Table Of ContentSammlung Metzler
Band 257
Thomas Schmitz
Das Volksstiick
]. B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung
Stuttgart
Fur Juliane
CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek
Schmitz, Thomas:
Das Volksstiick / Thomas Schmitz
- Stuttgart: Metzler, 1990
(Sammlung Metzler; Bd. 257)
ISBN 978-3-476-10257-7
NE:GT
ISSN 0058-3667
ISBN 978-3-476-10257-7
ISBN 978-3-476-03960-6 (eBook)
DOI 10.1007/978-3-476-03960-6
SM257
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© 1990 Springer-Verlag GmbH Deutschland
Urspriinglich erschienen bei J. B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung
und Carl Ernst Poeschel Verlag GmbH in Stuttgart 1990
Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. VII
I. Volkstheater und Volksstiick:
Begriff und Geschichte 1
1. Niedergang . 1
2. Der Begriff . 4
3. Definitionen 6
4. Publikum . . 9
5. Volksbiihne . 11
6. Operette .. 12
7. Kino. . . . . 14
8. Agit-Prop-Theater . 15
9. Volkstheater und Volksstiick nach dem
2. Weltkrieg. . . . . . . . . . . . . 17
N achkriegszeit . . . . . . . . . . . . 17
Die »Erneuerung« in den 60er-Jahren . 18
1. Gesellschaftliche Voraussetzungen 18
2. Publikum . . . . . . . . . 19
3. StraBentheater . . . . . . . . . . . 19
4. Kinder-und Jugendtheater .... 20
10. Anti-Volksstiick-Kritisches Volksstiick:
Volksstiick? . . . . . . . . . . . . . . . . . 21
II. Autoren des Volksstiicks 24
1. Johann Nepomuk Nestroy 24
Das Ende des Zauberstiicks 25
Volksstiick und Posse 26 .
Publikum . . . . . . . 28
Wirkung . . . . . . . . 29
2. Ludwig Anzengruber 30
Zeit . . 31
Figuren . 32
Sprache . 33
Wirkung. 33
V
3. LudwigThoma .... 35
Volkssriick und Tragodie 36
Bauernsriick . . . 36
Bauerntheater . . 37
4. Carl Zuckmayer 39
Theorie ..... 39
Yolk und Natur .. 41
5. Odon von Horvath 43
Erneuerung des Volksstiicks: Theorie 43
Inhalt . 44
Personal . 45
Sprache . 46
Intention. 46
Publikum 47
Wirkung . 48
6. Marieluise FleiBer 50
Zeitliche Einordnung 51
Theorie ...... . 52
7. Bertolt Brecht . . . 55
Volksstiick und Volkstiimlichkeit: Theorie . 56
Volksstiick und Politik . 57
Tradition ...... . 58
Brecht und Zuckmayer . 59
Exkurs: Das Thing-Spiel 60
Ideologie und Mythos . 61
Thingspiel als Volkstheater . 62
Form 63
Themen .. . 65
Wirkung .. . 65
8: Martin Sperr 69
Volkstheater als Antitheater 69
Vorbilder ... 70
Regionalisierung . . . 71
Sprache ...... . 72
9. Franz Xaver Kroetz 74
Vorbilder .... 74
SelbstauBerungen .. 76
Politik ....... . 76
Volksstiick und Yolk . 78
Sprache 79
Wirkung ...... . 80
Literatur 84
Register 87
VI
Vorwort
Der Begriff Volksstuck wird erst gebrauchlich in der Mitte des
19. Jahrhunderts. Gleichzeitig vollzieht sich an den Volksthea
tern ein Strukturwandel, der dazu fiihrt, daB das traditionelle
Publikum diese Theater nicht mehr besuchen kann.
Die Diskrepanz zwischen dem Anspruch, Volksstiicke zu'
schreiben, und der Schwierigkeit, das Yolk mit diesen Stiicken
zu erreichen, schlagt sich nieder in der immer wieder erhobenen
Forderung nach der Erneuerung des Volksstiicks und, im Zu
sammenhang damit, in der Frage, wie ein Volksstiick zu sein
habe. So konstituiert sich die Idee Volksstuck immer wieder
neu, vor allem in Abhangigkeit von den jeweils mit dem Begriff
Yolk verbundenen Vorstellungen.
Der vorliegende Band solI als Einfiihrung in die verschiede
nen Theorien von Volksstuck dienen. Dabei geht es nicht
darum, den zahlreichen Interpretationen von einzelnen Stiicken
weitere hinzuzufiigen. Vielmehr stehen die AuBerungen von
Autoren und Kritikern des Volksstiicks und die wissenschaftli
che Aufarbeitung der Volksstiicktheorien im Mittelpunkt der
Darstellung.
