutig genug, seinen Traum nicht
einfach beiseite zu wischen. Er wagt sich hinaus und begibt sich auf eine
Reise, die ihn nicht nur von den Souks in Tanger (cid:252)ber Palmen und Oasen
bis nach ˜gypten f(cid:252)hrt, er findet in der Stille der W(cid:252)ste auch immer mehr
zu sich selbst und erkennt, was das Leben f(cid:252)r Sch(cid:228)tze bereith(cid:228)lt, die nicht
einmal mit Gold aufzuwiegen sind. Verschleierte Frauen und sich
bekriegende Berber s(cid:228)umen seinen Weg, vor allem aber Menschen, die ihn
ermuntern, die Geheimnisse der Welt zu erkunden: eine Zigeunerin, ein
alter Mann, und nicht zuletzt der weise Alchimist.
ISBN: 3257061269
Titel der 1988 bei Editora Rocco Ltda. erschienenen Originalausgabe: (cid:155)O Alquimista(cid:139)
Aus dem Brasilianischen von C.S. Herzog
Diogenes, 1996
Copyright ' 1988 by Paulo Coelho
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
F(cid:252)r J., der die Geheimnisse des Gro(cid:223)en
Werks kennt und von ihnen Gebrauch macht
Als sie aber weiterzogen, kam er in ein Dorf. Da
war eine Frau mit Namen Marta, die nahm ihn
auf.
Und sie hatte eine Schwester, die hie(cid:223) Maria; die
setzte sich dem Herrn zu F(cid:252)(cid:223)en und h(cid:246)rte seiner
Rede zu. Marta aber machte sich viel zu schaffen,
ihm zu dienen.
Und sie trat hinzu und sprach: Herr, fragst du
nicht danach, da(cid:223) mich meine Schwester l(cid:228)(cid:223)t
allein dienen?
Sage ihr doch, da(cid:223) sie mir helfen soll! Der Herr
aber antwortete und sprach zu ihr: Marta, Marta,
du hast viel Sorge und M(cid:252)he.
Eins aber ist not. Maria hat das gute Teil
erw(cid:228)hlt; das soll nicht von ihr genommen werden.
Lukas, 10: 38-42
Prolog
Der Alchimist nahm ein Buch zur Hand, das ein Teilnehmer
der Karawane mitgebracht hatte. Das Buch war alt und hatte
keinen Einband, aber dennoch konnte er den Autor erkennen:
Oscar Wilde. Beim Durchbl(cid:228)ttern fand er eine Geschichte (cid:252)ber
Narzi(cid:223). Nat(cid:252)rlich war dem Alchimisten die alte Sage des
sch(cid:246)nen J(cid:252)nglings Narzi(cid:223) wohlbekannt, der jeden Tag seine
Sch(cid:246)nheit im Spiegelbild eines Teiches bewunderte. Er war so
von sich fasziniert, da(cid:223) er eines Tages das Gleichgewicht verlor
und ertrank. An jener Stelle im Teich wuchs eine Blume, die den
Namen Narzisse erhielt. Aber Oscar Wilde beendete seine
Geschichte nicht so. Er erz(cid:228)hlt, da(cid:223) nach dem Tod des J(cid:252)nglings
Oreaden erschienen, Waldfeen, die den einstigen S(cid:252)(cid:223)wassersee
in einen T(cid:252)mpel aus salzigen Tr(cid:228)nen verwandelt fanden.
»Warum weinst du?« fragten die Feen.
»Ich trauere um Narzi(cid:223)«, antwortete der Teich.
»Oh, das (cid:252)berrascht uns nicht, denn obwohl wir alle hinter
ihm herliefen, warst du doch der einzige, der seine bet(cid:246)rende
Sch(cid:246)nheit aus n(cid:228)chster N(cid:228)he bewundern konnte.«
»War Narzi(cid:223) denn so sch(cid:246)n?« verwunderte sich der See.
