Table Of ContentZENS - Europa und Nordamerika Studien 2
Jens Borchert
Lutz Golsch et. al. Hrsg.
Das sozialdem-
okratische Modell
Organisationsstrukturen und
Politikinhalte im Wandel
Jens Borchert/Lutz Goischi
Uwe Jun/Peter Lösche (Hrsg.)
Das sozialdemokratische Modell
Reihe
Europa- und N ordamerika-Studien
Herausgegeben von
Horst Kern
Ernst Kuper
Peter Lösche
Ilona Ostner
Band 2
Jens Borchert/Lutz GoIschi
Uwe JunlPeter Lösche (Hrsg.)
Das sozialdemokratische
Modell
Organisations strukturen
und Politikinhalte im Wandel
Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 1996
ISBN 978-3-8100-1450-4 ISBN 978-3-663-09555-2 (eBook)
DOI 10.1007/978-3-663-09555-2
© 1996 Springer Fachmedien Wiesbaden
Ursprünglich erschienen bei Leske + Budrich, Opladen 1996
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kroverfilmungen und die Einspeicherung und Verar
Inhaltsverzei chnis
Jens Borchert, Lutz Golsch, Uwe Jun und Peter Läsche
Einleitung: Das sozialdemokratische Modell - Krise und Perspektiven ......... 7
J. Politikmuster und Politikinhalte im Wandel
Walter Dean Burnham
Woher kommt und wohin treibt die Sozialdemokratie? ............................... 23
Jens Borchert
Alte Träume und neue Realitäten: Das Ende der Sozialdemokratie .............. 39
Wolfgang Merkel
Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Sozialdemokratie ..................... 81
Ursula Birsl, Stephen French und Carlota Sole
Gewerkschaften in Europa zwischen Tradition und Wandel. ...................... l07
Mark Kesselman
Sozialdemokratische Wirtschaftstheorie
nach dem Ende des Keynesianismus ........................................................... 135
Christoph Zäpel
Probleme und Perspektiven der Linken
im postkommunistischen Europa ................................................................. 169
6 Inhaltsverzeichnis
11. Reformen von Organisationsstrukturen
und politischen Institutionen
Eric Shaw
Von "Old Labour" zu "New Labour":
Die Transformation der britischen Sozialdemokratie .................................. 185
UweJun
Innerparteiliche Reformen im Vergleich:
Der Versuch einer Modernisierung von SPD und Labour Party ..................... 213
Peter Lösche
SPD, Demokratische Partei und Labour Party:
Konvergenzen und Differenzen ................................................................... 239
Gillian Peele
Verfassungsreform in Großbritannien?
Die Position der Labour Party ..................................................................... 259
Gianfranco Pasquino
Die Partei der Demokratischen Linken und
die Politik der "Kreativen Krise" in Italien .................................................. 277
Lutz Golsch
Wahlkampffinanzierung in den USA zwischen Reformismus
und Realität: Die Rolle der Demokratischen Partei ..................................... 299
Die Autoren des Bandes .............................................................................. 330
Einleitung: Das sozialdemokratische Modell -
Krise und Perspektiven
Jens BorchertlLutz GolschlUwe JunlPeter Lösche
Das Bild drückte die ganze Bandbreite sozialdemokratischer Erfahrungen
und Erwartungen am Ende des 20. Jahrhunderts aus. Beim Labour-Parteitag
in Brighton saßen Tony Blair und Rudolf Scharping Seite an Seite auf dem
Podium, zwei Führer großer, traditionsreicher sozialdemokratischer Parteien,
die nun schon über ein Jahrzehnt die harten Oppositionsbänke drücken. Und
dennoch ist ein größerer Gegensatz kaum vorstellbar: Blair, strahlender und
unumstrittener Hoffnungsträger, obwohl (oder gerade weil) er seiner Partei
einen deutlichen Kurswechsel verordnet hat, und Scharping, aus den eigenen
Reihen ständig angefeindeter und schließlich fallengelassener Watschenmann
einer rat- und konzeptionslos dahindümpelnden SPD. Bei den Londoner
Buchmachern schon der sichere nächste Premierminister Britanniens der ei
ne, bei den Bonner Auguren bereits lange vor seiner Abwahl ein weiterer in
der langen Reihe gescheiterter SPD-Kanzlerkandidaten der andere.