1m ersten Teil wird den Begriffen Volksstuc.~ und Volksthea
ter nachgegangen, sowie im historischen Uberblick unter
schiedlichen Erscheinungsformen von Volkstheater.
Der zweite Teil stellt exemplarisch einige Volksstiickautoren
mit den ihren Stiicken zugrunde liegenden Theorien, ihrem
Verhaltnis zur Volksstiick-Tradition und ihrer Wirkung auf das
Publikum vor.
Trotz des seit Mitte der 70er Jahre zunehmenden wissen
schaftlichen Interesses am Volksstiick gibt es auch heute noch
erhebliche Forschungsliicken. Das mag auch ein Grund dafiir
sein, daB es bisher keine Gesamtdarstellung des Volksstiickes
gibt. Dieser Band moge dazu dienen, das Interesse am Thema
wachzuhalten und zur weiteren Beschaftigung mit dem Volks
stiick anzuregen.
Vll
I Volkstheater und Volksstiick:
Begriff und Geschichte
1. Niedergang
Die Geschichte des Volkstheaters und des Volksstiickes ist seit
etwa 1830 immer wieder begleitet von der Feststellung seines
Verfalls. Theaterkritiker stellen zu allen Zeiten den Verfall des
Genres fest; oft iibernimmt die Wissenschaft spater die inzwi
schen historisch gewordene Kritikermeinung und tradiert so die
Idee yom Niedergang des Volksstiickes. Auch die Dramatiker
seIber konstatieren direkt oder indirekt den Verfall der Gat
tung, den sie durch Erneuerung und Verbesserung zu iiberwin
den trachten: Nur zu bekannt ist die immer wieder zitierte Fe
stellung Brechts iiber das »gewohnlich krude und anspruchs
lose« Volkstheater, das es zu verbessern galte. (»Anmerkungen
zum Volksstuck« in: Brecht: GW 7, Schriften zum Theater. S.
1162-1169).
Schon 1833 hatte Willi bald Alexis iiber das Wiener Volks
theater geschrieben: »mit jenem beweglichen, von der Lust ge
borenen, yom Moment taglich Nahrung schopfenden Volks
theater ist es aus.« (Wiener Bilder. S. 218.) Derartige Stimmen
finden sich wahrend der ganzen Schaffenszeit Nestroys. So hieB
es in den >Sonntags-Blattern< yom 12. November 1843:
» ••• daB wir nicht nur kein Volkstheater, sondern auch nicht einmal
mehr eine Lokalposse haben, und daB was sich unter diesem Titel tag
lich vor unsern Augen lang und breit macht, diesen N amen nur usurpirt
... « (zit. nach Nestroy, SW, Stucke 20, S. 167; ahnlich auBert sich auch
>Der Humorist< am 20. Nov. 1843, ebd. S. 181-191.)
und 1838 im >Osterreichischen Morgenblatt< yom 19. Marz:
»Nestroy ist allein der M~n, der das in neuester Zeit so sehr in Verfall
gekommene Feld der Lokalposse noch ein wenig aufrecht erhaIt ... «
(zit. nach Nestroy, SW, Stucke 14, S. 181.)
Auch anlaBlich groBer Erfolge Nestroys nehmen die Kritiker
Gelegenheit, den ansonsten so bedauerlichen Verfall des Volks
theaters zu beklagen (z.B.Saphir in der >Theaterzeitung< yom
30. Sept. 1834; in: Nestroy, SW, Bd 8, S.159-161; oder am 13.
Mai 1846 Raudnitz ebenfalls in der >Theaterzeitung<; ebd. S.
344-346).
1
Die vormarzlichen Niedergangsbeschreibungen versucht Erich
Joachim May als ideologisch zu interpretieren: Er setzt sich da
bei vor allem mit dem Kritiker M. G. Saphir (1795-1858) aus
einander. Aus seiner Verherrlichung des alten Volksstiickes
kommt Saphir zu der Forderung, das Volkstheater habe das
Volksleben humorvoll zu idealisieren. Dadurch werden die tat
sachlichen gesellschaftlichen Widerspriiche verschleiert. Dem
gegeniiber steht die fortschrittliche, von Saphir angegriffene
Volkstheaterproduktion. Mit Durchsetzung der politischen Sa
tire auf dem Theater hat diese die adaquate Form zur Beschrei
bung der gesellschaftlichen Widerspriiche und zur Aktivierung
des Publikums in Vorbereitung der Revolution von 1848 gefun
den. (S. 44-66 u. S. 344.)