»Wer k(cid:246)nnte das besser wissen als du?« antworteten die
Waldfeen (cid:252)berrascht. »Schlie(cid:223)lich hat er sich t(cid:228)glich (cid:252)ber deine
Ufer gebeugt, um sich zu spiegeln.«
Daraufhin schwieg der See eine Weile. Dann sagte er: »Zwar
weine ich um Narzi(cid:223), aber da(cid:223) er so sch(cid:246)n war, hatte ich nie
bemerkt. Ich weine um ihn, weil sich jedesmal, wenn er sich
(cid:252)ber meine Wasser beugte, meine eigene Sch(cid:246)nheit in seinen
Augen widerspiegelte.«
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»Was f(cid:252)r eine sch(cid:246)ne Geschichte«, sagte der Alchimist.
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Erster Teil
1
Der J(cid:252)ngling hie(cid:223) Santiago. Es fing bereits an zu d(cid:228)mmern,
als er mit seiner Schafherde zu einer alten, verlassenen Kirche
kam. Das Dach war schon vor geraumer Zeit eingest(cid:252)rzt, und
ein riesiger Maulbeerbaum wuchs an jener Stelle, wo sich einst
die Sakristei befand.
Er entschlo(cid:223) sich, die Nacht hier zu verbringen. So geleitete
er alle Schafe durch die besch(cid:228)digte T(cid:252)re und legte einige
Bretter quer davor, damit ihm die Tiere w(cid:228)hrend der Nacht nicht
entwischen konnten. Zwar gab es keine W(cid:246)lfe in jener Gegend,
aber einmal war ihm eines der Tiere w(cid:228)hrend der Nacht
entkommen, und er mu(cid:223)te den ganzen folgenden Tag mit der
Suche nach dem verirrten Sch(cid:228)fchen verbringen.
Danach breitete er seinen Mantel auf dem Fu(cid:223)boden aus, legte
sich nieder und nahm das Buch, das er gerade gelesen hatte, als
Kopfkissen. Vor dem Einschlafen dachte er daran, da(cid:223) er in
Zukunft dickere B(cid:252)cher lesen wollte, weil man l(cid:228)nger etwas
davon hat und weil sie eine bequemere Kopfst(cid:252)tze abgeben.
Es war noch finster, als er erwachte. Als er nach oben schaute,
sah er die Sterne zwischen den Dachbalken durchscheinen.
(cid:155)Eigentlich wollte ich noch weiterschlafen(cid:139), dachte er bei sich.
Wieder hatte er den gleichen Traum gehabt wie vor einer
Woche, und wieder war er vor dem Ende aufgewacht.
Er erhob sich und trank einen Schluck Wein. Dann nahm er
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seinen Hirtenstab und begann, die Schafe, die noch schliefen,
eines nach dem anderen zu wecken. Mehr und mehr wurden die
Tiere, wie ihm aufgefallen war, gleichzeitig mit ihm wach, als
ob ein geheimnisvoller Gleichklang sein Leben mit dem der
Schafe verband, die seit nunmehr zwei Jahren mit ihm (cid:252)bers
Land gezogen waren, auf der Suche nach Wasser und Nahrung.
(cid:155)Sie haben sich schon so an mich gew(cid:246)hnt, da(cid:223) sie meinen
Rhythmus kennen, dachte er. Aber nach kurzer (cid:220)berlegung kam
er zu dem Schlu(cid:223), da(cid:223) es auch umgekehrt sein k(cid:246)nnte: Er selber
hatte sich dem Rhythmus seiner Schafe angepa(cid:223)t!
Einige unter den Tieren brauchten etwas l(cid:228)nger zum
Aufstehen. Der J(cid:252)ngling weckte sie mit seinem Stab, indem er
jedes bei seinem Namen nannte. Immer hatte er den Eindruck,
da(cid:223) die Schafe alles verstanden, was er sagte. Darum las er
ihnen auch gelegentlich Abschnitte aus B(cid:252)chern
vor, die ihn besonders beeindruckten, oder er philosophierte
(cid:252)ber die Einsamkeit und die Freuden eines Schafhirten, oder er
kommentierte die letzten Neuigkeiten, die er im den St(cid:228)dten
erfahren hatte, durch die er zu ziehen pflegte.