Während das Bild selbst fast schon karikaturenhaft überspitzte, über
deutliche Züge trägt, ist die Erklärung doch alles andere als klar. Blairs Er
folge und Scharpings chronische Erfolglosigkeit werden v.a. auf drei Fakto
ren zurückgeführt:
I. Blair sei von seiner Persönlichkeit her eben ein charismatischer Gewin
nertyp, Scharping der typische' loser' .
2. Der Labour Party sei es unter Blair gelungen, ihr Bild in den Medien zum
Positiven hin zu korrigieren, sich als die modernere Kraft darzustellen,
während die SPD die Prinzipien massenmedialer Vermittlung nach wie
vor nicht begriffen habe.
3. Labour habe sich programmatisch den veränderten ökonomischen und
sozialstrukturellen Rahmenbedingungen angepaßt, während die SPD bei
ihren traditionellen Positionen verharrt sei.
Die Wahl Oskar Lafontaines zum neuen SPD-Vorsitzenden kann denn auch
als Versuch verstanden werden, alle drei Defizite auf einmal zu korrigieren:
eine stärkere Persönlichkeit an die Spitze zu stellen, dadurch mehr Medien
wirksamkeit zu erzielen und sich gleichzeitig programmatisch zu erneuern.
8 Borchert, Golsch, Jun, Lösche
Alle drei Erklärungen für die Probleme der SPD sind jedoch nicht zu
friedensteIlend, da sie weder die unterschiedlichen Erfahrungen sozialdemo
kratischer Parteien in der westlichen Welt angemessen erklären noch die
Schwierigkeiten, denen sich alle diese Parteien gleichermaßen gegenüberse
hen, überhaupt zur Kenntnis nehmen. Der Verweis auf das persönliche Cha
risma wird spätestens dann fragwürdig, wenn wir uns vergegenwärtigen, daß
sich durchaus erfolgreiche sozialdemokratische Regierungschefs wie Ingvar
Carlsson (Schweden) oder Poul Nyrup Rasmussen (Dänemark) nicht unbe
dingt durch ihre sagenhafte persönliche Ausstrahlung auszeichnen. Auch
Franz Vranitzky versprüht in Wien einen eher herben Charme. Umgekehrt
hat das unbestreitbare Charisma eines Felipe Gonzalez in und an der Regie
rungsverantwortung doch sichtlich gelitten. Oskar Lafontaine hat schon in
den ersten Wochen seiner Amtszeit als SPD-Vorsitzender stark polarisierend
gewirkt, wodurch seine inhaltlichen Positionen eher überdeckt wurden
J •
Ein professionellerer Umgang mit den Medien könnte der Sozialdemo
kratie sicher nicht schaden, aber es darf doch bezweifelt werden, ob hier
Marshall McLuhans Diktum, das Medium sei die Botschaft, wirklich gilt.
Wer glaubt, Inhalte durch Darstellung ersetzen zu können, wird recht schnell
herausfinden, daß er die Möglichkeiten der medialen Manipulation in der
modemen Demokratie mit ihren vergleichsweise gebildeten und zu einer ge
sunden Skepsis gegenüber Politikerworten neigenden Bürgerinnen und Bür
gern deutlich überschätzt hat. Und die gerade von Tony Blairs Labour Party
gepflegte Unsitte, die gewünschte Berichterstattung über die Ausübung poli
tischen Drucks, etwa auf die BBC, zu erreichen, kann durchaus nach hinten
losgehen - spätestens dann, wenn dieser Druck öffentlich gemacht und als
illegitime Form der Einflußnahme gebrandmarkt wird.