1884 resiimiert Friedrich Schlogl in seinen Erinnerungen und
Aufzeichnungen» Yom Wiener Volkstheater«
»AUe zusammen tragen Schuld an den heutigen Zustanden der Wiener
Volksbiihne: Publicum, Directoren, Dichter, Schauspieler und Kriti
ker. Mit vereinten Kdften arbeitete man an dem Verfalle und endlichen
Niedergange derselben.«
Ganz ahnlich beschreibt dann 1952 Otto Rommel in seiner gro
Ben Monographie »Die Alt-Wiener Volkskomodie« Nestroys
Stellung in der Geschichte des Volkstheaters als Hohepunkt
und AbschluB einer Epoche. »Die Geschichte der Volkskomo
die nach N estroys Abgang ist die Ges~hichte eines Zersetzungs
prozesses« (S. 974), den auch Anzengruber nicht mehr aufhal
ten konnte. Dieses Urteil wird nachfolgend in der Literatur
iiber das Volkstheater vielfach tradiert.
Rommel benennt wie Schlogl als wesentliche U rsachen dieses
Verfalls tiefgreifende soziale Veranderungen, die den »organi
sche[n] Zusammenhang der volkstiimlichen Biihne mit dem
,volke<<< zerstorten (S. 973) und als neue, zeitgemaBe Gattung
die Operette nach sich zogen. In gleicher Weise wird die»V er
drangung« des Volksstiickes durch die Operette in der
»Deutsch-Osterreichischen Literaturgeschichte« von N agl,
Zeidler, Castle beschrieben (Bd 3; S. 312-344).
In einer Untersuchung »Zum sogenannten Niedergang des
Wiener Volkstheaters« weist Helga CroBmann darauf hin, wie
zweifelhaft und widerspriichlich diese Niedergangskonzeption
ist. Sie resultiert aus der Verherrlichung der Epoche vor Ne
stroys Tod und der gleichzeitigen emotionalen Abwehr der
nachfolgenden Zeit (S. 59). Dabei weisen Nagl, Zeidler, Castle
ebenso wie Rommel durchaus schon darauf hin, daB auch in der
2
zweiten Halfte des 19. Ja hrhunderts Volksstiicke an den Volks
theatern gespielt wurden (z.B. Nagl, Zeidler, Castle S. 335);
und CroBmann belegt das anhand eines umfangreichen Corpus
von Stiicken. Es wird auch gesehen, daB die Operette die ada
quate Form der neuen Zeit ist (so z.B. Rommel S. 975). Durch
die isolierte Betrachtung beider Perioden aber verstellen sie sich
den Blick fiir die Erkenntnis einer eigentlich auBerst produkti
ven Entwicklung des Volkstheaters, so daB CroBmann als Er
gebnis gegen die Niedergangskonzeption festhalten kann, »daB
der sogenannte Niedergang des Wiener Volkstheaters eine au
Berordentlich schopferische Periode ist, in der die Operette eine
Bliitezeit erlebt.« (S. 63.)
Einleitend zu ihrem Artikel schreibt sie (S. 48):
»Der Verdacht ist deswegen naheliegend, dafi das Wehklagen der Zeit
genossen tiber die schlimme neue Zeit auch die spateren Kritiker zu ei
ner romantischen Verklarung der Erinnerung geftihrt hat, die das Alt
Wiener Volkstheater fast zu einem Mythos erhebt.«
Es liegt in der Natur des Begriffes Niedergang, daB bei seiner
Verwendung von einer absolut gesetzten Wertvorstellung aus
gegangen werden muB, von der aus dann der Niedergang be
stimmt werden kann. Liegt den Verfallskonzeptionen eine
wertkonservative Haltung zu Grunde, so spricht aus ihnen nur
die Klage iiber den Verfall und das bevorstehende Ende. Ande
rerseits impliziert die Rede vom Niedergang auch immer mehr
oder weniger stark den Gedanken an sein Gegenteil, an Aufstieg
oder Fortschritt. In der Geschichte der Volktheateridee ist da
fiir Brecht mit seinen »Anmerkungen zum Volksstuck« gutes
Beispiel: Hier wird aus der Feststellung des Verfalls die Forde
rung nach einer Erneuerung abgeleitet.
Auch sind Verfallskonzeptionen abhangig vom zu Grunde
gelegten ZeitmaB. Wird ein relativ kurzer Zeitraum iiberblickt,
so laBt sich leicht Niedergang feststellen, wahrend im Anblick
langerer Zeitraume ein stander Wechsel von auseinander her
vorgehenden Verfalls- und Fortschrittserscheinungen erkannt
werden kann.
Zum Problem des Niedergangs vgl. Paul Widmer: Niedergangskonzep
tionen zwischen Erfahrung und Erwartung und Horst Gunther: Zeit
und BewuBtsein im historischen Denken.
Eine Geschichte des Volkstheaters miiBte nicht nur eine von
Niedergangskonzeptionen freie Beschreibung des Genres ge
ben, sondern auch den Griinden fiir die immer wieder auftre
tenden Verfallsurteile nachgehen (CroBmann S. 63).
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