Seit zwei Tagen jedoch sprach er beinahe nur noch (cid:252)ber eins:
die Tochter eines H(cid:228)ndlers, die in jener Kleinstadt lebte, welche
sie in vier Tagen erreichen w(cid:252)rden. Im vorigen Jahr war er das
erste Mal bei diesem Handelsmann gewesen, der Besitzer eines
Textilgesch(cid:228)ftes war und darauf bestand, da(cid:223) die Schafe vor
seinem Gesch(cid:228)ft geschoren w(cid:252)rden, um jeden Betrug zu
vermeiden. Ein Bekannt er hatte den Laden empfohlen, und so
brachte der Hirte seine Schafe jetzt dorthin.
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»Ich mu(cid:223) einige Wolle verkaufen«, sagte er damals zum
Kaufmann. Der Laden des Mannes war voll Kunden, so da(cid:223) der
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H(cid:228)ndler den Sch(cid:228)fer bat, sich bis zum sp(cid:228)ten Nachmittag zu
gedulden. Dieser setzte sich auf den Gehsteig vor das Gesch(cid:228)ft
und nahm ein Buch aus seinem Rucksack.
»Ich wu(cid:223)te ja gar nicht, da(cid:223) Hirten lesen k(cid:246)nnen«, bemerkte
eine weibliche Stimme an seiner Seite.
Das M(cid:228)dchen sah wie eine typische Andalusierin aus mit
langen schwarzen Haaren und Augen, die vage an die
maurischen Eroberer erinnerten.
»Weil Schafe mehr lehren k(cid:246)nnen als B(cid:252)cher«, erwiderte der
J(cid:252)ngling.
Sie unterhielten sich angeregt w(cid:228)hrend mehr als zwei
Stunden. Das M(cid:228)dchen sagte, da(cid:223) sie die Tochter des H(cid:228)ndlers
sei, und erz(cid:228)hlte vom Leben in ihrem Ort, wo ein Tag dem
anderen glich. Der Sch(cid:228)fer seinerseits berichtete (cid:252)ber die
Landschaft Andalusiens und die Neuigkeiten aus den
Ortschaften, die er besucht hatte. Er war gl(cid:252)cklich, einen
Zuh(cid:246)rer gefunden zu haben.
»Wie hast du denn lesen gelernt?« wollte das M(cid:228)dchen
wissen.
»In der Schule, wie alle anderen auch«, erwiderte der junge
Mann.
»Aber wenn du doch lesen kannst, weshalb bist du dann nur
ein einfacher Schafhirte geworden?«
Nun wurde der J(cid:252)ngling verlegen, er wich der Frage aus, weil
er (cid:252)berzeugt war, da(cid:223) sie ihn doch nicht verstehen w(cid:252)rde. Statt
dessen berichtete er weiter von seinen Reisen, und die kleinen
maurischen Augen des M(cid:228)dchens wurden vor Staunen und
Verbl(cid:252)ffung bald gro(cid:223) und bald ganz schmal. Und w(cid:228)hrend die
Zeit dahinflo(cid:223), begann er, im stillen zu hoffen, da(cid:223) dieser Tag
niemals enden m(cid:246)ge, oder da(cid:223) der Vater des M(cid:228)dchens ihn noch
weitere drei Tage warten lie(cid:223)e Er bemerkte auch, da(cid:223) er etwas
Seltsames zu f(cid:252)hlen begann, etwas, was er bisher nicht gekannt
hatte: den Wunsch, se(cid:223)haft zu werden. Mit dem M(cid:228)dchen an
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seiner Seite w(cid:252)rden die Tage gewi(cid:223) nie langweilig werden.
Doch dann erschien der Kaufmann, lie(cid:223) ihn vier Schafe
scheren gab ihm seinen Lohn und bat ihn, im kommenden Jahr
wieder vorbeizuschauen.
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Jetzt fehlten also nur noch vier Tagesreisen bis zu jener
Ortschaft Er war innerlich erregt und gleichzeitig verunsichert:
Vielleicht hatte ihn das M(cid:228)dchen l(cid:228)ngst vergessen, denn
schlie(cid:223)lich kamen viele Hirten hier vorbei, um Wolle zu
verkaufen.