Zum Thema der programmatischen Anpassung hat Rudolf Scharping mit
säuerlicher Miene, aber nicht ganz zu Unrecht, vermerkt, daß Labour hier ja
auch einen erheblichen Nachholbedarf habe. Seine Feststellung allerdings,
daß die Labour Party nur den Godesberger Parteitag der SPD von 1959
nachvollzogen habe, geht doch etwas an der Realität vorbei. Die Anpassungs
leistung der britischen Arbeiterpartei bezieht sich ganz wesentlich auf das
Jahrzehnt des Thatcherismus, also auf die Veränderungen der 80er und weni
ger auf jene der 50er Jahre. Auch andere sozialdemokratische Parteien haben
die Notwendigkeit verspürt, ihren Kurs zu korrigieren. Was als 'Moder
nisierung' oder 'Öffnung zur Mitte' deklariert wird, ist de facto eine Anpas
sung an konservative Vorgaben. Ob und in welchem Umfang eine solche
Anpassung tatsächlich erforderlich ist, ist auch bei den Autoren dieses Ban
des umstritten (vgl. die eher positiven Bewertungen bei Merkel und Zöpel
mit den eher negativen bei Borchert und Kesselman).
Einleitung 9
1. Ende einer Ära:
Die Sozialdemokratie vor neuen Herausforderungen
Die holzschnittartige Gegenüberstellung von Labour Party und SPD als Posi
tiv- und Negativbeispiel sozialdemokratischer Erneuerung verkennt die fun
damentale Herausforderung, der sich alle sozialdemokratischen Parteien Eu
ropas (und Ozeaniens) und die liberalen Parteien Nordamerikas gleicherma
ßen gegenübersehen: die Krise des sozialdemokratischen Modells. Auch das
Ausmaß der Hoffnungen, die in Tony Blair gesetzt werden, erklärt sich ja nur
aus dem steilen Absturz der einstmals stolzen Labour Party in den letzten 20
Jahren. Die größte Herausforderung betrifft den Verlust ideologischer Ge
wißheiten durch die Schwächung von traditioneller Organisationskultur und
Organisationsweise (1) ebenso wie durch die Erschöpfung jener Politikinhal
te, die in der Nachkriegszeit prägend für das sozialdemokratische Politikver
ständnis waren (2).
(1) Die Sozialdemokratie stützte sich traditionell auf eine starke Bindung ih
rer Mitglieder und Wähler an die Partei, die durch bestimmte soziale Milieus
und sozio-kulturelle Umfeldorganisationen aufrechterhalten und reproduziert
wurde. Gerade in der Zwischenkriegszeit war die Sozialdemokratie Partei,
soziale Bewegung und Lebensweise gleichermaßen, auf der Betriebsebene
und im Ortsverein konstituiert, aber in alle Sphären proletarischer Existenz
hineinreichend - eben nicht nur in die Arbeitswelt, sondern ebenso in die
Wohnviertel, die Freizeitaktivitäten und die Bildungsinstitutionen. Ein dich
tes organisatorisches Netzwerk, zusammengehalten durch eine allgemein
gültige Solidaritätsnorm, erschien der Sozialdemokratie als notwendige
Überlebensstrategie in einer feindlichen kapitalistischen Welt und als partiel
le Vorwegnahme jener utopischen sozialistischen Gesellschaft, die insgesamt
angestrebt wurde.
Diese sozialdemokratischen 'Biotope' waren schon seit Jahrzehnten ei
nem stetigen Erosionsprozeß unterworfen. Dennoch konnten gewisse Kon
stanten bis in die siebziger Jahre hinein als gesichert gelten. Dazu gehörte die
enge gegenseitige Bindung an die Gewerkschaftsbewegung genauso wie die
Tatsache, daß alle großen sozialdemokratischen Parteien sich auf eine Mehr
heit der Arbeiter und kleinen Angestellten stützen konnten. Dazu gehörte
auch die kommunalpolitische Dominanz der Sozialdemokraten in den mei
sten Großstädten und die Bereitschaft der Parteibasis, vor Ort auf ehrenamtli
cher Basis Präsenz zu zeigen. Wenn innerparteiliche Richtungskämpfe an der
Spitze auch aus der Geschichte der Sozialdemokratie nicht wegzudenken