»Das w(cid:228)re auch egal«, sagte der J(cid:252)ngling laut zu seinen
Schafen, »schlie(cid:223)lich kenne ich ja noch andere M(cid:228)dchen in
anderen St(cid:228)dten.«
Aber im Grunde seines Herzens wu(cid:223)te er sehr wohl, da(cid:223) es
ihm doch nicht egal war. Und da(cid:223) sowohl Hirten als auch
Matrosen oder Handlungsreisende immer irgendeinen Ort
kannten, wo es jemanden gab, bei dem sie die Freude verga(cid:223)en,
frei durch die Welt zu reisen.
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Der Tag brach an, und der Hirte trieb seine Schafe in
Richtung Sonnenaufgang.
(cid:155)Die brauchen nie selber eine Entscheidung zu f(cid:228)llen(cid:139), dachte
er.(cid:155)Vielleicht sind sie deshalb so anh(cid:228)nglich.(cid:139)
Das einzige Bed(cid:252)rfnis, das die Schafe haben, ist fressen und
trinken. Solange man sie auf die sattesten Wiesen von
Andalusien f(cid:252)hrt, so lange werden sie immer deine Freunde
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sein. Selbst wenn ein Tag dem anderen gleicht, mit eint(cid:246)nigen
Stunden, die sich zwischen Sonnenaufgang und - unterganz
dahinschleppen, selbst wenn sie in ihrem kurzen Leben nie ein
Buch lesen werden und die Sprache der Menschen nie
verstehen, die sich die Neuigkeiten aus den Ortschaften
erz(cid:228)hlen. Sie sind zufrieden mit Wasser und Nahrung, und das
gen(cid:252)gt. Als Gegenleistung bieten sie gro(cid:223)z(cid:252)gig ihre
Gesellschaft, ihre Wolle und manchmal sogar ihr Fleisch.
(cid:155)Wenn ich mich pl(cid:246)tzlich in eine Bestie verwandeln w(cid:252)rde
und eines nach dem anderen abschlachtete, so w(cid:252)rden sie es
wohl erst bemerken, wenn ihre Herde schon so gut wie
ausgerottet ist(cid:139), dachte der J(cid:252)ngling.(cid:155)Denn sie vertrauen mir
blindlings und vertrauen nicht l(cid:228)nger auf ihren eigenen Instinkt.
Nur, weil ich sie zu den gr(cid:252)nen Auen und frischem Wasser
leite.(cid:139)
Der junge Mann wunderte sich (cid:252)ber seine eigenen Gedanken.
Vielleicht war diese alte Kirche mit dem Maulbeerbaum
irgendwie verhext gewesen. Immerhin war sie daran schuld, da(cid:223)
er einen Traum zum zweiten Mal tr(cid:228)umte, und mit einemmal
Wut gegen(cid:252)ber seinen so treuen Gef(cid:228)hrten empfand. Er trank
einen Schluck Wein, der noch vom Abendbrot (cid:252)briggeblieben
war, und pre(cid:223)te seinen Mantel gegen den Leib. Es war ihm klar,
da(cid:223) es in einigen Stunden, wenn die Sonne senkrecht stand, zu
hei(cid:223) sein w(cid:252)rde, um seine Schafe (cid:252)ber die Felder zu f(cid:252)hren. Es
war die Tageszeit, wo w(cid:228)hrend des Sommers ganz Spanien
Siesta machte. Die Hitze hielt bis in die Abendstunden an, und
die ganze Zeit (cid:252)ber mu(cid:223)te er seinen Mantel mitschleppen. Aber
jedesmal, wenn er sich (cid:252)ber die Last beklagen wollte, fiel ihm
wieder ein, da(cid:223) er es diesem verdankte, wenn er morgens nicht
zu frieren brauchte.
(cid:155)Auf die Launen des Wetters m(cid:252)ssen wir immer vorbereitet
sein(cid:139), dachte er und freute sich (cid:252)ber das Gewicht des Mantels.
So hatte sein Mantel einen Sinn, wie sein Leben auch einen
hatte. Nach zwei Jahren kannte er nun schon alle St(cid:228)dte
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